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coverbild 110 Jahre
Im Juni 1897 erschien die Nummer 1 von
Theodor Herzls "Die Welt",
später wurde daraus
die "Die Neue Welt" und dann
die "Illustrierte Neue Welt"
– 110 Jahre! Ein Grund zum Feiern.

Ausgabe Juni / Juli 2007

Jubiläumsausgabe 110 Jahre Neue Welt

 

Aus dem Inhalt der aktuellen Ausgabe


Kommentar von Moshe Yaalon

Zeit für einen Kurwechsel

Es kommt nicht von ungefähr, dass Michael Orens Buch „Six Days of War“ mit dem Terroranschlag ansetzt, den die Fatah in der Nacht des 31. Dezember 1964 unter der Anweisung von Yassir Arafat verpfuscht hat. Ziel des Anschlags war es gewesen, die nationale Wasserversorgung zu unterbrechen und die Region in Brand zu setzen. Sein Scheitern hinderte die Fatah nicht daran, eine offizielle Siegeserklärung zu veröffentlichen, die die „Pflicht zum Heiligen Krieg (Jihad)“ beschwor und den 1. Januar 1965 als offizielles Gründungsdatum der Terrororganisation festsetzte.

Der Sechs-Tage-Krieg hat wahrlich das Gesicht des Nahen Ostens verändert. Aus historischer Perspektive kann er als Anfang vom Ende der nationalistisch-säkularen Ideologie der Araber betrachtet werden, wodurch im Endeffekt die Entstehung der islamistisch-gotteskriegerischen Ideologien begünstigt wurde; ebenso kann man in ihm den Anfang vom (vorübergehenden?) Ende der konventionellen Kriege zwischen Armeen und der Verlagerung der Bedrohung des Staates Israel sehen. Vor allem aber hat er die Art und Weise beeinflusst, in der die Israelis sich selbst wahrnehmen; er hat den internen Diskurs über die Grenzfragen und den israelisch-palästinensischen Konflikt geprägt.

Auf der einen Seite verwandelte sich das israelische Selbstbewusstsein, das natürlicherweise durch den glänzenden militärischen Sieg gestärkt wurde, bis zum Ausgang des Yom-Kippur-Krieges zu einer gewissen Selbstgefälligkeit. Auf der anderen Seite führte dies zu der Bereitschaft für territoriale Zugeständnisse für den Frieden. Die Eckpfeiler der israelischen Politik seit Ende des Krieges haben weder Annexion von Gebieten, noch die Rückkehr zu den Grenzen von 1967 verfochten. Diese Sichtweise hat – gemeinsam mit Fehlern in der politischen Führung – letzten Endes zu einer erheblichen Erosion der Errungenschaften des Sechs-Tage-Krieges geführt und die israelische Position beeinträchtigt. Gleichzeitig hat sie die zionistische Narrative und ihre Leistungen nachteilig beeinflusst.

Diejenigen Israelis, die ein Endstatus-Abkommen mit den Palästinenser durch „Land für Frieden“ zu erreichen versucht haben, haben den Unterschied verwischt, der zwischen der Lösung des Konflikts mit Ägypten durch den israelischen Rückzug vom Sinai und dem palästinensisch-israelischen Konflikt besteht. Dies trifft da noch mehr zu, wo der palästinensische Anspruch auf das gesamte Land Israel, anstatt lediglich auf die 1967 eroberten Gebiete, trübt und die beharrliche palästinensische Weigerung hinsichtlich einer Teilung der Nation ignoriert wurden, wie sie seit der Geburt des Zionismus gang und gäbe ist. Dadurch wurde insofern zur Erosion von Israels Positionen beigetragen, als das Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung anerkannt wurde, ohne auf der gegenseitigen palästinensischen Anerkennung des jüdischen Volkes und eines unabhängigen jüdischen Staates zu bestehen.

Das Selbstgefühl im Gefolge des Sechs-Tage-Krieges hat ein Gefühl des „Stark-Genug-Für-Risiken-Seins“ geschaffen, wie es gerade zur Zeit der Osloer Abkommen verbreitet war. Diese Selbstsicherheit führte zum Niedergang jener Einstellung, die mit einer Gesellschaft assoziiert wird, die sich in einem ständigen Kampf befindet. Das ehrliche Verlangen nach Frieden wurde als Schwäche ausgelegt und führte zu einer allgemeinen Bereitwilligkeit, die „golden Kälber“ zu akzeptieren, die von Politikern, Schönrednern und den Medien präsentiert, dann aber schnell geschlachtet wurden. Diejenigen, die zu den Grenzen von 1967 zurückzukehren trachten, sei es in Israel oder im Ausland, machen sich den Triumph des Sechs-Tage-Krieges zunutze für ihre Argumentation, nach der das Problem in der „Besatzung“ liegt und der Verzicht Israels auf diese Gebiete den ersehnten Frieden bringt.

Der gescheiterte Anschlag vom 31. Dezember 1964 erinnert uns jedoch daran, dass der palästinensische Terror der Übernahme von Judäa, Samaria und Gaza vorausging. Seitdem häufen sich die zusätzlichen Beweise dafür, dass die palästinensische Führung ein Ende des Konflikts auf Basis einer solchen Lösung verweigert. Mehr als das – jüngste Äußerungen von Führern der israelisch-arabischen Gemeinschaft bringen deren Weigerung zum Ausdruck, das Existenzrecht des Staates Israel als unabhängiger jüdischer Staat anzuerkennen.

