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An ihrem 80. Geburtstag kam Ruth Klüger in ihre Geburtsstadt (die sie nicht gern Heimatstadt nennt, denn Heimat ist ihr Wien nicht), um als Gast der Viennale 2011 an der Uraufführung des von Renata Schmidtkunz gedrehten Films mit ihr teilzunehmen. Stehend brachte ihr das Publikum im Gartenbaukino seine Ovationen entgegen, während Viennale-Chef Hans Hurch einen Riesenstrauß roter Rosen überreichte. Die 80-jährige Dame strahlte, Bekanntheit und Verehrung tun ihr wohl, „beleben" sie, wie sie sagt und freuen sie diesmal besonders, ist doch ihr erstgeborener Sohn, Percy, mitgekommen, und der soll stolz auf seine Mutter sein.
Vor drei Jahren, als Wien ihr erstes Buch, „Weiter leben. Eine Jugend" in der Stadt verteilen ließ und Ruth Klüger zu einem Galadiner im Rathaus eingeladen war, hatte ihr zweiter Sohn, Dan, mit seiner Frau und den beiden Kindern Wien besucht und auch damals freute sich die Mutter über die öffentliche Ehrung, damit die amerikanischen Verwandten sehen konnten, dass sie „etwas gilt“.
Doch diese Szene ist bereits Teil des Porträts, das die Journalistin und Filmemacherin Renata Schmidtkunz von Ruth Klüger in mehrjähriger Arbeit gedreht hat. Der Applaus nach den 70 Minuten gilt nicht nur der Hauptperson, der renommierten Germanistin, Autorin und gestrengen Lehrerin, sondern auch der Drehbuchautorin und Regisseurin für den einfühlsamen und aussagekräftigen Film, mit der gewiss nicht einfachen alten Dame. „Landschaften der Erinnerung – Das Weiterleben der Ruth Klüger" nennt Schmidtkunz die Dokumentation, in der die Kamera die mehrfach geehrte Autorin nicht nur zu Hause in Kalifornien zeigt, sondern auch bei Besuchen in Wien, wo sie geboren ist, Göttingen, wo sie einen Lehrauftrag hatte, Bergen-Belsen, das ihr erspart geblieben ist und Israel, das sie gerne als ihr Land bezeichnen würde, doch dieser Wunsch muss im Konjunktiv bleiben.
Ruth Klüger, geboren 1931, ist ein Wiener Kind, aufgewachsen im 7. Bezirk, und doch hat sie ein gespaltenes Verhältnis zu dieser Stadt, die sie als „kinderfeindlich, judenkinderfeindlich" erlebt hat.
1938 floh der Vater, ein Gynäkologe, nach Frankreich. Ruth hat ihn nie wieder gesehen, er wurde, wie die Mutter, von den Nationalsozialisten umgebracht. Auch die kleine Ruth wurde ins KZ gesteckt, doch auf einem sogenannten „Todesmarsch", als sie nach Bergen-Belsen verlegt werden sollte, konnte sie knapp vor Kriegsende fliehen. „Zufall" nennt sie ihre Rettung, „Schicksal", meint sie, „ist, dass ich eine österreichische Jüdin bin". Gerne wäre sie in Israel zu Hause, doch als sie in den späten 1940er Jahren immigrieren wollte, bedeutete man ihr, dass sie nicht willkommen sei: „Sie brauchten Soldaten für ihren Krieg." So ging Ruth mit ihrer Mutter nach Amerika, studierte Literaturwissenschaft und auch Germanistik. Ihre Dissertation schrieb sie über das „barocke Epigramm". 1952 heiratete sie den in Berlin geborenen späteren Historiker Werner Angress (gest. 2010), bekam zwei Kinder und ließ sich wieder scheiden: „Werner war auch danach ein guter Freund, aber ein schrecklicher Ehemann." Ruth Klüger hat weder mit ihrem Mann noch mit ihren Kindern deutsch gesprochen. Anfangs konnte und wollte sie nicht, später wollten die Buben, „wie Buben halt so sind", nicht. Jetzt tut es den erwachsenen Söhnen Leid, dass sie die Sprache ihrer Mutter nicht sprechen können.
Renata Schmidtkunz gelingt es, Ruth Klüger nicht nur als hoch geehrte Wissenschaftlerin, viel gelesene Autorin und engagierte Feministin zu zeigen, sondern auch als private Person. Als eine Persönlichkeit, die weiß was sie sagt und dazu steht, die unsentimental und realistisch trotz ihres Alters nach vorn blickt und dennoch die Vergangenheit nicht verleugnet.
Doch sie hat einen eigenen Blick auf diese, hält nichts von frommen Sprüchen („die nur die Lebenden beruhigen und den Toten nicht helfen") und unterscheidet (nicht nur als Sprachwissenschaftlerin) „zwischen verdrängen, vergessen und überwinden." Als sie sich ihre Tätowierung mit der KZ-Nummer wieder entfernen ließ, ist ihr mehrfach Kopfschütteln und Unverständnis begegnet. „Doch mir ging es auf die Nerven, dass die Leute in Deutschland und Österreich immer auf die Nummer gestarrt haben und manchmal auch aggressiv reagiert haben, als ob ich das absichtlich zur Schau stellte."
Obwohl Ruth Klüger niemals klagt und an ihrem Geburtstag in Wien sagt, dass sie sich freute, dürft sie noch ein wenig länger leben, nennt sie ihr Leben nicht „schön", die Jugend in Wien und die Jahre der Gefangenschaft sitzen zu tief. Wenn sie im Film ihren Gedanken freien Lauf lässt, wird deutlich, dass sie von Wien, ihrer Geburtsstadt, und der europäischen Kultur nicht los kommt. Immer wieder fällt ihr ein, dass sie eine Zerrissene ist, „dazwischen" lebt, zwischen Europa und Amerika, zwischen Traumatisierung und Kindheitstraum, zwischen den Sprachen und Kulturen, zwischen Misstrauen und Vertrauen, in der Zwiespältigkeit der Gefühle.
Zu schreiben hat sie erst begonnen, als sie wegen einer Herzkrankheit im Spital lag und ihr die Ärzte nur noch ein kurzes Leben gaben. „Dank des Herzschrittmachers habe ich jetzt auch die Ärzte überlebt", setzt Ruth Klüger, wie so oft, eine Pointe. Damals jedenfalls dachte sie, dass sie sich erinnern müsste, mitteilen, wie es war. „Zu meiner allergrößten Verblüffung wurde ,Weiter leben’ ein Bestseller." Der Bann aber war gebrochen, inzwischen hat Ruth Klüger ein zweite Erinnerungsbuch, „unterwegs verloren", veröffentlicht und zahlreiche literaturwissenschaftliche und feministische Werke („Frauen lesen anders", „Was Frauen schreiben", beide bei Zsolnay erschienen).
Klüger ist eine eigenwillige Frau, die auch in der Frage der Naziverbrechen oder des Feminismus nicht dem Mainstream folgt und mit ihrer Meinung niemals hinter dem Berg hält. So sagt sie, dass sie nicht der eigentliche Unterschied zwischen Opfern und Tätern interessiert, sondern „zwischen Opfersein und Freisein“. An die Möglichkeit, vergeben zu können, glaubt sie nicht. „Wem soll ich anonym dafür vergeben, dass mein Vater ermordet wurde?"
An ein „Nie wieder" glaubt die Realistin Ruth Klüger ebenso wenig. Für sie persönlich, sagt sie vor dem Holocaust Memorial in Yad Vashem, geht es „um die Bewältigung der Gegenwart und nicht um die der Vergangenheit." Und doch bleibt Wien eine Wunde: „Wiens Wunde, die ich bin und meine Wunde, die Wien ist, sind unheilbar." Diesen Satz stellt Schmidtkunz ihrem Film voran.
Nicht der unverhoffte Besuch in Bergen-Belsen, wo sie als Teenager hätte sterben sollen, und nicht der Besuch ihres Elternhauses mit dem Sohn, hätte sie an dem Porträt-Film am meisten berührt, sagt sie, sondern eine kleine Szene am Gedenkstein für Anne Frank. Als Besucherin suchte sie auf dem Gelände des KZs von Bergen-Belsen einen Stein, um ihn nach jüdischem Brauch auf den Grabstein zu legen. Weit und breit war keiner zu finden, da hebt Renata Schmidtkunz einen kleinen Kiesel auf und reicht ihn ihr: „Das hat mich angerührt. Renata könnte ja meine Tochter sein. Das zeigt mir, dass es eine Verbindung gibt zwischen den Generationen, ein Verstehen." Im aufschlussreichen Gespräch nach der Premiere des Films im Rahmen der Viennale zieht sie ein Resümee: „Es war ein volles Leben. Es war wie's war. Man sollte in meinem Alter einen Punkt setzen und sich nicht dauernd Gedanken machen, wie es anders hätte sein können. Es war nicht immer gut, aber es war viel."
Renata Schmidtkunz hat Ruth Klügers Vertrauen erworben und von ihren Erinnerungen und Gedanken mehr erfahren, als die Mutter ihren Söhnen je erzählt hat.
Im Frühjahr soll der Film über die unkonventionelle Frau, Autorin, Germanistin und Lehrerin, die so sensibel wie unerbittlich ist, im Kino gezeigt werden. Ditta Rudle
Nach mehreren erfolgreichen Dokumentarfilmen hat Elisabeth Scharang ihre ersten Kinofilm gedreht. „Vielleicht in einem anderen Leben“ entstand nach dem Theaterstück „Jedem das Seine“ von Silke Hassler / Peter Turrini, das 2010 im Theater in der Josefstadt uraufgeführt worden ist. Hassler und Turrini haben auch am Drehbuch mitgewirkt, doch hat Scharang ihre eigene Version des Dramas gedreht.
Filmszene: Die Juden kommen ins Dorf
Erzählt wird von einer Gruppe ungarischer Juden, die im Frühjahr 1945 durch Österreich getrieben wird. Ziel ist das Konzentrationslager Mauthausen. In einem kleinen Dorf strandet die Gruppe und wird in einem Heustadel untergebracht. Um sich die Wartezeit auf den Tod zu vertreiben, beschließen die Gefangenen als bizarre Form des Widerstands, die Kunst als Überlebensmittel zu benutzen. Unter der Leitung eines ehemaligen Opernsängers studieren sie die Operette „Wiener Blut“ ein. Die tragikomische Probenarbeit ist jedoch für Scharang nur das Fahrgestell für die Geschichte einer Ehe. Zwischen Traudl und Stefan Fasching, den Eignern der Scheune, in der die ungarischen Juden lagern, steht Fremdheit und Kälte, bis der Überlebensmut der Gefangenen Mitgefühl und Menschlichkeit weckt und das Eis schmilzt. Was mit den Gefangenen zu geschehen hat, wird nicht nur für das Ehepaar Fasching zur Gewissensfrage, sondern für alle Dorfbewohner. Als die Nachricht vom Ende des Krieges eintrifft, muss sich jeder Einzelne entscheiden. Während die einen in blindem Gehorsam vom Hass zerfressen werden, bringt die Tragödie der Todgeweihten die Eheleute einander wieder näher. Überzeugend gelignt es Ursula Strauss und Johannes Krisch, das durch die Kriegswirren entfremdete Paar, das letztlich doch an Veränderung und einen Neubeginn glaubt, darzustellen.