Die Ereignisse der vergangenen Jahre – das Versagen der Palästinenser bei der Einhaltung der Vereinbarungen und Verpflichtungen des Osloer Rahmenwerks, die Lancierung eines Terrorkrieges im September 2000 und die Situation in Gaza im Gefolge der Abkoppelung – hätten als Gelegenheit dazu dienen können, das „wahre Gesicht“ der palästinensischen Führung zu enthüllen und deren Absicht, das irrelevante Konzept der „Zwei-Staaten-Lösung“ innerhalb des historischen Landes Israel zu unterminieren. Dem Diskurs der „Zwei-Staaten-Lösung“ innerhalb der israelischen Öffentlichkeit und der internationalen Arena einen Halt zu geben, ist die Voraussetzung für eine neue Denkbewegung in Bezug auf den Konflikt und mögliche Wege, ihn zu lösen. Dafür bedarf es des klaren Verständnisses des Problems in Israel, der Schaffung einer internen Übereinstimmung in Bezug auf dieses Verständnis und der Bereitschaft dafür zu kämpfen.

Der glänzende Sieg im Sechs-Tage-Krieg hat sich paradoxerweise zum Ausgangpunkt einer „Rückzugsschlacht“ verwandelt, die wir heute um die zionistische Narrative führen – bis wir eine Kehrtwende machen.

Moshe Yaalon war von 2002 bis 2005 Generalstabschef der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte.

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"Die Gefahr besteht, dass ich ein Hofjude werde"

Nobelpreisträger Eric Kandel im Gespräch mit Anita Pollak

Eric Kandel

Herr Bürgermeister Kandel. So begrüßte Gastgeber Hubert Christian Ehalt,  Organisator der „Wiener Vorlesungen“, den amerikanischen Nobelpreisträger für Medizin nicht ohne Grund. An zwei aufeinander folgenden Abenden Ende Mai füllte der kleine jüdische Bub vom Kutschkermarkt, wie er sich selbst gern bezeichnet, den Großen Festsaal des Wiener Rathauses. Am zweiten Abend wurde bereits zu Veranstaltungsbeginn niemand mehr hineingelassen, der riesige Saal war überfüllt. Obwohl auch der Quantenphysiker Anton Zeilinger und die deutsche Professorin für Philosophie Cornelia Klinger zu ergänzenden Referaten mit eingeladen waren, war der Abend eigentlich eine One-Man-Show des großen kleinen Mannes, der als Zehnjähriger Wien nicht freiwillig verließ und in Amerika eine wissenschaftliche Weltkarriere machte, die 2000 mit dem Nobelpreis gekrönt wurde.

Seine ersten Jahre in Wien, wo der Vater ein kleines Spielwarengeschäft am Kutschkermarkt hatte, waren dennoch prägend für ihn. Die Initialzündung seiner Forschungen war die Frage, wie Menschen, die sich für Beethoven und Mozart begeistern konnten, zu solcher Brutalität und Grausamkeit fähig waren, wie sie der kleine Erich (das H verlor er erst in Amerika) in Wien nur ansatzweise erleben musste. Seine frühe Emigration im Jahr 1939, gemeinsam mit seinem Bruder Ludwig zu den Großeltern in Amerika (die Eltern konnten nachkommen), ersparte ihm das Ärgste.

 Immer wieder kam Kandel in seinem Vortrag über „Biologie und Kultur der Erinnerung. Aktuelle Forschungen über Natur und Kultur des Gedächtnisses“ auf Persönliches, Selbsterlebtes und Erfahrenes, zu sprechen. Nicht zuletzt das macht seine auf höchstem wissenschaftlichen Niveau angesiedelten Referate auch für Laien überaus interessant und verständlich.  So erwähnte er  nebenbei auch, dass er in Amerika anfänglich eine Jeschiwa besuchte und  Geschichte und Literatur in Harvard studierte, bevor er über die Psychiatrie zur Hirnforschung kam.

 Nachzulesen ist das im Detail auch in  Kandels autobiografischem Band „Auf der Suche nach dem Gedächtnis“ (Siedler-Verlag), der  sich im Vorjahr  im deutschsprachigen Raum wochenlang auf den Spitzenplätzen der Sachbuch-Bestsellerlisten hielt. Seither ist der Neurobiologe auch ein internationaler „Pop-Star“ der Wissenschaft, Gast in Talkshows,  viel reisender Vortragender und „Ezzesgeber“ für allerlei  Forschungsprobleme und Fragen. Unter anderem ist Kandel auch im Komitee der geplanten Elite-Uni im niederösterreichischen Gugging, an dessen Spitze der israelische Star-Wissenschaftler Haim Hariri vom Weizmann-Institut steht.

Kandel selbst nannte sich  kürzlich einen Don Giovanni der Wissenschaft und meinte damit wohl seine Liebe zur Forschung, sein ungebrochenes Begehren, neue Wege zu beschreiten und den Dingen auf den Grund zu gehen.

Eines der Dinge, die er sich trotz allem nicht erklären kann, ist seine Sehnsucht nach Wien, wie er im englischen Interview auf Deutsch sagt. Deutsch spricht er sich erinnernd, suchend, kindlicher und naiver als das amerikanische Englisch, in dem er eloquentest zu Hause ist.

Diese emotionelle Sehnsucht habe die Verachtung abgelöst, die er früher für das Land hatte, das ihn und seine Eltern entrechtete und vertrieb. Diese Verachtung war auch noch vorhanden, als man  ihn als Nobelpreisträger gleichsam wieder  für Österreich reklamieren wollte.

 Diese Gratulationen aus Österreich wies ich zurück, denn das ist kein österreichischer, sondern ein amerikanisch-jüdischer Nobelpreis, sagte Kandel sehr bestimmend im Gespräch. Aber es gelang anfänglich  Klestil und später Heinz Fischer doch,  den großen Sohn mit seiner Geburtstadt zu versöhnen. Fischer lud ihn und seine Frau Denise zu einem privaten Abendessen ein und das gefiel mir schon sehr gut, dass der kleine jüdische Bub vom Kutschkermarkt mit dem Präsidenten essen geht, lächelt Kandel verschmitzt. Fischer ermunterte ihn wieder zu kommen und seither wird er überhaupt immer wieder eingeladen, konsultiert und hofiert. Apropos hofiert: Die Gefahr besteht, dass ich ein Hofjude werde, erkennt er klarsichtig. Trotzdem will er sein neues Renommee in der alten Heimat dazu nützen, noch einige radikale, teilweise verrückte Ideen umzusetzen.

So ist es Kandels Vision wieder junge Juden nach Wien zu bringen und  ein kulturelles Zusammenleben wie vor dem Krieg zu ermöglichen. Ich glaube, da machen wir Fortschritte, meint er und spielt damit auf seine diesbezüglich gut vernetzte Lobby-Tätigkeit in Wien an. So sollen in der geplanten Elite-Uni Posten für jüdische Wissenschaftler fix eingeplant werden.

 Außerdem hab ich noch eine verrücktere Idee. Ich möchte, dass der Karl-Lueger-Ring umbenannt wird. Es stört mich gewaltig, dass die Wiener Universität  an einer Adresse angesiedelt ist, die nach dem antisemitischen Bürgermeister benannt ist.

Und natürlich hat  Kandel bereits Namensvorschläge. Zum Beispiel Häupl-Ring. Er wird sicher nicht nach Freud benannt werden, aber vielleicht nach jemandem, der kein Jude war, aber viel geleistet hat. Aber man kann eine Menge Zeit mit unsinnigen Dingen vergeuden und ich erkenne, dass diese Idee nahe dran ist.

Buchcover 

Im Moment hat er genug vom „Rock-Star-Dasein“ und möchte zurück zu seiner Leidenschaft, der Forschung. Denn hauptberuflich ist der 78-jährige Professor an der Columbia-University mit einem hoch motivierten Team junger Wissenschaftler aus der ganzen Welt  dabei, die Geheimnisse von Lernen und Gedächtnis zu ergründen. Das freilich nicht nur platonisch, zur höheren wissenschaftlichen Ehre, sondern auch mit hoffentlich ganz praktischen Konsequenzen für uns alle.  Seine eigene von ihm gegründete Biotech-Firma „Memory Pharmaceuticals“ arbeitet seit einigen Jahren an der Entwicklung einer kleinen roten Pille gegen altersbedingten Gedächtnisverlust.

 Möge die Übung gelingen!

Buchtipp: Eric Kandel: Auf der Suche nach dem Gedächtnis. Die Entstehung einer neuen Wissenschaft des Geistes. Übersetzt von Hainer Kober. Siedler, 2006. € 25,70 (Die Paperbackausgabe erscheint im Oktober 2007, Pantheon, € 15,40).

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Die Christ Church Connection

Der geheime Fluchtweg konvertierter Wiener Juden über die anglikanische Kirche

Die Vorgeschichte der Christ Church Connection ist die einer unglücklichen Liebe zwischen den Zionisten und  Großbritannien. Politisch scheiterte diese Beziehung, sobald sie in den Sumpf der großen Politik geriet. Zuvor waren liberale englische Christen die ersten „bekennenden“ Zionisten – lange vor den Choveve Zion in Osteuropa und anderen Vorläufern Theodor Herzls. Doch die  sentimentale Beziehung blieb am Leben. Man musste nur, wie der Autor, mit Israels erstem Präsidenten in Rehovoth über sein Verhältnis zu London, reden. Das war, nachdem ihn David Ben Gurion politisch entmachtet und auf den relativ unbedeutenden Posten des Staatschefs „abgeschoben“ hatte.

Verantwortlich dafür war die Haltung der britischen Regierung gegen Ende der dreißiger Jahre.  Wie aber verhielt sich die geistliche Führung der Anglikanischen Kirche nach dem Aufstieg Adolf Hitlers? Mit einem Wort: zwiespältig. Die Anglikanische Kirche (Church of England, jenseits des Atlantik Episcopalian Church genannt) genoss unter den „westlichen“ Konfessionen einen Sonderstatus als staatliche Kirche, was sie gleichzeitig stärkte und schwächte. Einige anglikanische Bischöfe waren ex officio Mitglieder des Londoner Oberhauses, das ihnen ein offizielles  Sprachrohr gab, so sie eines benötigten. Andererseit mussten die Interessen  des Staates berücksichtigt werden.