Wie im griechischen Drama bietet der Film, dessen Erzählung sich in wenigen Tagen abspielt, die perfekte Einheit von Zeit, Ort und Handlung. Dabei erwies sich das Finden des kleinen Ortes im Weinviertel und die freiwillige Mitarbeit der 20 Dorfbewohner als Glücksfall.
Elisabeth Scharang, geboren 1969 in Bruck an der Mur, hat ihre Karriere beim Rundfunk begonnen. "Ich habe schon während meines Studiums fürs Radio gearbeitet und musste mir irgendwann eingestehen, dass ich mehr arbeite als studiere.“ Da hat sie das ehrgeizige Ziel Politikwissenschaft Soziologie und Philosophie fertig zu studieren aufgegeben und sich dem Gestalten von Radiosendungen („ORF-Musikbox“, „Zick-Zack“) gewidmet. Als der Alternativsender FM 4 geboren wurde, hat sie freitags ein „Jugendzimmer“ abgehalten. Noch immer freut sie und auch die zahlreichen HörerInnen das „Doppelzimmer“ , in dem sie zwei Stunden mit interessanten ZeitgenossInnen plaudert.
Immer wieder springen die Tochter des Autors Michael Scharang, „Geschichten an“, für die sie „einen Weg sucht, um sie thematisch umzusetzen.“ Reportagen für den „Inlands-Report“ sind so entstanden und auch für „X-Large“. „Damals habe ich viel gelernt, wir hatten einen großen Freiraum und auch viel Zeit unsere Ideen umzusetzen.“ Bald genügte ihr das Wort allein nicht mehr, selbst wenn Radio gern als „Kino im Kopf“ bezeichnet wird. 1997 entstand der erste Fernsehfilm, die Dokumentation „Die Tage der Kommune“. Für den Fernseh-Film „Mein Mörder“ (über die Morde in der NS-Euthanasieanstalt „Am Spiegelgrund“) hat sie ihren Vater als Drehbuch-Koautor gewonnen und außerdem eine „Romy“ für das beste Drehbuch. Der Fiktion folgte die Realität: 2006 folge die Dokumentation „Meine liebe Republik“, die sich mit dem Schicksal Friedrich Zawrels, der den „Spiegelgrund“ überlebt hat, befasst. Schon mit 23 erhielt Elisabeth Scharang den Österreichischen Staatspreis für Journalismus im Interesse der Jugend, worauf eine beträchtliche Reihe anderer renommierter Preise folgte.
Die Arbeiten an Scharangs ersten Kinofilm, waren nicht einfach. Zuerst musste sie sich mit Hassler und Turrini über die im Drehbuch vorgenommenen Änderungen des Theaterstücks einigen. „Ich bin da eisern, es ist schließlich mein Film und ich habe mich durchgesetzt.“ Elisabeth Scharang ist eine zierliche Person mit sanfter Stimme. Davon sollte sich niemand täuschen lassen. So schonungslos wie sie in ihren TV-Filmen die Wahrheit dokumentiert, so hart arbeitet sie am Erreichen ihres Ziels. Gerne legt sie die Finger in bereits verschorfte Wunden und weist unerbittlich auf alles hin, was wir so gern als „unglaublich“ beiseite schieben.
Schwierigkeiten gab es aber auch mit den Ungarn: „Die sprechen nicht Deutsch, ich spreche nicht Ungarisch. Und als ich sie beim Casting einige Zeilen des Liedes ‚Wiener Blut’ singen ließ, sah ich gleich, dass sie keine Ahnung hatten, was sie für Worte sangen.“ Das sang eine alte Dame den Kitschtext wie ein Requiem und ein forscher Herr interpretierte die Wörter als Kampflied. „Da hab ich auf einmal verstanden, wie ich den Film machen will. Diese Bandbreite der Interpretation ein und derselben Situation hat mir die Möglichkeiten dieses Films gezeigt.“ Und auch wie sie die Operette (die im Theaterstück im Zentrum steht) einbauen kann, hat Scharang beim Casting in Ungarn verstanden. „Wegen der Operette geht ja niemand ins Kino , die ist für mich nur ein Vehikel für die Geschichte.“
Im Gespräch fällt der Regisseurin auch ein, dass es in dem Film wie auch bei den Dreharbeiten „so viel um Kommunikation geht“. Das einander Verstehen ist zwischen dem Ehepaar Fasching ebenso zentral wie zwischen den eingesperrten Ungarn und den Dorfbewohnern und war auch am Set eine nur mit Geduld zu überwindende Hürde. „Die Möglichkeiten wie man gemeinsam etwas tun kann, auch wenn Sprache und Kultur unterschiedlich sind, wie man gemeinsam ein Projekt verwirklichen kann, die werden im Film verhandelt, waren aber hinter der Kamera genau so zu erforschen. Diese Spiegelung des Filmthemas bei den Dreharbeiten war für mich eine nahezu perfekte Arbeitsweise.“
Einen „Holocaust“-Film wollte Elisabeth Scharang nicht drehen: „Es geht in diesem Film um Zivilcourage, darum Stellung zu beziehen und Verantwortung zu übernehmen . Wie immer in Krisenzeiten muss man sich entscheiden, auf welcher Seite man steht. Solange man noch kann.“
Sein Bestreben, seinem Milieu zu entwachsen, ziehe sich als Leitmotiv durch Man Rays gesamtes Œuvre: so wenig er in seiner Jugend die Schranken seines Elternhauses für sich gelten ließ, so wenig akzeptierte er als Künstler althergebrachte Konventionen in der Kunst. Zeit seines Lebens lavierte er zwischen allen künstlerischen Kategorien und Stilen, was seine Rezeption bei Kritikern nicht gerade erleichterte. Erklärt der Kurator einer so eben abgeschlossenen Man-Ray-Retrospektive im jüdsichen Museum von New York, Mason Klein, den Künstler.
Selbstporträt, 1942
Merry Foresta schreibt in ihrem intelligenten Katalogbeitrag: „Ähnlich wie Baudelaires Flaneur, der durch die Menge streift und beobachtend immer etwas Abstand hält, so manövriert Man Ray durch die Kunstströmungen des zwanzigsten Jahrhunderts. Als Künstler […] verlor er sich dabei aber letztendlich zwischen den Welten". Sein Werk, so die Ausstellungsmacher, lebe aus dem Spannungsverhältnis seiner verdrängten jüdischen Herkunft und seinem innersten Bedürfnis, sich als Künstler stets aufs Neue zu definieren.
Dass Man Rays jüdische Wurzeln der breiten Öffentlichkeit weitgehend
unbekannt sind, ist indes nicht verwunderlich, tat doch der Betroffene selbst
alles, um seine jüdische Herkunft zu verschleiern. So enthält seine
1963 von ihm verfasste, höchst selektive Autobiographie Selbstportrait
nicht nur fast keine Jahreszahlen, sie unterschlägt auch völlig seine
jüdische Abstammung.
Erst aus einer nach seinem Tod 1977 erschienenen Monographie erfahren wir,
dass Man Ray 1890 in Philadelphia als erstes von vier Kindern russisch-jüdischer
Emigranten als Emanuel Radnitzky zur Welt gekommen war. 1897 zog die
Familie nach Brooklyn, wo der Vater tagsüber in einer Stofffabrik arbeitete
und sich abends mit Schneiderarbeiten – in die er auch den Rest der Familie
mit einbezog – ein zusätzliches Einkommen verdiente. Der handwerkliche
Aspekt – das Zusammenfügen von Stoffteilen und Materialien – wie
auch die Utensilien dieser Zeit – Schablonen, Garnspulen, Nadeln, Kleiderhaken,
Mannequins – sollte in der Folge immer wieder in die Bilder, Zeichnungen,
Collagen und Assemblagen des Künstlers Einlass finden.
Le violon d'Ingres, 1924
Mannys Drang zu zeichnen wurde von den Eltern nicht gerne gesehen. In späteren
Schuljahren durfte er jedoch technische Zeichenkurse belegen. Nach wenig erfolgreichen
Besuchen konservativer Kunstakademien schrieb er sich 1911 schließlich
in die Modern School of New Yorks Ferrer Center ein. Der unabhängige,
radikale und anarchistische Geist dieser Ausbildungsstätte hatte einen
prägenden Einfluss auf sein gesamtes zukünftiges Schaffen und machte
ihn insbesondere für Dada empfänglich.
Um diese Zeit fiel auch, zuerst in Alfred Stieglitz’ namhafter Galerie
291 und 1913 in der Armory Show, seine einschneidende Begegnung mit den Werken
von Cezanne, Rodin, Picasso, Brancusi, Duchamp, Picabia und anderen Künstlern
der Avantgarde. Innerhalb kürzester Zeit durchlief er die verschiedensten
Stilphasen der europäischen Moderne – Impressionismus, Expressionismus,
Kubismus, Futurismus, bis er, über seine Freundschaft mit Duchamp, schließlich
in Dada seine eigene Sprache finden sollte.
Ein Schlüsselwerk der New Yorker Periode, so Mason Klein, sei das Gemälde „The
Ropedancer accompanies herself with her Shadows“, aus dem Jahre 1915/16
(„Der Seiltänzer, umgeben von seinen Schatten"). Das Bild weist
formale Parallelen zu Duchamps La mariée mise à nu par ses célibataires,
même (das Große Glas) auf, ein kunsthistorischer Bezug, auf den
in der Ausstellung allerdings nicht näher eingegangen wird. Hervorgehoben
wird vielmehr die Symbolik des entmaterialisierten Tänzers im Hintergrund,
der die in schrillen Primärfarben gemalten „Schatten" im Vordergrund
(die an Schablonen aus der väterlichen Kleiderwerkstatt erinnern) manipuliert.
In diesem Bild spiegle sich symbolisch, so Klein, Man Rays Grundkonflikt zwischen
innerer Identität und öffentlicher Persona wider: Indem der Seiltänzer – der
Künstler selbst – die Farbe des Hintergrunds annimmt - verschwindet
er quasi hinter seinen grellen Projektionen – Surrogate, die er dem Betrachter
vorsetzt, und in denen er sich dem Publikum als vielseitiger Künstler
präsentiert: als Photograph, Maler, Dadaist, Poet.
Anfang 1916 wendet sich Man Ray, fasziniert von Duchamps Readymades, der Objektkunst zu, wie z.B. in seinem frühen Selbstportrait, oder in Obstruction (1920) („Behinderung" – in ironischer Abwandlung von „Abstraktion"), einer hängenden Skulptur aus Kleiderhaken, die in ihrer mathematischen Progression an einen Stammbaum erinnert und somit als weitere Anspielung auf Man Rays („obstruierende") Familiengeschichte verstanden werden kann. In diesem Werk nimmt Man Ray die Entwicklung Calders Mobiles (ein Begriff, der auf Du–champ zurückgeht) vorweg.
In einem weiteren Schlüsselwerk der New Yorker Dada Zeit, L’Enigme
d’Isidore Ducasse, einem Photo eines stoffüberzogenen Objekts – einer
Nähmaschine und eines Regenschirms – sieht Mason Klein ebenfalls „verhüllte" Anspielungen
auf Man Rays elterliche Kleiderwerkstatt.
1921 verschifft sich Man Ray nach Frankreich, wo er von den Dadaisten und späteren
Wortführern der Surrealisten (Duchamp, Tristan Tzara, Breton, Eluard …)
mit offenen Armen empfangen wird. In Paris ist Man Ray als Ausländer
ein unbeschriebenes Blatt, ohne Religion und Klassenzugehörigkeit, was
seinem Bedürfnis nach Anonymität nur Vorschub leistet.
Da die Malerei alleine ihm kein ausreichendes Einkommen sichert, verdient er
sich seinen Lebensunterhalt als Portrait- und Modephotograph für Vogue,
Vue und Vanity Fair. In kürzester Zeit avanciert er zum bevorzugten
Photographen der Stars aus Mode und Film, die Crème de la Crème
aus Kunst und Literatur von Breton, Duchamp bis zu Hemingway, Joyce und Gertrude
Stein defiliert vor seiner Kamera. Es entstehen Meisterwerke wie Le Violon
d’Ingres oder Noire et Blanche, Photographien seiner Geliebten Kiki de
Montparnasse, in denen der Künstler mit formalen Konventionen und Bedeutungsebenen
spielt.
In die ’20er und ’30er Jahre fallen auch seine bedeutenden Leistungen
auf dem Gebiet der experimentellen Photographie, wie Solarisationen und Rayographien,
die ohne Kamera, durch direkte Belichtung realisiert werden, oder die Aufnahmen
seiner Geliebten Lee Miller, in denen er mit Proportionsveränderungen
und Lichteffekten experimentiert.
Angesichts der sich zuspitzenden politischen Lage und dem deutschen Einmarsch im Juni 1940 sieht sich Man Ray allerdings gezwungen, Paris zu verlassen. Nach einem kurzen Aufenthalt in New York entscheidet er sich für Hollywood, Zufluchtsort zahlreicher europäischer Intellektueller, Künstler, und ehemaliger Kollegen wie Fritz Lang, Rene Clair, Luis Bunuel und Salvador Dali. Es entsteht eine kleine Anzahl von Kurzfilmen, doch bald muss Man Ray erkennen, dass die kommerziell orientierten Studios nicht an Kunst interessiert waren. Enttäuscht zieht er sich auf die Malerei zurück. In seine Hollywoodperiode, die über elf Jahre währte, fällt der Großteil seiner surrealistischen Bilder. Schattenlose Szenerien, unnatürliches Licht, verfälschte Perspektiven, entwurzelte Bäume, abgeschrägte Billardtische und einfallendes Gemäuer zeugen von einem durchdringenden Gefühl der Entfremdung und des Unbehagens. Über Hollywood meinte er später: „In Hollywood wuchert der Surrealismus üppiger als in den Köpfen aller Surrealisten zusammengenommen".
1946 ist er im Whitney Museum mit zehn von seinen Objects of my Affection
vertreten, einer Reihe von Objektmontagen, die an seine Dada-Periode anknüpfen. 1952,
als der Abstrakte Expressionismus – dem sich Man Ray bewusst entzog – die
amerikanische Kunstszene erobert, kehrt der Künstler, für den Hollywood
immer Exil geblieben war, mit seiner dritten Frau, Juliet Browner, schließlich
nach Paris zurück.
In seiner letzten Schaffensperiode widmet er sich u.a. der Thematik von Originalität
und Reproduktion und greift auf die geometrischen Zeichentechniken seiner Jugendjahre
zurück. In seinem besonderen Interesse für Schatten und ihrer Subsumierung
(Axiom: because the pyramid is a shadow – it cannot have another shadow,
1943) sieht Mason Klein ein weiteres Symptom Man Rays ungelöster Identitätsproblematik.
Man Rays Kurzfilme und Interviews runden die Ausstellung ab, deren hauptsächlicher
Verdienst vielleicht weniger die „Vereinnahmung" Man Rays
als „jüdischer Künstler" ist, als dessen Aufwertung zur
eigenständigen und komplexen Künstlerpersönlichkeit, die nunmehr
aus dem Schatten Duchamps heraustritt.
Auf Man Rays Grabstein ist die von ihm selbst verfasste Charakterisierung „Unconcerned, but not Indifferent“ –„unbekümmert, aber nicht gleichgültig" - als Inschrift angebracht. Dass Man Ray auf eine Ausstellung seines Lebenswerks und die Bloßstellung seines bestgehüteten Geheimnisses „gelassen-unbekümmert" reagiert hätte, bleibt indes stark zu bezweifeln.
The
Jewish Museum, 1109 5th Ave at 92nd St. New York NY 10128
Katalog:
Alias Man Ray: The Art of Reinvention. by Mason Klein; with contribution
by George Baker, Merry L. Foresta, and Lauren Schell Dickens. 256 S. Yale
Univ. Pr., 2010. € 47,99.
Jan Josefsz van Goyen: Blick auf die alte Maas bei Dordrecht, 1651
Öl auf Leinand, Dordrechts Museum, Dordrecht
Reclaimed: Paintings from the Collection of Jacques Goudstikker ist der programmatische Titel einer kürzlich im Jüdischen Museum in New York eröffneten Ausstellung. Programmatisch deshalb, da die Schau nicht nur Einblick in die außergewöhnliche Sammlung des prominenten holländischen Kunsthändlers Jacques Goudstikker bietet, sondern auch weil sie den Aspekt der Rückerstattung dokumentiert, die Goudstikkers Erben schließlich nach jahrelangen Bemühungen durchsetzen konnten. Die Ausstellung ist dementsprechend nicht nur rein kunsthistorisch ausgerichtet, sondern beinhaltet auch Originaldokumente, wie zum Beispiel Goudstikkers Notizbuch, und geschichtliche Daten und Fakten, die auf die historische Bedeutung der Rückgabe des gestohlenen Raubguts hinweisen.
Jacques Goudstikker war einer der wichtigsten und erfolgreichsten europäischen Kunsthändler der Zwischenkriegszeit. Seine Galerie spezialisierte sich auf holländische und italienische Meister des 15., 16. und 17. Jahrhunderts. Zu Goudstikkers Kunden zählten einflussreiche Sammler und Museen in Europa und Übersee, wie das Rijksmuseum in Amsterdam, das Mauritzhaus in Den Haag, das Metropolitan Museum in New York oder die National Gallery in Washington. Goudstikker führte ein extravagantes Leben, organisierte prächtige Feste, seine originellen, Neuland beschreitenden Ausstellungen – in denen er beispielsweise Stillleben des 17ten Jahrhunderts jenen Picassos und Matisse’ gegenüberstellte – erwiesen sich als richtungweisend.
Kurz nach dem Einmarsch der Nazis im Mai 1940 ergriffen Jacques Goudstikker und seine Familie die Flucht. Die Mehrzahl der insgesamt 1400 Kunstwerke seiner Sammlung wurde für Hermann Göring nach Deutsch verschifft, der Rest verblieb in der Galerie, die von Görings Helfer Alois Miedl weiterhin unter dem Namen Goudstikker geführt wurde.
Jacques Goudstikker
Jacques Goudstikker kam indessen auf der Flucht ums Leben, seine junge Frau, die Wiener Sängerin Désirée von Halban Kurz konnte sich und ihren neugeborenen Sohn Edo in die Neue Welt retten. Gerettet werden konnte auch jenes in schwarzes Leder gebundene Notizbuch, in das Goudstikker sorgfältig jedes einzelne seiner Werke eingetragen hatte. Dieses Notizbuch sollte in der Folge eine maßgebliche Rolle spielen, diente es doch Goudstikkers Familie als Basis ihrer für ihre Rückstellungsanforderungen.
Am Ende des Zweiten Weltkrieges hatten die Alliierten über 200 Werke Goudstikkers in Deutschland ausgemacht und diese, in der Annahme der Rückstellung an ihren rechtmäßigen Besitzer, in die Niederlande zurückgesandt. Die Niederlande weigerten sich jedoch, die mittlerweile in die staatlichen Sammlungen einverleibten Werke zurückzuerstatten. Nach dem Ableben Désirées und ihres Sohnes Edo, betrieb dessen Witwe Marei von Saher gemeinsam mit ihren Töchtern die Rückstellung der gestohlenen Werke. Nach fast einem Jahrzehnt gerichtlicher Auseinandersetzung stimmte die holländische Regierung schließlich im Jahre 2006 der Restitution von 200 von den Nazis geraubten Werken zu. Die Hälfte dieser Gruppe ist seither veräußert worden – unter anderem auch, um die horrenden Anwaltskosten zu begleichen. Ein Teil der restlichen Werke – etwa. 50 – ist nun im Jüdischen Museum in New York zu sehen.
Die Ausstellung beinhaltet keineswegs nur Meisterwerke. Die Auswahl führt vielmehr Goudstikkers ausgezeichneten Geschmack vor Augen, seine sichere Hand, sein scharfes Auge für exquisite Qualität, die von hoher Expertise und feinsinniger Intelligenz eines Sammlers und Händlers zeugen, der seiner Zeit immer einen Schritt voraus war. Unter den gezeigten Gemälden finden sich u. a. auch Meisterwerke wie eine Patinier Landschaft, Vertreibung der Hagar (letztes Viertel des 16. Jh.), Pieter Lastmans David übergibt Uria einen Brief für Joab (1619), Salomon van Ruysdaels Flusslandschaft mit Fähre (1649), eine van Goyen Ansicht von Dordrecht (1651), zwei Portraits von Paul Moreelses - Philip Ram und seine Gemahlin Anna Strick van Linschoten (1625), Ferdinand Bols Portrait von Louise-Marie Gonzaga de Nevers, Königin von Polen oder auch Jan van der Heydens Ansicht von Schloss Nyenrode Goudstikker hatte das Gut selbst für sich erworben und erlaubte der Öffentlichkeit in den Sommermonaten den Zugang.
Die Ausstellung wurde von Peter Sutton, dem Kurator des Bruce Museums in Greenwich, Connecticut ursprünglich in chronologischer Reihenfolge konzipiert. Gemeinsam mit dem Jüdischen Museum zeichnete er auch für den Katalog verantwortlich. Das Jüdische Museum (Kuratorin: Karen Levitov) seinerseits organisierte die Schau thematisch und bettete sie in einen historischen Kontext, der dem Publikum auch die Nazi Ausschreitungen des Zweiten Weltkrieges und die immer noch aktuelle Problematik der Enteignung und Rückerstattung vermitteln soll. Daniela Nittenberg, N. Y.
Unter den Sponsoren sind unter anderem die Rechtsanwaltskanzlei Herrick and Feinstein, LLP und die Claims Conference hervorzuheben. Die Ausstellung wurde weiters im McNay Art Museum, San Antonio, in Texas, im Norton Museum of Art, West Palm Beach in Florida und im Contemporary Jewish Museum, San Francisco in Kalifornien gezeigt.