   Das Interesse der Church of  England an den Juden ging bis ins 19. Jahrhundert zurück und hatte (wie die „Church Mission to the Jews“) in erster Linie die Bekehrung von Juden auf ihre Fahne geschrieben. So etwas war der erste anglikanischen Bischof von Jerusalem, Michael Solomon Alexander, ein konvertierter Jude. Kritisch wurde die Haltung der anglikanischen Kirche erst mit der Machtergreifung Hitlers. So stand der Bischof von Gloucester, Arthur Headlam, eindeutig hinter der „Appeasement“-Politik der Regierung und die Sympathie für Deutschland reichte letzlich bis zu einigen Mitgliedern des Königshauses. Andererseits waren der Bischof von Chichester, George Bell, ein Freund des deutschen Hitler-Gegners Dietrich Bonhöffer, und Basil Staunton Batty, der Bischof von Fulham, und als solcher verantwortlich für die Christ Church, die Anglikanische Kirche in Wien. Batty hatte dem Erzbischof von Canterbury schon 1933 erklärt, dass er den Nazis ihre Behandlung der Juden vorwerfen werde und die deutschen Protestanten zum Protest zwingen werde.

Christchurch in Wien

Die Abkehr englischer Prälaten von Deutschland begann mit dem Anschluss Österreichs 1938 und dem Ansteigen der Judenverfolgung. Im Gegensatz zu Premierminister Neville Chamberlain konnten Kirchenführer nicht umhin, Stellung zu nehmen, doch die ersten Aktionen der Kirche beschränkten sich auf Spendenaufrufe und Appelle an Whitehall. Auf Chamberlains Politik hatte dies kaum Einfluss. Im Gegenteil: Noch im März 1938, ausgelöst von der Angst, dass Grossbritannien von Flüchtlingen aus dem Dritten Reich überschwemmt werden könnte, führte das Innenministerium eine strenge Visumpflicht für alle deutschen Staatsbürger ein, wovon deutsche und österreichische Juden am härtesten betroffen waren.

In Reden im House of Commons wiesen Chamberlain und Innenminister Sir Samuel Hoare hin, dass die Regierung „mit Sympathie“ Visaansuchen prüfen werde. Für eine Milderung des Gesetzes gebe es jedoch „keinen Anlass“. Und im House of Lords bezeichnete der Erzbischof von Canterbury, Cosmo Lang, wie so viele Zeitgenossen, den Anschluss als eine „unvermeidliche Entwicklung“. Gerade diese „blauäugigen“ Aussagen erregten  scharfe Kritik in Kirchenkreisen. Auch der Erzbischof von Canterbury protestierte nun gemeinsam mit seinem katholischen Kollegen, Cardinal Hinsley, dem Erzbischof von Westminister. Die Regierung antwortete nichtssagend, ebenso wie auf einen Appell führender Rabbiner. Es sei denn, man konnte die Ansetzung eines Gebetstages für die Verfolgung als wesentlichen Schritt bezeichnen.

Hinter den Kulissen gab es indes eine wirksame administrative Maßnahme. Im September 1938 wurde die seit 1937 bestehende „Hilfsorganisation für Nichtarische Christen“ (von Bischof Bell gegründet) mit einer Dachorganisation aller christlichen  Kirchen (außer der Katholischen) zusammengefasst.  Am Sonntag, dem 2. Oktober, wurde in englischen Kirchen Gott „für das Abkommen von München“ gedankt.

Was aber geschah inzwischen in der Anglikanischen Kirche in Wien? Das Gotteshaus besaß seit langer Zeit diplomatische Immunität. Der  Geistliche der 1877 erbauten Kirche hatte offiziell den Status als „persönlicher Kaplan“ des britischen Botschafters.  An dieser Situation hat sich bis heute nichts geändert und der jeweilige Priester wird in der Liste der akkreditierten Diplomaten geführt. Dieser Status erwies sich als entscheidend in den Wochen und Monaten nach dem Anschluss, bis zur Kriegserklärung zwischen Großbritannien und dem Dritten Reich am 3. September l939.

Verschiedene christliche Organisationen hatten in jenen Tagen ihre eigenen Anstrengungen zugunsten der verfolgten Juden unternommen. Auch die katholische Kirche hatte im Erzbischöflichen Palais eine Hilfsstelle für Nichtarische Katholiken etabliert. Alle operierten in der Grauzone und wurden von der  Gestapo observiert. Was  aber geschah in der Christ Church, in der heutigen Jauresgasse. Eine Reihe britischer Forscher, insbesonders Giles MacDonogh, Prof. Munro Price und Christopher Wentworth-Stanley, versuchen bereits seit Jahren den Schleier zu lüften. Leider blieb ihnen ein endgültiger Durchbruch versagt, nicht zuletzt weil die relevanten Dokumente des Londoner Foreign Office auch nach fast 70 Jahren noch immer unter Verschluss verstauben und auch die Akten der Christ Church nicht vollständig vorliegen. Somit geht es den Rechercheuren darum, die Fakten soweit wie möglich zu rekonstruieren. Somit appellieren  die Forscher an zeitgenössische Zeugen, die selbst oder durch Verwandte, Kenntnis von den Ereignissen haben, sich beim Verleger der „Illustrierten Neuen Welt“ zu melden.

Was kann jedoch aus den vorliegenden Fakten geschlossen werden? Der amtierende Geistliche an der Christ Church war seit 1934 Reverend Hugh Grimes. Er entsprach nicht dem herkömmlichen Bild eines Priesters der „High Church“, also der dominierenden Gruppe der Anglikanischen Kirche (im Gegensatz zu den sogenannten „Free Churches“). 1904 zum Priester geweiht, war er zuerst Mathematiklehrer in Australien und war seit den zwanziger Jahren Fellow der Royal Geographical und Royal Historical Societies. 1926 ging er in den kirchlichen Außendienst und hatte sich eingehend mit den Problemen der jüdischen Gemeinden befasst. Dank seiner Zivilcourage war er in den kritischen Tagen ab 1938 genau der richtige Mann, der  in Wien gebraucht wurde. Der eigenwillige Geistliche dachte nicht daran, sich durch bürokratische Formalitäten von seiner offensichtlich selbst gewählten Aufgabe abbringen zu lassen. Alles deutet darauf hin, dass er mehr oder weniger spontan beschloss, mit seinen eigenen vorhandenen Mitteln den Verfolgten zu helfen. Möglicherweise hatte er dabei die Rückendeckung des bereits erwähnten Bischofs Batty. Und zu diesen Mitteln zählte die Konversion. Nicht, dass er aus missionarischen Beweggründen um Konvertiten geworben hätte. Diese kamen 1938 schon von selbst, nachdem sich herumgesprochen hatte, ein anglikanischer Taufschein könnte bei der Erlangung eines britischen Visums  helfen. Das britische Forscherteam versichert, dass es keinen dokumentierten Beleg gebe, der auf ein Junktim zwischen Konversion  und Erteilung eines Visum schließen lasse. Die Indizien dafür sind jedoch schwerwiegend.

Reverend Grimes schritt indes sofort zur Tat. In einem Brief an seinen Botschafter in Berlin, Sir Neville Henderson, schrieb der neue Generalkonsul in Wien, St. Clair Gainer, dass Grimes schon ab 13. März etliche Juden getauft hätte. Wobei es sich anscheinend nicht um eine organisierte Aktion handelte, von der nur etwa eine Dutzend Personen betroffen waren. Möglicherweise könnte es sich um ein „Backlog“ von früheren Applikanten handeln.

Mit der Verkündung der Nürnberger Gesetze stieg die Anzahl der Taufwilligen sprunghaft an.  Am 23. Juli wurde die Kennkarte für Juden eingeführt. Am nächsten Tag kamen 131 Juden zur Taufe, am folgenden Tag 229. Bis dahin hatte Grimes insgesamt etwa 900 Wiener Juden getauft. Von der Arbeit war Grimes so erschöpft, dass seine Vorgesetzten  in London beschlossen, ihn zur Erholung nach England zurückzurufen, und ihn gleichzeitig hochnotpeinlich über seine Motive auszufragen. Schon Ende Juli kam ein zweiter Anglikanischer Priester nach Wien um Grimes’ Arbeit zu übernehmen. Frederick Collard war 1938 schon 69 Jahre alt. Er war früher Militärsanitäter (im Burenkrieg für Tapferkeit dekoriert) und nach dem 1. Weltkrieg war er als Major mit der britischen Besatzungsarmee in Köln stationiert, wo er auch nach Ende der Besatzungszeit weiter lebte. Durch seine Verdienste um die dortige Anglikanische Gemeinde lernte er Bischof Batty kennen, der ihn 1936 im Alter von 66 Jahren zum Priester weihte. Es war sicherlich Batty, der ihm zutraute, mit der heiklen Situation – nicht zuletzt dank seiner Deutschkenntnisse –  fertig zu werden. Collard setzte Grimes’ Mission ohne Unterbrechung fort. Von ihm erhielten bis  September 1938  870 Kandidaten das Sakrament der Taufe. Mit dem Anwachsen der Kriegsgefahr glaubte die Gestapo den Aktivitäten in der Christ Church Einheit gebieten zu müssen –  obwohl diese Tätigkeit der ursprünglichen Absicht der Behörden, so viele Juden wie möglich zur Auswanderung zu zwingen, nachdem man sie völlig ausgeplündert hatte, nicht zuwiderlief.

Die Sanktionen richteten sich indes nicht direkt gegen die englische Kirche, sondern gegen das Passamt der britischen Botschaft, das damals in einem anderen Gebäude in der Wallnerstraße untergebracht war. Dort wurden auch die Visa, um die es geht, ausgestellt. Auf Grund einer seltsamen Konstruktion war das Passamt nicht dem Foreign Office, sondern dem War Office unterstellt. Und dieses hatte – aus welchen Gründen auch immer – es unterlassen, für das Personal diplomatische Immunität zu verlangen. Überdies war der Chef des Amtes, Captain Thomas Kendrick, nicht nur für die Ausgabe von Visa zuständig, sondern amtierte gleichzeitig als europäischer Leiter des Auslandsgeheimdienstes MI6. In erster Linie kontrollierte er britische Spionageaktivitäten in ganz Europa, er saß auch in einem Regierungskomitee, das die Auswanderung nach Palästina überwachte; mit anderen Worten, zu beschränken suchte. Demgegenüber hatte Adolf Eichmann, als Leiter der Zentralstelle für Jüdische Auswanderung in der Prinz Eugen Straße, bislang versucht, Emigration nach Palästina zu ermutigen.

Unter diesen Umständen beschloss man in Berlin, in einem Aufwaschen gegen das Passamt und  die Taufaktion vorzugehen. Allerdings zögerte die Gestapo noch immer, direkt gegen Captain Kendrick vorzugehen. Stattdessen suchte man ein „Weiches Ziel“, um außenpolitische Komplikationen zu vermeiden. Und dieses fand man in der Person des Mesners der Kirche, Siegfried Richter, der zum Sündenbock abgestempelt wurde. Richter war ein konvertierter Wiener Jude, der nach einem längeren Aufenthalt in England die britische Staatsbürgerschaft erhalten, aber wegen seines Dienstes in der k.u.k.Armee während des ersten Weltkrieges wieder verloren hatte. Sie wurde ihm jedoch nach einiger Zeit wieder zuerkannt. Ab 1924 diente er als Mesner in Christ Church und wurde auch für Botendienste zwischen der Botschaft in der Jauresgasse und dem Passamt in der Wallnerstraße eingesetzt. Unmittelbar nach dem Anschluß wurde er „Ordner im Vorzimmer des Passreferenten“ – einen einflussreichen Posten, wo er entscheiden  konnte, wen ins Amt selbst einzulassen und wen nicht.