Der Regisseur Dany Levy hat nach den mehrfach ausgezeichneten Filmen „Alles auf Zucker!" und „Mein Führer" mit seinem jüngsten Werk, „Das Leben ist zu lang", ein persönliches Statement abgegeben. Mit einem Film über den Film, über Sein und Schein, den jüdischen Humor und die Pechvögel, die uns zum Lachen und Mitfühlen bringen.
Regisseur Levy (Dani Levy) mit
Regisseur Seliger (Markus Hering
Alfi Seliger ist der geborene Nebbich. Was er anfasst, zerbricht, was er vorhat, misslingt. Seine halbwüchsigen Kinder finden ihn lächerlich bis peinlich; seine Frau denkt daran, ihn zu verlassen, seine Bank geht pleite, sein Drehbuch will auch keiner haben und die Darmspiegelung ergibt sicher, dass der Krebs bereits wuchert. Alfi fühlt sich von Freund und Feind verfolgt und als ihm der Therapeut rät, seinem schäbigen Leben doch endlich ein Ende zu setzen, inszeniert er seinen Abgang. Aber was ein echter Nebbich ist, dem misslingt auch der Tod. Und der echte Regisseur des Films, Dani Levy, lässt ihn ohnehin nicht untergehen. Wie im Film eben, wendet sich unverhofft alles zum Guten. Der Nebbich ist am Ende wieder obenauf und die ZuschauerInnen wissen, sie haben einen überaus witzigen, wahren und tiefsinnigen Film gesehen.
Die Komödie ist vielschichtig, ein Film über den Film und natürlich auch ein Film im Film. „Das ist richtig, es ist gleichzeitig eine Liebeserklärung an den Film und eine Auseinandersetzung damit. Einerseits darüber, wie stark der Film unser Leben beeinflusst und auch über die, ich sag mal, autoritäre Funktion, die der Film für den Zuschauer haben kann, indem er sich als Wahrheit verkauft. Viele Filme wollen den Zuschauer in eine Welt entführen, in der er seine kritischen Sinne ausschaltet und der Geschichte quasi auf dem Rücken liegend folgt. Das wollte ich mit meinem Film durchbrechen. Wenn ich einen Film mache, der sich auch mit Film auseinandersetzt, und der gleichzeitig auch über das Leben erzählt, dann ist es leichter, die Grenzen auszumachen und Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden."
Allerdings, die Verwirrung und das Hineinpurzeln in die Filmgeschichte hat Levy natürlich bestens dosiert. Die ZuschauerInnen stürzen von einer Realität in die andere und finden erst am Filmende aus dem kunstvoll gebauten Labyrinth wieder heraus. „Das ist doch im Leben auch so. Wir kommen von einer Sekunde auf die andere in eine neue Situation, da tut sich ein Loch auf und wir sind in einem anderen Gefühlszustand oder eben einer anderen Realität."
Der Kinofilm ist für Dani Levy „wie eine Achterbahn. Da kannst du auch nicht aussteigen. Du bist ausgeliefert“. Das ist für ihn der wesentliche Unterschied zum Fernsehen. „Da hast du die Kontrolle, kannst weggehen oder abdrehen."
Markus Hering als Alfi Seliger
Die Hauptfigur, der patscherte Regisseur und Drehbuchautor Alfi Seliger, ist eine Witzfigur, zugleich auch Jude. Ist das nicht denunzierend? „Nee, ich liebe die Figur sehr. Ich finde ja, dass Verlierer oft unsere Herzen mehr haben als die Menschen, die alles auf die Reihe kriegen. Die Verlierer sind natürlich die besten Komödienfiguren. Und er ist am Schluss der Sieger, das muss man schon auch sehen. Er hat sein Leben in den Griff gekriegt, wird ein besserer Vater und er besiegt sogar seinen Schöpfer – mich." Die Begegnung des Regisseurs Seliger mit dem Regisseur Levy muss man gesehen haben. „Der Film ist ja wie eine Zwiebel. Dass die Figur jüdisch ist, wird ja gar nicht so nach außen getragen. Er ist jüdisch, weil er eine sehr jüdische Art hat auf die Welt zu schauen und sein Leben, sagen wir mal, durch eine jüdische Brille sieht. Er hat das Verzweifelte eines Juden, er ist tragisch-komisch, er ist wahrheitssuchend, er ist einer, der es wissen will, er hat ein subversives Filmprojekt, also er ist ein Querdenker, er ist für mich durch und durch eigentlich eine Kämpfernatur. Er ist kein Ekel, er ist für mich unglaublich liebenswert."
Gibt es das typisch Jüdische? „Das ist eine schwere Frage. Ich glaube ja nicht an so eine Typologie und wir haben verstanden, dass sich nicht alles auf einen Nenner reduzieren lässt. Das Leben ist keine gerade Straße, sondern ein verzweigtes Straßennetz und die Entscheidungen, die wir täglich fällen, geben uns die Richtung an. Die jüdische Kultur, denke ich, schaut auf alles mit sehr emotionalem und psychoanalytischem Blick. Vielleicht sogar mit therapeutischem. Wir umarmen das Widersprüchliche, manchmal sogar das Kranke, das Schattenhafte, das was weh tut, die Wunde gehört zum Leben. Das sind alles Dinge, die, wie ich glaube, die jüdische Kultur versucht mit Humor zu heilen." Wie definiert Dani Levy „jüdischen Humor? Er versucht es: „Sehr selbstironisch, er lacht gern über sich selbst, damit lädt er auch andere ein, über sich zu lachen. Er ist subversiv, misstraut Autoritäten und auch der Tradition der Gewohnheit. Jüdischer Humor macht sich für den individuellen Ausdruck stark und traut sich auch über das Traurige zu lachen. Komödie und Tragödie sind ja ein Geschwisterpaar. Aber das ist ja nun schon common sense, das haben die Juden nicht für sich gepachtet."
Dani Levy ist 1957 in Basel geboren, vagabundierte durch Amerika und lebt heute mit Frau und Kindern in Berlin. Worauf basiert seine Identität, ist er Schweizer oder ein Schweizer Jude, Deutscher oder einfach Jude? „Genau. Das ist es. Einfach Jude. Ich bin in der Schweiz groß geworden, ich liebe die Schweiz auch, würde da aber nicht mehr wohnen wollen. Es ist mir zu eng, zu spießig, ein bisschen zu autistisch. Ich wohne gern in Berlin."
Wie ist das mit Wien, mir scheint fast, eng, spießig, autistisch könne man auch über Wien sagen. Da kann Levy nicht zustimmen. „Ich habe eine sehr gute Beziehung zu Wien. Ich habe mich in Wien ja mehrmals verliebt und war sehr lange mit Maria Schrader zusammen und ich habe in Wien mehrere Filme als Schauspieler gedreht. Aber ich habe hier noch nie gelebt. Deshalb kann ich kein wirklich qualifiziertes Urteil abgeben. Aber ich habe Wien immer schon sehr aufgebrochen, auch abgründig und sehr selbstironisch erlebt. Ich finde der Wiener Schmäh hat sehr viel mit dem jüdischen Humor zu tun. Ich hab das Gefühl, dass in Wien auch über das Scheitern, das Übrigbleiben sehr viel gelacht wird." Natürlich könnte er auch in der Schweiz leben, „Aber in Berlin habe ich nun Wurzeln geschlagen, eine Firma gegründet (x-Filme) und eine Familie. Warum ich in Berlin geblieben bin, war diese Leidenschaft, die ich in den 80ern gespürt habe, für eine künstlerische Arbeit zu leben. Das war so schonungslos, gar nicht beamtisch. Das hat mir gefallen. Trotzdem, wenn es eine Konstante gibt, dann würde ich sagen, ich bin Jude. Aus dem Gewand komm’ ich nicht raus. Ich empfinde mich definitiv nicht als Deutscher, die Schweiz hat mich auch nicht so geprägt. Meine Familie hat auch keine Wurzeln in der Schweiz, meine Mutter ist in Berlin geboren, mein Vater in Frankreich, meine Großeltern kommen aus Polen und Frankreich. Ich bin schon so ein Weltbürger, ein Europäer. Aber das, was mich wirklich ausmacht, was in meiner Biografie immer wieder zum Tragen gekommen ist, ist diese spezielle Art auf die Welt zu schauen. Das Jüdische ist das, was mich am meisten auszeichnet. Ich bin ja nicht religiös, meine Kinder sind nicht getauft. Für mich definiert sich das Jüdischsein über die Kultur, nicht über die Religion. Aber ich könnte auch in New York leben oder auch in Wien. Ja, das kann ich mir vorstellen."
Aber der Antisemitismus? „Davon wird in Berlin auch geredet, es ist die Aufgabe der Vertreter der jüdischen Gemeinden davor zu warnen. Wehret den Anfängen, damit schießen sie sich aber ins off. Die moderne Generation ist sich durchaus bewusst, dass das Jüdischsein etwas Schönes ist und dass man auch gemocht wird. Klar, es gibt einen gewachsenen Antisemitismus, sowohl in Österreich wie in Deutschland und der Schweiz. Der wird immer da sein. Den muss man weder weg-negieren noch sich davor fürchten. Das wird immer so sein. Es gibt viele Idioten. Überall gibt es Rassisten und Idioten. Damit will ich mich gar nicht groß aufhalten. Solange mir keiner auf die Fresse haut, gibt es keinen Grund sich aufzuregen."
Das im Jahr 2006 von Benny Bailey in Tel Aviv begründete Projekt „The
Jewish Salons“, ist mittlerweile zu einem internationalen Projekt geworden. Neben
dem Salon Tel Aviv ist Wien, die Heimstätte des „Salon Vienna“,
Amsterdam, Mexico City und Prag nun Teil des Netzwerkes.
Die Geschichte des „Salon Vienna“ beginnt im Mai 2008 in Italien,
als junge Erwachsene auf dem Seminar „Connecting Horizons“ zusammentreffen.
Die Wiener Teilnehmerinnen, Yvonne Feiger und Judith Scheer, lernen den Tel
Aviver Künstler und Kunstmanager Itay Mautner kennen. Sie sind von seinem
Workshop über kontemporäre israelische Kunst begeistert und finden
sich alsbald in einer regen Diskussion über das Vakuum im Wien der Nachkriegszeit
im Bereich zeitgenössisch interpretierter israelischer und jüdischer
Kunst und Kultur – und das vor allem in ihrer Zielgruppe – wieder.
Zurück in Wien arbeiten sie eifrig an der Zusammenstellung eines geeigneten Teams um ihre Vision umzusetzen. Bereits im April 2009 öffnet das Team, Yvonne Feiger, Judith Scheer, Sheri Avraham, Marek Bozuk, Anna Scheer und Yael Salomonowitz mit der Unterstützung von weiteren KünstlerInnen, Alexander Emanuely, Leonhard Gabler, Meirav Elchadef die Pforten des „Salon Vienna“. Der Titel des ersten Events „Bereschit“ (hebr. am Anfang) bringt den zahlreichen BesucherInnen die Genesis „Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Die Erde aber war Irrsal und Wirrsal. Und Gott sah, dass es gut ist.“ durch sechs Installationen näher. Jeder Tag befasst sich mit einem Tag der Schöpfungsgeschichte und am siebten Tag können die BesucherInnen unter dem Motto „people exchange culture“ die Entstehungsgeschichte des „Salon Vienna“ in gemütlicher, von live-musik begleiteter Atmosphäre erfahren.