Nun zögerte die Gestapo nicht mehr, Richter als Kendricks Adlatus festzunehmen. In seiner Wohnung fanden die Häscher eine größere Summe von Bargeld und dies genügte, um gegen ihn Anklage vor Gericht zu erheben. Richter wurde im Hotel Metropol verhört und gab zu, dass er potentielle Spione in der Sakristei der Christ Church getroffen hatte und verriet die Art seiner Tätigkeit für Kendrick. Das war für die Gestapo Grund genug, am 16. Oktober eine Razzia in der vis-à-vis der Kirche gelegenen Wohnung von Grimes durchzuführen. Da die Kirche wegen Malerarbeiten vorübergehend geschlossen war, führte Collard die Taufen in Grimes Wohnung durch. Bei der Razzia traf die Gestapo auf Collard, der gerade 32 Juden taufte. Die Juden wurden registriert, die Taufregister beschlagnahmt und Collard verhaftet. Im Hotel Metropol beschuldigten sie Collard, gefälschte und rückdatierte Taufscheine ausgestellt zu haben. Nach längerem Verhör akzeptierten sie seine Erklärung, er habe sie nicht mehr durchlesen können, bevor er sie unterschrieb und schickten ihn mit den Taufregistern nach Hause. (Es stimmt aber, dass er doch Taufscheine rückdatiert hatte, da der eine oder andere in den Recherchen aufgetaucht ist.)

Am nächsten Tag verhafteten sie Kendrick. In dem dadurch ausgelösten politischen Sturm entschloss London, dass Richter geopfert werden sollte um Kendrick, der ein viel zu wichtiger Informationsträger war, nach Hause zu holen, bevor er zuviel reden konnte. Um ihr eigenes Gewissen zu beruhigen, argumentierten Politiker und Diplomaten, dass Richter ohnehin kein wirklicher Engländer gewesen sei. Am 20. August wurde Kendrick offiziell mangels Beweisen entlassen.

Die Anklage gegen Richter wurde in Beihilfe zur Spionage abgeändert. Im September 1939 wurde er vom Volksgerichtshof zu 12 Jahren Zuchthaus verurteilt. 1940 erkannten die Engländer, dass er eigentlich viel wichtiger war als ursprünglich angenommen und versuchten ihn gegen fünfzehn deutsche Spione auszutauschen. Die Deutschen lehnten dieses Angebot ab.

Die Freiheit sah Richter nie wieder. Er war nach allen Angaben eine schillernde Persönlichkeit. Viel deutet daraufhin, dass er in der Visaangelegenheit als Verbindungsmann zwischen den Kandidaten und Grimes diente. Aus ähnlich  gelagerten Fällen wissen wir,  daß der Vermittler dafür zumeist  Geld  – in Wien „Schmattes“ genannt – von den Bittstellern erhielt.

Richter wurde im Verlauf seiner Haft in andere Gefängnisse überstellt und starb schließlich in Auschwitz an „Herzversagen“. Somit war er das einzige namentlich bekannte Opfer der „Christ Church Connection“. Objektiv betrachtet war die Operation indes ein beträchtlicher Erfolg. Insgesamt wurden 1800 Personen getauft.  Wobei sich der „englische Taufschein“ auch bei der Erlangung von Transitvisa in nicht gerade judenfreundliche Staaten als nützlich erwies, sowie bei der Aufnahme einer Quote bei den Kindertransporten. Laut Statistiken des Dokumentationsarchives des Österreichischen Widerstandes haben ungefähr 100 der Getauften die Nazijahre nicht überlebt. Einige hatten Österreich gar nicht verlassen, wohingegen andere später in der Tschechoslowakei, Holland, Frankreich oder Italien verhaftet wurden.

Nachwort: Bischof Batty kam Oktober 1938 nach Wien, um selbst den Ereignissen der vergangenen Monate auf den Grund zu gehen. Im Dezember schrieb er dem Erzbischof von Canterbury, dass er Grimes schon Monate vorher angewiesen hatte, jeden Fall, in dem ein Jude, mit der Bitte getauft zu werden, an ihn herantrete, besonders sorgsam zu prüfen habe. Er schrieb aber, „Seine intensive Sympathie für diese armen Leute in deren furchtbarer Not, ließ ihn eher an deren Aufrichtigkeit glauben als dies ein Außenstehender getan hätte.“ Er schrieb weiter: „Reverend Grimes ist ein Gelehrter und ein Gentleman, in den ich volles Vertrauen habe.“ Er behauptete, jene Gerüchte, dass Taufen ohne Vorbereitung und für rein politische Zwecke stattgefunden haben, „absolut unwahr“ seien. Lucian O. Meysels

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Die Sprachspielerin

Elfriede Gerstl zum 75.!

Glückwunsch zum Geburtstag und gleich auch zum Heimrad-Bäcker-Preis, der Elfriede Gerstl ein paar Tage später in Linz verliehen wurde. Und noch etwas gilt es zu feiern: die erweiterte Neuauflage des Buches „Kleiderflug“.

E. Gerstl

Viel zu feiern für die Jubilarin gab es lange nicht: Als Jüdin 1932 in Wien geboren, verbrachte sie ihre Kindheit mit ihrer Mutter als U-Boot in diversen Verstecken. Als Elfriede Gerstl 1945 die Schule besuchen durfte, musste sie die Kommunikation neu erlernen. Nach der Externistenmatura studierte sie einige Semester Medizin und Psychologie. 1960 heiratete die Autorin den Schriftstellerkollegen Gerald Bisinger – eine Ehe, die acht Jahre später wieder geschieden wurde.

Lange Zeit wurde sie als Literatin in Österreich ignoriert, was sie aber nie davon  abhielt, stetig weiterzumachen, Worte und Zeilen in ihr Hermes Baby zu tippen. Den Rat eines Beamten zu malen, denn erst dann hätte sie Anspruch auf einen eigenen Arbeitsraum, ignorierte sie und hielt am Schreiben fest – der Beamte meinte damals, SchriftstellerInnen könnten ja überall arbeiten, im Sommer im Park und im Winter im Kaffeehaus.

Heute lebt die Wortspielerin in Wien, genauer in der Wiener Innenstadt. Dort ist sie auch anzutreffen. In Cafés, bei Lesungen, Ausstellungseröffnungen und auf ein Achterl – oftmals auch auf ein Sechzehnterl für die Stammgästin Elfriede Gerstl – in Restaurants. Sie ist leicht zu erkennen: klein, zierlich, rotes Haar und meistens einen Hut am Kopf. Und das ist auch ihre Leidenschaft: Hüte, Taschen, Schuhe, Blusen, Kleider, Röcke, Hosen – wofür sie auch eine eigene Wohnung gemietet hat.

Nicht nur zur Wiener Gruppe, sondern zu allen relevanten literarischen Szenen hatte Gerstl ab den 50er Jahren Zugang. Erste Gedichte publizierte sie damals in Zeitschriften wie „Neue Wege“ oder „Protokolle“. Inzwischen hat Elfriede Gerstl Gedichte, Prosastücke, Hörspiele und Essays in über einem Dutzend Bücher, wie „Spielräume“, „Vor der Ankunft“, „Wiener Mischung“, „Unter einem Hut“ oder „Mein papierener Garten“, und in zahlreichen Zeitschriften veröffentlicht.

Die Autorin setzt sich in ihren Texten mit feministischen Themen, erkenntnistheoretischen Problemen und philosophischen Diskursen – ironisch –  auseinander. Elfriede Gerstls Schreiben ist autobiographisch, sie drückt selbst Erlebtes, Erfahrenes bzw. Alltägliches, sie Umgebendes aus. Sie blickt ironisch und kritisch auf die Gesellschaft und fasst ihre Eindrücke prägnant zusammen. Reduktion auf das Wesentliche, klarer Blick, sensible Auffassungsgabe, aber auch ein ironischer Blick auf sich selbst zeichnen ihre Texte aus.

Als Szene-Figur bekannt, war sie als Literatin lange Zeit unterschätzt, aber 1999 kamen dann endlich, nach dem Theodor Körner-Preis 1978 oder dem Würdigungspreis des Österreichischen Bundesministeriums für Unterricht und Kunst 1985, geballt die verdienten Würdigungen. Zuerst der Georg Trakl-Preis für Lyrik und kurz darauf der Erich Fried Preis aus den Händen Elfriede Jelineks. Darauf folgte 2002 die Goldene Ehrenmedaille der Stadt Wien. Und nun zum 75er bekam sie den Heimrad-Bäcker-Preis. Herzliche Gratulation, Elfriede!  P. S.

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Frühe Liebe zur Kunst

Lotte Laserstein 1898–1993

Selbstbildnis

Bereits als Kind wusste Lotte Laserstein, dass sie Künstlerin werden wollte – ein doch eher ungewöhnlicher Wunsch eines Mädchens in der Zeit um die Jahrhundertwende des 20. Jahrhunderts, in der Frauen Kunst noch nicht an Akademien studieren durften. Laserstein hatte großes künstlerisches Talent und lebte ein autonomes Leben. Einen tiefen Einschnitt erhielt das Leben der gegenständlichen Malerin durch den aufkommenden Nationalsozialismus, wodurch sie als Jüdin abgestempelt wurde und sie emigrieren musste. Bis heute ist die lange Zeit verschollene Künstlerin wenig bekannt. Erst im Kontext der Forschungen zu Künstlerinnen tauchte ihr Name in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts auf, und sie konnte somit zu den „bekannteren Unbekannten“ zählen. Ausstellungen in den letzten Jahren in Berlin, Kalmar und Stockholm machten ihr Werk endlich einem größeren Kreis bekannt. Anna-Carola Krausse das Leben und Werk Lasersteins im Rahmen ihrer Dissertation aufgearbeitet, 2004 eine Retrospektive der Künstlerin kuratiert und 2006 im Berliner Reimer Verlag Lasersteins Lebens- und Werkgschichte herausgebracht.