Im Juni 2009 wird der Erfolg in Stein gemeißelt, als der „Salon Vienna“ in Kooperation mit dem Ost-Klub sich dem zweiten Buch der Torah, Schemot (hebr. Namen) zuwendet. „Schemot“ ist eine moderne Inszenierung des „Shirat HaYam“ bzw. der Ankunft in Freiheit und des Ausdrucks neuer Hoffnungen. Das Event findet zeitgleich mit den Jüdischen Kulturwochen statt und präsentiert Funk’n’stein The Band (Tel Aviv). Das künstlerische Rahmenprogramm beinhaltet Installationen, sowie ein weiteres Konzert zu Miriam’s Lied der Musikerinnen Kathi Winklbauer (vocals) und Tanja Peer (Bass and flute). Die Musikerinnen wenden sich der „weiblichen“ Geschichte in einer Interpretation von Miriam’s Lied zu, während die Musiker Funk’n’stein beinahe Moses’ im Shirat Hayam wiedererlebbar machen. Die Menge tanzt und singt, als wäre das große Meer noch einmal gespalten und durchquert worden.
Die bisherige, durchaus positive Bilanz: Rund 150 Menschen beim ersten und 300 beim zweiten Event, vielfältiges und interessiertes Publikum von 2 – 90 Jahre, Qualität und Freude haben den kulturellen Austausch ermöglicht. Ein forciertes Element dabei: Interaktion – das Publikum soll zum Mitwirkenden werden. Die Veranstalter gehen diesen Weg weiter und bereits jetzt ist klar: Folklore, Hora-Tanzen, Klezmer – das ist das Übliche, was einem in den Sinn kommt, wenn man an jüdische Kultur denkt, sagte Judith Scheer, Obfrau des neuen Kulturvereins, als sie zu Beginn des ersten Events eine Bezirkspolitikerin durch die Kunst-Räume führte. Das sei wichtig und werde nachgefragt. Es gebe aber auch Bedarf an moderner jüdischer Kunst. Im „Salon Vienna“ solle diese einen Platz in der hiesigen jüdischen beziehungsweise Kulturszene finden.“
Herr Bürgermeister Kandel. So begrüßte Gastgeber Hubert Christian Ehalt, Organisator der „Wiener Vorlesungen“, den amerikanischen Nobelpreisträger für Medizin nicht ohne Grund. An zwei aufeinander folgenden Abenden Ende Mai füllte der kleine jüdische Bub vom Kutschkermarkt, wie er sich selbst gern bezeichnet, den Großen Festsaal des Wiener Rathauses. Am zweiten Abend wurde bereits zu Veranstaltungsbeginn niemand mehr hineingelassen, der riesige Saal war überfüllt. Obwohl auch der Quantenphysiker Anton Zeilinger und die deutsche Professorin für Philosophie Cornelia Klinger zu ergänzenden Referaten mit eingeladen waren, war der Abend eigentlich eine One-Man-Show des großen kleinen Mannes, der als Zehnjähriger Wien nicht freiwillig verließ und in Amerika eine wissenschaftliche Weltkarriere machte, die 2000 mit dem Nobelpreis gekrönt wurde.
Seine ersten Jahre in Wien, wo der Vater ein kleines Spielwarengeschäft am Kutschkermarkt hatte, waren dennoch prägend für ihn. Die Initialzündung seiner Forschungen war die Frage, wie Menschen, die sich für Beethoven und Mozart begeistern konnten, zu solcher Brutalität und Grausamkeit fähig waren, wie sie der kleine Erich (das H verlor er erst in Amerika) in Wien nur ansatzweise erleben musste. Seine frühe Emigration im Jahr 1939, gemeinsam mit seinem Bruder Ludwig zu den Großeltern in Amerika (die Eltern konnten nachkommen), ersparte ihm das Ärgste.
Immer wieder kam Kandel in seinem Vortrag über „Biologie und Kultur der Erinnerung. Aktuelle Forschungen über Natur und Kultur des Gedächtnisses“ auf Persönliches, Selbsterlebtes und Erfahrenes, zu sprechen. Nicht zuletzt das macht seine auf höchstem wissenschaftlichen Niveau angesiedelten Referate auch für Laien überaus interessant und verständlich. So erwähnte er nebenbei auch, dass er in Amerika anfänglich eine Jeschiwa besuchte und Geschichte und Literatur in Harvard studierte, bevor er über die Psychiatrie zur Hirnforschung kam.
Nachzulesen ist das im Detail auch in Kandels autobiografischem Band „Auf der Suche nach dem Gedächtnis“ (Siedler-Verlag), der sich im Vorjahr im deutschsprachigen Raum wochenlang auf den Spitzenplätzen der Sachbuch-Bestsellerlisten hielt. Seither ist der Neurobiologe auch ein internationaler „Pop-Star“ der Wissenschaft, Gast in Talkshows, viel reisender Vortragender und „Ezzesgeber“ für allerlei Forschungsprobleme und Fragen. Unter anderem ist Kandel auch im Komitee der geplanten Elite-Uni im niederösterreichischen Gugging, an dessen Spitze der israelische Star-Wissenschaftler Haim Hariri vom Weizmann-Institut steht.
Kandel selbst nannte sich kürzlich einen Don Giovanni der Wissenschaft und meinte damit wohl seine Liebe zur Forschung, sein ungebrochenes Begehren, neue Wege zu beschreiten und den Dingen auf den Grund zu gehen.
Eines der Dinge, die er sich trotz allem nicht erklären kann, ist seine Sehnsucht nach Wien, wie er im englischen Interview auf Deutsch sagt. Deutsch spricht er sich erinnernd, suchend, kindlicher und naiver als das amerikanische Englisch, in dem er eloquentest zu Hause ist.
Diese emotionelle Sehnsucht habe die Verachtung abgelöst, die er früher für das Land hatte, das ihn und seine Eltern entrechtete und vertrieb. Diese Verachtung war auch noch vorhanden, als man ihn als Nobelpreisträger gleichsam wieder für Österreich reklamieren wollte.
Diese Gratulationen aus Österreich wies ich zurück, denn das ist kein österreichischer, sondern ein amerikanisch-jüdischer Nobelpreis, sagte Kandel sehr bestimmend im Gespräch. Aber es gelang anfänglich Klestil und später Heinz Fischer doch, den großen Sohn mit seiner Geburtstadt zu versöhnen. Fischer lud ihn und seine Frau Denise zu einem privaten Abendessen ein und das gefiel mir schon sehr gut, dass der kleine jüdische Bub vom Kutschkermarkt mit dem Präsidenten essen geht, lächelt Kandel verschmitzt. Fischer ermunterte ihn wieder zu kommen und seither wird er überhaupt immer wieder eingeladen, konsultiert und hofiert. Apropos hofiert: Die Gefahr besteht, dass ich ein Hofjude werde, erkennt er klarsichtig. Trotzdem will er sein neues Renommee in der alten Heimat dazu nützen, noch einige radikale, teilweise verrückte Ideen umzusetzen.
So ist es Kandels Vision wieder junge Juden nach Wien zu bringen und ein kulturelles Zusammenleben wie vor dem Krieg zu ermöglichen. Ich glaube, da machen wir Fortschritte, meint er und spielt damit auf seine diesbezüglich gut vernetzte Lobby-Tätigkeit in Wien an. So sollen in der geplanten Elite-Uni Posten für jüdische Wissenschaftler fix eingeplant werden.
Außerdem hab ich noch eine verrücktere Idee. Ich möchte, dass der Karl-Lueger-Ring umbenannt wird. Es stört mich gewaltig, dass die Wiener Universität an einer Adresse angesiedelt ist, die nach dem antisemitischen Bürgermeister benannt ist.
Und natürlich hat Kandel bereits Namensvorschläge. Zum Beispiel Häupl-Ring. Er wird sicher nicht nach Freud benannt werden, aber vielleicht nach jemandem, der kein Jude war, aber viel geleistet hat. Aber man kann eine Menge Zeit mit unsinnigen Dingen vergeuden und ich erkenne, dass diese Idee nahe dran ist.
Im Moment hat er genug vom „Rock-Star-Dasein“ und möchte zurück zu seiner Leidenschaft, der Forschung. Denn hauptberuflich ist der 78-jährige Professor an der Columbia-University mit einem hoch motivierten Team junger Wissenschaftler aus der ganzen Welt dabei, die Geheimnisse von Lernen und Gedächtnis zu ergründen. Das freilich nicht nur platonisch, zur höheren wissenschaftlichen Ehre, sondern auch mit hoffentlich ganz praktischen Konsequenzen für uns alle. Seine eigene von ihm gegründete Biotech-Firma „Memory Pharmaceuticals“ arbeitet seit einigen Jahren an der Entwicklung einer kleinen roten Pille gegen altersbedingten Gedächtnisverlust.
Möge die Übung gelingen!
Buchtipp: Eric Kandel: Auf der Suche nach dem Gedächtnis. Die Entstehung einer neuen Wissenschaft des Geistes. Übersetzt von Hainer Kober. Siedler, 2006. € 25,70 (Die Paperbackausgabe erscheint im Oktober 2007, Pantheon, € 15,40).
Der kleine Vorarlberger Ort Hohenems hat eine lange jüdische Tradition. Es ist die Geschichte der einzigen jüdischen Gemeinde des westlichsten Bundeslandes. Es gab alles, was zu einem jüdischen Landstädtchen gehört: Synagoge, Schule und Armenhaus, Wohnbauten und Fabrikantenvillen, Mikwe und Friedhof.
Das jüdische Museum in Hohenems
1617 erlaubte Reichsgraf Caspar den Juden die Niederlassung. Unter seinem Nachfolger kam es zu den üblichen Erpressungen, Verfolgungen und schließlich Vertreibungen. Als aber 1759 die Grafschaft an Österreich fiel, bequemte man sich 1680 dazu, die Rückkehr anzubieten. Das akzeptierten die Juden erst 1687, aber dann ging es stetig aufwärts.
1797 richtete der aus Augsburg stammende Herz Kitzinger das erste Kaffeehaus Vorarlbergs, das „Kaffeehaus Kitzinger“ ein, das bald Treffpunkt für alle möglichen israelitischen Geselligkeitsvereine wurde. Mitte des 19. Jahrhunderts lebten in Hohenems 500 Juden, ein Sechstel der Bevölkerung im Ort.
Die Staatsgrundgesetze von 1867 und die damit verbundene freie Wahl des Wohnorts für Juden führten dann nicht zu einer weiteren Entwicklung, sondern vielmehr zu einer starken Abwanderung in umliegende Städte.
1935 zählte dann die jüdische Gemeinde nur noch 35 Mitglieder. Nach dem Anschluss blieb auch den wenigen Verbliebenen das Schicksal aller Juden nicht erspart.