1898 kam Lotte Meta Ida Laserstein in Preußisch-Holland, einem Städtchen nahe Königsberg, als erste von zwei Töchtern von Hugo und Meta Laserstein, geb. Birnbaum, zur Welt. Die Eltern gehörten dem assimilierten jüdischen Bürgertum an. Der Vater war Apotheker, aber aufgrund seines Herzleidens wurde die Apotheke verkauft, und die Familie zog nach Bad Nauheim, wo der Vater 1902 im Alter von nur 42 Jahren starb. Die Mutter blieb nach seinem Tode unverheiratet und zog mit den Töchtern Lotte und Käthe zu ihrer ebenfalls verwitweten Mutter und deren jüngster Tochter Elisabeth nach Danzig. Der reine Frauenhaushalt dürfte sowohl Lotte als auch Käthe Laserstein geprägt haben, denn beide führten ein Leben als berufstätige, alleinstehende Frauen. Elisabeth, Elsa genannt, führte eine private Malschule, in der auch Lotte unterrichtet wurde. 1912 übersiedelte die Familie nach Berlin, wo die beiden Geschwister die Chamisso-Schule besuchten, in der es für sie möglich war, das Abitur zu machen. Lotte studierte anschließend Kunstgeschichte und ihre Schwester Käthe Literaturwissenschaft. In Deutschland hatten Frauen erst ab 1919 Zugang zum Studium der Akademie. Die talentierte Lotte Laserstein immatrikulierte sich 1921 an der Akademischen Hochschule für die Bildenden Künste, studierte in der Klasse des Maler und Graphikers Erich Wolfsfeld und zählt somit zu einer der ersten Kunststudentinnen nach der Zulassung von Frauen an der Berliner Kunstakademie, was sicherlich nicht leicht war angesichts der weiterhin existierenden Vorurteile der Hochschullehrer. 1927 schloss sie das Studium mit Auszeichnung ab. Bereits 1924 hatte sie Gertrud Süssenbach, genannt Traute, verheiratete Rose, kennengelernt. Sie wurde ihre Freundin, Muse und ihr Lieblingsmodell. Die Intimität mancher Bilder lässt darauf schließen, dass die beiden eine über das freundschaftliche Arbeitsverhältnis hinausreichende Beziehung hatten. Die junge Malerin hatte trotz eines zurückgezogenen Lebens Erfolg mit ihren Bildern; so wurden 1930 ihre Bilder in einer Einzelausstellung gezeigt. Am Ende der Weimarer Republik passte ihr Stil zum Lebensgefühl der Sachlichkeit: Laserstein verband ihr akademisches Erbe mit den zeitgenössischen Motiven des modernen Großstadtlebens. Sie malte Café- und Gasthausszenen (Im Gasthaus, 1927), sportliche Frauen (Tennisspielerin, 1929), portraitierte fremdländische Gesichter, die ihr in den Straßen des kosmopolitischen Berlins begegneten (Mongole, 1927), und befragte in ihren Selbstbildnissen und Portraits von Traute Rose immer wieder das zeitgenössische Bild der modernen Frau. Sie hielt den modernen Frauentypus, die Garçonne, die in den 20er Jahren in den Städten Berlin und Paris auftauchte, fest. Lasersteins Blick auf die Frau ist ein anderer als jener ihrer Malerkollegen, etwa Christian Schad oder Otto Dix. Sie zeigt die unabhängige Frau ohne frivolen und erotischen Unterton. Nicht verrucht, sondern von strenger Eleganz, ist Lasersteins Restaurantbesucherin kein exotischer Vogel der Bohème, keine rauchende, übernächtige sophisticated Lady, kein käufliches Wesen, schreibt Anna-Carola Krausse. Immer wieder hielt sich Laserstein auch selbst auf der Leinwand fest, oftmals auch als Malerin mit Pinsel und Palette vor einer Leinwand und mit Traute Rose im Bild. Intensiv widmete sie sich auch dem weiblichen Aktbild, einem Sujet, das Jahrhunderte lang ein Privileg der Männer war.

Mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus wurden die Lebensbedingungen zunehmend schwieriger. Ihr Großvater väterlicherseits war Jude, und sie wurde zur Dreivierteljüdin erklärt. Das Appartement der Mutter und vieles aus dem Familienbesitz konfiszierte der NS-Staat. 1935 erhielt die Malerin Berufsverbot. 1937 ging Lotte Laserstein nach Schweden, wo sie eine Ausstellung hatte, und blieb dort im Exil. Durch Vermittlung der Jüdischen Gemeinde ging sie eine Scheinehe mit dem 22 Jahre älteren Kaufmann Sven Marcus ein und wurde somit schwedische Staatsbürgerin. Versuche, ihre Familie oder auch die Lebensgefährtin ihrer Schwester nachkommen zu lassen, scheiterten. Ihre Mutter kam im Konzentrationslager Ravensbrück ums Leben, ihre Schwester Käthe hatte Krieg und Verfolgung in einem Berliner Versteck überlebt.

Bis zum Ende ihres Lebens blieb Lotte Laserstein in Stockholm, wo sie Mitglied der Schwedischen Kunstakademie und als Malerin, vor allem als Portraitistin, respektiert und angesehen war. Ihre Bilder erreichten jedoch nur noch selten die Qualität ihrer Zeit in Berlin. 1993 starb Lotte Laserstein im Alter von 94 Jahren im südschwedischen Kalmar. Petra M. Springer

Buchtipp: Anna-Carola Krausse: Lotte Laserstein. Leben und Werk. Reimer, 2006, 392 S.  mit einem illustrierten Werkverzeichnis auf CD-Rom mit ca. 700, meist Farbigen Abb. CD. € 50,40.

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Letzte Änderung: 03.01.2012
Webmeisterin+Redaktion: Mag. Ditta Rudle
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