Immerhin konnte dank eines unbürokratischen Schweizer Polizeihauptmanns eine nicht unbeträchtliche Zahl von Juden in die benachbarte Schweiz – dort spricht man gerne von Tausenden – fliehen, bis dann auch diese Grenze endgültig dicht gemacht wurde. 1940 erfolgte schließlich die Zwangsauflösung der Kultusgemeinde und es begannen die Deportationen in Konzentrations- und Vernichtungslager. Als letzte Jüdin wurde Frieda Nagelberg am 25. Februar 1942 aus dem Gebiet Vorarlberg deportiert.
Da es in Hohenems während der Pogromnacht 1938 zu keinen Ausschreitungen und Zerstörungen gekommen war, sind erheblich mehr Reste des Judentums erhalten geblieben als anderswo in Österreich.
Freilich, die 1772 vom Barockbaumeister Peter Bein errichtete Synagoge wurde bis in die fünfziger Jahre als Feuerwehrhaus mißbraucht. Erst 2004 wurde sie nach einem sorgsamen Umbau zu einer Musikschule und einem Kulturzentrum wieder einer würdigen Bestimmung übergeben.
Da im Vorarlberger Landesarchivs noch zahlreiche Dokumente zur jüdischen Geschichte Vorarlbergs zu erwarten und auszuwerten waren, kam es zu Gründung des Vereins Jüdisches Museum Hohenems und schließlich des Museums, das nach langen Überlegungen in der Villa von Clara Heimann-Rosenthal untergebracht wurde. In der Gründerzeit war ein jüdisches Patriziat entstanden, das seinen Erfolg und sein kulturelles Selbstwertgefühl dem Zeitgeist gemäß in einer attraktiven Wohngestaltung zum Ausdruck brachte.
So kam es zu sehenswerten Bauten, wie die Villa des Baumwollfabrikanten Anton Rosenthal. Sie überlebte den 2. Weltkrieg, wurde 1991 restauriert und beherbergte dann das Museum. Sie vermittelte vor allem durch die historische Möblierung einen stimmungsvollen Eindruck vom damaligen Stilgefühl des wohlhabenden Großbürgertums.
Bald übertraf die Anzahl der Besucher, die aus Deutschland, der Schweiz, auch aus Übersee kamen, alle Erwartungen. Zudem erhielt das kleine Museum von Hohenemser Juden aus aller Welt, von verschiedenen amtlichen Stellen Vorarlbergs, unter anderem auch vom Bezirksgericht Feldkirch, wo „nicht bewertbarer jüdischer Kirchenschmuck“ im Depot dahindämmerte, relevante Objekte und Dokumente zur Verfügung gestellt.
Dies ließ eine neue und umfassende Präsentation wünschenswert erscheinen. Deshalb entschloss sich der Direktor des Museums, Hanno Loewy, die Dauerausstellung zu aktualisieren Die Architekten Steinmayr und Mascher, die schon die Wiener Albertina umgebaut hatten, übernahmen die Neugestaltung.
Die wertvollen Bau- und Dekorationselemente blieben weitgehend unverstellt, das Interieur wurde den heutigen museologischen Standards entsprechend gestaltet.
Der erste Stock gibt ein Panorama von den Anfängen jüdischer Existenz, die Ansiedlung von Kaufleuten im alemannischen Gebiet bis hin zur Aufklärung, Emanzipation und versuchten Integration. Exponate zu den Lebens- und Jahreszyklen, dem Aufeinandertreffen von Alltag, Tradition und Fortschritt begleiten den historischen Rundgang. Hier begegnet man berühmten Hohenemsern wie Stefan Zweig, Jean Améry, Salomon Sulzer, den Begründer der modernen Synagogenmusik, der auch von der Christengemeinde durch Benennung einer Straße geehrt wurde. Aron Tänzer (Rabbiner von 1896 bis 1905) den unvergessen Geschichtsschreiber der Hohenemser Judengemeinde.
Ukrainischer Toraschmuck,
vermutlich mit jüdischen Flüchtlingen
nach Vorarlberg gekommen
Das Dachgeschoss ist dem 20. Jahrhundert gewidmet, beschäftigt sich mit jüdischer Gegenwart in Europa, der Diaspora und Israel mit Hohenems als Fluchtstation und den unterschiedlichen Schicksalen der letzten Gemeindemitglieder.
Dokumentiert wird der Neubeginn der Überlebenden nach 1945 (Hohenems war ein Auffanglager für jüdische Displaced Persons), der Streit um Erinnern und Nicht-Erinnern, Fragen der europäischen Einwanderungsgesellschaft.
Erst am Schluss des Rundgangs finden sich die sonst in jüdischen Museen zentralen Ritualgegenstände: silberne Thora-Aufsätze, Chanukka-Leuchter und Schabbat-Becher.
Moderne Audioguides und Videostationen in deutscher, englischer und französischer Sprache ermöglichen ein vertieftes Verständnis der Eindrücke. Für Kinder und Jugendliche gibt es altersgemäße Zugänge.
Neben dem Ausstellungsprogramm pflegt das Museum Beziehungen zu den Nachkommen jüdischer Familien aus Hohenems in aller Welt, die auch immer wieder durch Beiträge, Dokumente, Ritualien und Erinnerungen den Bestand bereichern.
Ein weiterer Link zum lebenden Judentum besteht darin, dass im Museum Religionsunterricht für israelitische Kinder gegeben wird, den die Gemeinde in Innsbruck organisiert: Vorarlberg und Tirol sind in einer Kultusgemeinde, deren Sitz Innsbruck ist, zusammengefasst. In Vorarlberg leben noch ca. 30 Juden. In Hohenems einer. Von den ehemaligen Gemeindemitgliedern kehrte niemand nach Hohenems zurück.
Heimo Kellner
Die Herausgeberinnen Angelika Hagen
und Joanna Nittenberg inmitten des dicht
gedrängten Publikums bei der Buchpräsentation
Flucht in die Freiheit ist ein Buch, das bewegt. Der deutsche Titel entstand aus dem ursprünglichen Ansatz und Arbeitstitel „Challenge by Escape“. Dieser Ausdruck spiegelt treffend die Situation der österreichischen Juden wider, die trotz Verfolgung und Vertreibung in der Flucht eine Herausforderung und Chancen zum Überleben und zur Weiterentwicklung fanden. Die Flucht führte in die Freiheit, war oft ein Weg zu sich selbst und in die eigentliche Heimat: Weit mehr als nur ein „Exil“ oder Zufluchtsort bedeutete Palästina/Erez Israel die ursprüngliche Heimat, die eng mit jüdischer Geschichte und Religion verbunden ist.
Flucht in die Freiheit ist ein Buch über das Leben: Österreichische Juden erzählen ihre Lebensgeschichten – von der Kindheit in Österreich bis zur Gegenwart in Israel. Sie hatten die Fähigkeit, neue tragfähige Bindungen einzugehen und erlebten ihre Vertreibung trotz widrigster äußerer Umstände nichtnur als passiv erlittenes Schicksal, sondern als einen Weggang und neuen Weg, den sie gestalten konnten und der sie zu Akteuren werden ließ. In diesen Menschen verkörpert sich auf einzigartige Weise österreichische und israelische Geschichte. Diese wurde in den Erzählungen zur Sprache gebracht und zusätzlich aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven – Geschichte, Soziologie, Politikwissenschaften und Psychologie – reflektiert. Auf diese Weise entsteht eine ganzheitliche Sicht, die ein neues und tieferes Verständnis der Geschichte und der Beziehungen zwischen Österreich und Israel ermöglicht. Flucht in die Freiheit erscheint nun genau 50 Jahre nach Aufnahme der diplomatischen Beziehungen.
Ari Rath moderierte die festliche Pr‰sentation
Die Beziehungen zwischen Österreich und Israel sind seit über einem Jahrhundert in besonders ambivalenter Weise miteinander verbunden. Zunächst hat der Staat Israel gewissermaßen in Österreich seinen Ausgang genommen: Theodor Herzl, der Gründer der jüdischen Nationalbewegung und der Idee des Judenstaates begann sein politisches Wirken am Ende des 19. Jahrhunderts in Wien. Gleichzeitig gab es einen schleichenden und immer aggressiveren Antisemitismus, der schließlich in der Shoah kulminierte. Trotz allem entschlossen sich die Republik Österreich und der Staat Israel 1956 miteinander diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Es dauerte weitere drei Jahre bis die ersten Botschafter ernannt wurden. Auch hier macht der Blick in die Geschichte die Ambivalenz zwischen Antisemitismus und Vertrauen deutlich.
Flucht in die Freiheit ist ein Buch über die Zukunft. Weil es die Vergangenheit erinnert und zur Sprache bringt.
Die Menschen, die hier ihr Leben erzählen – stellvertretend für viele andere österreichische Juden – machen unsere Geschichte lebendig und geben mit ihrer Stärke, ihrem Mut und ihrer Liebe Hoffnung für die Zukunft. Die über dreißig Gespräche mit teils sehr prominenten Persönlichkeiten wie Teddy Kollek, Asher Ben Nathan, Moshe Jahoda, Judith Hübner Gershon Shaked und noch einigen mehr führten Roberta Breiter. Chana Bat Dov, Angelika Hagen, Simone Dinah Hartmann, Joanna Nittenberg und Gil Yaron. Ergänzt werden die Lebensgeschichten durch Beiträge von Anton Pelinka, Brigitte Halbmayr, Doron Rabinovici, Felix de Mendelsohn, Ari Rath, Evelyn Adunka, Gabriele Anderl und Yechiam Weitz.
Die Buchpräsentation fand mit promenten Gästen am 13. September im Festsaal der BA-CA, in der Wiener Renngasse statt. Durch den Abend führte Ari Rath, Dagmar Schwarz las Auszüge, das Pollak-Ensemble spielt Klezmer-Musik. Zu Ehren der Herausgeberinnen, Autorinnen und Autoren wurde danach noch gutgelaunt gefeiert.
Angelika Hagen, Joanna Nittenberg (Hrsg.): Flucht in die Freiheit, Edition INW 2006. Euro 35,00
Nach der erfolgreichen und vielfach ausgezeichneten deutsch-jüdischen Komödie „Alles auf Zucker“ präsentiert der in Deutschland lebende Schweizer Regisseur Dani Levy mit „Mein Führer“ eine provokante Satire über Adolf Hitler.
Der Inhalt ist schnell erzählt: Dezember 1944, noch einmal soll der Führer mit einer kämpferischen Rede die Massen mobilisieren. Doch der ist am Ende, krank und depressiv meidet er die Öffentlichkeit. Darum lässt Goebbels Hitlers ehemaligen Schauspiellehrer Adolf Grünbaum, exzellent dargestellt von Ulrich Mühe, aus dem KZ Sachsenhausen in die Reichskanzlei bringen, um Hitler wieder auf Trab zu bringen. Der Lernstunden werden zum Selbsterfahrungstrip.
Levy zeigt Hitler als erbärmliche Kreatur, vielleicht bemitleidenswert, aber keineswegs harmlos. Der Film spricht eine drastische Sprache, unterhält (und lässt schaudern) mit subversivem Humor, provozierend und frech. Nur logisch, dass „Mein Führer“ schon vor der Kinopremiere Anlass zu heftigen Kontroversen führte, ob über Hitler gelacht werden darf.
Filmpreisträger Dani Levy
INW: Sie sind für „Alles auf Zucker“ mit Preisen nahezu überhäuft worden, wie fühlen Sie sich?
Levy: Ich bin ein bescheidener Mensch und stelle mir die Pokale nicht auf. Ruhm ist so vergänglich und meist schneller vergessen als eine Niederlage. Obwohl das Hochkommen wesentlich länger dauert. Ich denke mir, meine Stimme ist einfach gehört worden. Die Leute lieben es eben, zu lachen. Humor ist ein Vehikel, nicht unbedingt das bessere, aber eine wichtige Ergänzung. Meine ‚tragischen’ Filme finde ich auch packend und habe es geliebt, dass die Zuschauer mitgegangen sind.
Darf über jedes Thema gelacht werden? Sogar über Hitler?
‚Mein Hitler’ tanzt an ganz anderen Abgründen, die Belastung für die Zuschauer ist größer. Doch ich schreibe die Geschichte nicht um, jeder weiß was Hitler getan hat und das kommt auch im Film deutlich vor. Ich gaukle keine Harmlosigkeit vor, ich zeige Hitler als armes Würstchen, eine Annahme, die im Sinne der Komödie erlaubt ist, denke ich, doch er wird nichts entschuldigt. Humor erweitert die Grenzen und Lachen befreit. Ich finde es wichtig, das moralische Tabus gebrochen werden, das Unerlaubte möglich wird.
Aber ich achte sehr genau darauf, dass sich die Ebenen nicht vermischen. Grünbaums Welt, die andere Welt, wird nicht ironisiert, über Grünbaum wird nicht gelacht. Gezielt gelacht soll nur über das NS-Desaster werden. Grünbaum, der Jude, ist die Identifikationsfigur, er macht seine Sache gut. Man geht mit ihm durch den Film und versteht auch die Tödlichkeit, in der er steckt. Das Grauen ist vorhanden.
Noch einmal: Darf man trotzdem lachen?
Hitler war ein Mensch. Wir lernen nichts, wenn wir das System dämonisieren, es abstrahieren. Ich halte es für ein Vorurteil, dass es nicht geht, einen Massenmörder zur Komödienfigur zu machen. Eigentlich ist das eine philosophische Frage, ob man über den Schrecken Witze machen darf, doch ich bin Filmregisseur und ich bin der Meinung, dass der Film sich korrekt verhält. Ich will nichts weniger, als eine Form der Entschuldigung in das System hinein zu bringen. Ich will demontieren, jede Größe heraus bringen, sie eben der Lächerlichkeit preis geben, ohne zu verniedlichen. Die Komödie darf provozieren, die Zuschauer herausfordern, verunsichern. Das führt zu einem Lernprozess.
Also weniger eine korrekte Aufarbeitung wie im Film „Der Untergang“ mit Bruno Ganz?
Dieser Film hat einen so bemühten, distanzierten Blick auf die Geschichte gerichtet, die Zuschauer mussten sich nicht bewegen. Es ist alles klar: hier Gut, dort Böse. ‚Schindlers Liste’ ist auch so ein Beispiel. Hollywood gibt da vor, die Wahrheit zu erzählen, doch die Wahrheit kann nicht erzählt werden. Das Phänomen Holocaust ist nicht abbildbar. Darf auch nicht abbildbar sein. Doch mit anderen Mitteln, mit mehr Freiheit, mit skurriler Ironie müsste es gehen. Deshalb ist mir auch ‚Das Leben ist schön’ von Roberto Benigni näher, obwohl ich zuerst verunsichert und sogar verärgert war. Aber nachdem ich darüber geschlafen habe, war mir klar, was für einen mutigen Schritt in ein Tabuland Benigni da gewagt hat.
Mit dem Entsetzen Scherz zu treiben, wird gern als Bestandteil jüdischen Humors gesehen.
Es stimmt schon, dass wir Juden eine bestimmte Form von Humor haben. Die subversive Dialektik, das Umdrehen der Wertigkeiten, das liegt mir auch. Der Schmerz, die Lüge, das Verdrängt, das sind ebenfalls Bestandteile des jüdischen Humors. Aber auch das Humanistische, die Empathie, das Gegenbild zur Unmenschlichkeit, das ist kulturelles Erbe. Es ist schon möglich, dass ich als Jude einen größeren Freiraum habe, doch ich möchte nicht als eine Art Hofnarr gesehen werden, der alles darf, was andere nicht dürfen. Ich will keine Sonderstellung. Ich bin ein Schweizer, ein Jude, der diesen Film gemacht hat. Aber jeder andere hätte ihn auch machen können. Und wie wir bei ‚Alles auf Zucker’ gesehen haben, wird der Humor auch von nichtjüdischen Zuschauern verstanden.
Schon im Gehen betont Levy noch einmal: Hitler wird nicht entschuldigt, es gibt eine Erklärung, doch keine Entschuldigung und der ganze Film hat nicht nur mit Hitler zu tun sondern auch mit einer moralischen Aufarbeitung der Zeit.
Joanna Nittenberg,
Stadtrat Mailath-Pokorny
Im Rahmen einer würdevollen Feier erhielt Dr. Joanna Nittenberg, Herausgeberin und Chefredakteurin der Illustrierten Neuen Welt, am 19. Jänner das Goldene Verdienstzeichen des Landes Wien. Bei der Überreichung würdigte Stadtrat Dr. Andreas Mailath-Pokorny die Bedeutung der Arbeit Johanna Nittenbergs als unverzichtbaren Beitrag zur heutigen jüdischen Kultur in Wien. Die heftig akklamierte Laudatio wurde von Univ.-Prof. Dr. Anton Pelinka gehalten. Er hob den unermüdlichen Einsatz und das politische Engagement Nittenbergs hervor:
Den publizistische Kampf gegen den Ungeist führt Joanna Nittenberg nicht sosehr im eigenen Interesse, auch nicht sosehr im Interesse der Jüdinnen und Juden dieses Landes. Sie kämpft diesen Kampf auch und vor allem im Interesse Österreichs; im Interesse der Demokratiequalität in diesem Land; im Interesse von Österreichs Europa- und Weltoffenheit. Die Auseinandersetzung mit dem österreichischen Antisemitismus ist zuallererst eine Sache Österreichs – und zwar insbesondere des nicht-jüdischen Österreich.
Den gesamten Wortlaut der nicht nur für den Kreis der in der Feierstunde Anwesenden interessanten und relevanten Rede Anton Pelinkas finden Sie in der nächsten Ausgabe der Illustrierten Neuen Welt.
Joanna Nittenberg bekannte sich in ihrer Dankesrede zur Abschicht, seit mehr als dreißig Jahren mit ihrer Arbeit eine Brücke zwischen der jüdischen und nichtjüdischen Welt, zwischen Österreich und Israel bauen zu wollen. Damit unterstreicht sie auch das Motto der Illustrierten Neuen Welt : Mehr Toleranz durch mehr Information.
Persönlichkeiten aus Kultur, Wirtschaft und Politik nahmen an der Feier im Roten Salon des Wiener Rathauses teil. Viele von ihnen sind als MitarbeiterInnen, UnterstützerInnen und FreundInnen der Illustrierten Neuen Welt am Erfolg und dem Bestand der Zeitung beteiligt.
Freunde und Freundinnen, Mitstreiterinnen und Mitstreiter, Leser und Leserinnen, kurz alle, die mit Joanna Nittenberg feiern wollten, um ihrer Freude über die Ehrung Ausdruck zu verleihen, waren am Sonntag, 23. Jänner 2005 zu einem Fest ins Ensemble Theater am Petersplatz geladen.
Nittenberg mit Doron Rabinovici und
Verdienstzeichen
Eine bunte Mischung aus allen Bereichen des öffentichen und privaten Lebens fand sich zu einer schier unüberschaubaren Gästeschar zusammen. Gesehen wurden unter vielen anderen: Paul Lendvai, Georg Hoffmann-Ostenhof, Wolfgang Hutter, Walter Schmögner, Franz Ringel, Heinz Unger, Rudolf Scholten, Beppo Mauhart, Therezija Stoisits, Bernd Marin, Felix de Mendelssohn, Shmuel Barzilai, Gerhard Bronner, Elfriede Gerstl, Reinhold Knoll, Gerhard Ruiss, Doron Rabinovici, Arlette Leupold-Löwenthal, Hans Paul Lendvai, Georg Hoffmann-Ostenhof, Wolfgang Hutter, Walter Schmögner, Franz Ringel, Heinz Unger, Rudolf Scholten, Beppo Mauhart, Therezija Stoisits, Bernd Marin, Felix de Mendelssohn, Shmuel Barzilai, Gerhard Bronner, Elfriede Gerstl, Reinhold Knoll, Gerhard Ruiss, Doron Rabinovici, Arlette Leupold-Löwenthal, Hans Veigl …
Durch das Programm, mit zahlreichen Laudationes und künstlerischen Darbietungen führte Gerhard Ruis; Mandy's Mischpoche sorgte für die musikalische Unterhaltung.
Das Fest dauerte bis in die frühen Morgenstunden.
Die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche der letzten Jahrzehnte in Europa markieren das Ende der Nachkriegsordnung. Im gemeinsamen Suchen nach einem Ethos im Haus Europa hat dies auch Konsequenzen für eine Reflexion über den Ort des jüdischen Denkens in der Europäischen Geistesgeschichte. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Shoah wird es immer deutlicher, dass wir über das verlorene jüdische Erbe in Europa nicht mehr allein unter den Stichworten „Opfer“ und „Täter“ reden können, sondern weit umfassender den jüdischen Beitrag zur europäischen Geistesgeschichte bewusst zu machen und zu bedenken haben.
Die Reihe 100 Jahre jüdische Denker will neben den öffentlichen Debatten bezüglich Gedenkfeierlichkeiten, Erinnerungsgesten und einem angemessenen kollektiven Gedächtnis die jüdischen Denker in den Mittelpunkt rücken – an den Punkt, wo Geschichte und Biografie sich kreuzen, wo die historischen Ereignisse ihr Leben als Menschen und Juden radikal änderten, Ereignisse, die ihr Denken und Wirken geprägt haben und bis in unsere Zeit weiterwirken.
Es stellt sich heraus, dass eine große Zahl dieser um die Jahrhundertwende geborenen Denker einen wichtigen Stellenwert in der gegenwärtigen geistesgeschichtlichen Debatte einnehmen. Zu ihnen gehören zum Beispiel Viktor Frankl, Elias Canetti, Manès Sperber, Arthur Koestler, alle 1905 geboren, wie auch Emmanuel Lévinas und Hannah Arendt, geboren 1906. Diese Rubrik ist ihnen und vielen anderen gewidmet.
INW Februar / März 2006: Manès Sperber
INW April / Mai 2006: Emmanuel Lévinas
INW Juni / August 2006: Martin Buber
INW September / November 2006: Hannah Arendt
INW Dezember 06/ Jänner 2007: Hans Jonas
INW Februar / März 2007: Franz Rosenzweig
INW September / Oktober 2007: Franz Kafka
INW April / Mai 2008: Rav Kook
INW Juni / August 2008: Arnold Schönberg
INW September /November 2008: Edmond Jabès
INW Februar / April 2009: Leo Schestow
INW September / November 2009: Herman Cohen
INW Februar / April 2010: Ernst Cassirer
INW August / September 2010: Die fünf Bücher der Psalmen als Brücke zu den fünf Büchern Moses
Das schwarze Auge, Selbstporträt
Anlässlich des 90. Geburtstages zeigte die Galerie Kovacek Bilder von Edith Kramer, einer in Österreich zu wenig bekannten Künstlerin. Mit dem von ihr vertretenem Realismus trifft sie den Nerv unserer Zeit, hat doch diese Kunstströmung gegenwärtig bei uns wieder Hochkonjunktur. Edith Kramer ist nicht nur Malerin, sie gilt als Pionierin der Kunsttherapie. Sie hat unterrichtet, mehrere Bücher geschrieben und Vorträge gehalten.
Edith Kramer wurde am 29. August 1916 in Wien als Tochter von Richard und Josefine Kramer (geb. Neumann), geboren. Ihr Onkel war der Lyriker Theodor Kramer und ihre Tante die Schauspielerin Elisabeth Neumann-Viertel. Die Ehe der Eltern bestand viele Jahre nur aus einem eher losen Kontakt. Dadurch wuchs die Künstlerin bei ihrer Mutter und ihrer Tante, die in erster Ehe mit dem Psychoanalytiker und Pädagogen Siegfried Bernfeld verheiratet war, auf. Ein Haus am Grundlsee, das Elisabeth Neumann als Hochzeitsgeschenk von ihrem Vater bekam, wurde zum Sommer-Treffpunkt für Intellektuelle, KünstlerInnen, WissenschafterInnen, SchauspielerInnen, PolitikerInnen und JournalisteInnen. Die sogenannten Linksfreudianer um Bernfeld trafen sich somit wenige Kilometer entfernt vom Erholungsort, an dem sich der Vater der Psychoanalyse Sigmund Freud auf Sommerfrische aufhielt.
Bereits als fünfjährige erhielt Edith Kramer den ersten Zeichenunterricht bei Trude Hammerschlag, einer Franz Cizek-Schülerin. Die Familie zog aber ein Jahr später nach Berlin, wo das Mädchen das Landschulheim Letzlingen besuchte. 1929 nach Wien zurückgekehrt, wurde sie Schülerin der Schwarzwaldschule, die von Eugenie Schwarzwald 1901 gegründet wurde und in der erstmals Mädchen maturieren konnten. Kramer nahm wiederum den Unterricht bei Hammerschlag auf und belegte Kurse bei der Bauhaus-Künstlerin und Kunstpädagogin Friedl Dicker. Vermutlich beeinflusste deren Kenntnis über die Zeichentherapie für Kinder auch Kramers Interesse daran.
Stilleben mit Maske, 1985
Nach der Matura folgte Edith Kramer der aufgrund ihrer kommunistischen Aktivitäten nach Prag geflüchteten Dicker. Von dort aus pendelte sie nach Wien, um bei Fritz Wotruba das Modellieren zu lernen. Ab 1935 begann Kramer bei Annie Reich eine Analyse und besuchte die psychoanalytisch-pädagogische Arbeitsgemeinschaft von Steff Bornstein. 1937 beging ihre Mutter Josefa Kramer-Neumann Selbstmord. Daraufhin emigrierte die Familie sukzessive nach Amerika – Edith Kramer gelangte mit einem Schiff von Danzig nach New York. Kramer fand eine Arbeit als Handwerkslehrerin in „The Little Red Schoos Hose” in Greenwich Village und setzte ihre Psychoanalyse bei der ebenfalls geflüchteten Annie Reich fort.
1948 kehrte ihre Tante mit ihrem zweiten Ehemann Berthold Viertel nach Österreich zurück. Edith Kramer begleitete sie und bereiste auch England und Frankreich, wohnte aber weiterhin in New York und gab sich ihren zwei Leidenschaften, der Malerei und der Therapie, hin. Sie schrieb Bücher, wie „Art Therapy in a Children’s Community” und „Art as Therapy with Children” – letzteres wurde in sieben Sprachen übersetzt und gilt nach wie vor als Standardwerk für KunsttherapeutInnen. Kramer arbeitete Kunsttherapieprogramme für psychisch gestörte Kinder aus den Slums aus. Auch für Krankenhäuser entwickelte sie Programme. Durch ihre Lehrtätigkeit an Universitäten und Ausstellungen eigener Werke machte sie sich in den Staaten einen Namen.
Das Hauptgewicht der Arbeit Edith Kramers liegt auf der heilenden Wirkung der Kunst bzw. des Kunstschaffens – im Unterschied zu jener Kunsttherapie, bei der die bildnerischen Produkte des Patienten in erster Linie als Hilfsmittel in der Psychotherapie dient. Bewusst tritt Kramer als Kunsttherapeutin auf, nicht als Psychotherapeutin.
Union Square Statiion-14th Street, NY, 1992
Nach dem Tod ihrer Tante erbte sie deren Haus am Grundlsee. Die Künstlerin verbringt nun die Wintermonate in New York und die Sommermonate in diesem Haus bzw. in einer Almhütte im Eibl. Obwohl sie das Haus am Grundlsee besitzt, malt sie in der Hütte fernab jeglicher Zivilisation ohne elektrisches Licht, Wasser und Telefon. Zu ihrem 80. Geburtstag erhielt Edith Kramer im Rahmen des „Weltkongresses für Psychotherapie” das Silberne Ehrenkreuz der Stadt Wien verliehen, und 2003 bekam sie das Große goldene Verdienstkreuz des Landes Steiermark.
In ihren gegenständlichen, zu Beginn leicht expressiven, später fast realistischen Bildern setzt sich die Künstlerin mit ihrer Umwelt auseinander und malt Stilleben, Stadt- und Landansichten, Porträts, Selbstporträts und Eindrücke ihrer Umgebung, wie beispielsweise Szenen aus der New Yorker U-Bahn. Schonungslos offen zeigt sie graffitibeschmierte U-Bahnwände und die New Yorker StadtbewohnerInnen. In einem Bild ist ein auf der Bank ausgestreckt Schlafender dargestellt. Neben den weitschweifenden Landschaftsbildern rund um den Gundlsee und New Yorker Stadtbildern zeigen die Bilder, die in ihrer Wohnung entstehen einen knappen Ausschnitt auf beispielsweise Objekte vor einem Fenster, die mit dem Hintergrund, der Stadt, korrespondieren. In einem um 1990 entstandenen Stilleben am Fenster befinden sich Blütenzweige in verschiedenen Behältern. Hinter dem Fensterrahmen türmt sich ein rötliches Gebäude mit Fenstern auf und fängt als Hintergrund die Szene auf. In ihren Selbstporträts blickt Edith Kramer nicht aus dem Bild, sondern ihr Blick scheint in sich gekehrt nichts außerhalb des Bildes zu fixieren. Als Hintergrund fungiert in zwei Bildern wiederum ein Fensterausschnitt, der die Lichter New Yorks zeigt. Durch ihre Malerei gewinnen wir beispielsweise auch einen faszinierenden Blick in die soziale Lebensrealität der amerikanischen Großstädte oder erleben Naturszenen in den USA und Österreich aus ungewohnten, im besten Sinne eigentümlichen Blickwinkeln. Und wir erhalten auch Einblick in Kramers private Objekte der Kontemplation – auch ein Fensterbrett mit Pflanzen kann viel von einer Lebenshaltung verraten, schreibt Matthias Boeckl im Katalog „Edith Kramer. Wien – New York. Malerin zwischen den Welten”. Petra M. Springer (INW Juni / Juli 2006)
Theodor Herzl, lange Zeit in Israel zwar als Gründungsvater verehrt, aber das Volk und vor allem die Jugend in Israel wissen außer dem Namen nicht viel von seinem Wirken und seiner Persönlichkeit. Dies soll nun anders werden: Ein Herzl-Tag und ein neues, modern gestaltetes Museum sollen nun Pionierleistungen Herzls hervorheben.
Auf dem Herzl-Berg in Jerusalem, wo Theodor Herzl (1860-1904) begraben ist, steht auch das Museum, das mit seiner Wiedereinweihung in diesem Frühling den großen Visionär des jüdischen Staates zu neuem virtuellen Leben erweckt. Das von der World Zionist Organisation geführte und in Zusammenarbeit mit dem israelischen Ministerium für Erziehung, Kultur und Sport und der Jerusalem Foundation errichtete Herzl-Museum konnte dank großzügiger Unterstützung aus Österreich, Deutschland, der Schweiz und den Vereinigten Staaten umfassend renoviert und zu einem modernen multimedialen Museum umgebaut werden. Die feierliche Einweihung am 19. Mai 2005, die sowohl im Inland als auch über die Grenzen des Landes hinaus große Aufmerksamkeit auf sich zog, bezeichnete, entsprechend einem Beschluss der Knesset, des israelischen Parlamentes, den ersten offiziellen „Herzl Tag“ in Israel. Von nun an wird dieser Feiertag alljährlich am 10. Iyar, dem jüdischen Geburtstag Theodor Herzls, begangen werden. Österreich wurde an diesem Tag durch Staatssekretär Franz Morak vertreten, der mit einer beachtlichen Delegation aus Kultur und Politik nach Jerusalem angereist war.
In seiner Rede warnte Kunststaatssekretär Franz Morak, die Geschichte zu vergessen. Der Journalist Theodor Herzl solle uns Mahnung und Auftrag sein, Herzl solle uns mahnen, die gemeinsame Geschichte und ihre „tragischen Verirrungen“ nie zu vergessen. Herzl solle auch als Auftrag dienen, die Augen offen zu halten für jede Form von Antisemitismus, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit. Damit könne man an der „Vision von einer besseren Zukunft, die allen Menschen Frieden und Glück garantiert“, bauen, meinte Morak bei der Staatsfeier in Jerusalem.
J.N.
Lesen Sie den gesamten Artikel in der Nummer 6/7 2005 der INW
Theodor Herzl oder Benyamin Zeev Herzl – so wie offizielle israelische Sprecher ihn gewissenhaft nennen – ist eine geheimnisvolle Figur. Sogar leidenschaftliche Zionisten der alten Schule schaffen es nicht immer, sein turbulentes Leben und seine zweifelhaften Ideen bezüglich der Juden und ihres Schicksals wirklich zu verstehen.
Eine Spur zur Haltung von jungen Israelis gegenüber dem König der Juden zu finden, ist noch schwieriger. Herzl starb vor 100 Jahren. Die meisten Israelis kamen nicht dazu sein Portrait auf den Banknoten, welche vor einigen Jahren aus dem Verkehr gezogen wurden, zu sehen. Die meisten von ihnen sind von den großen verbindenden Ideen des traditionellen Zionismus eher desillusioniert und mehr an ihrer eigenen individuellen Verwirklichung interessiert.
Für Teenager und Twens wird die Erinnerung an Herzl vor allem mit dem Namen der Strasse in Tel Aviv, wo es billige Möbel zu kaufen gibt, assoziiert. In den Schulen ist Herzl zwar ein Pflichtthema, doch für die meisten Schüler symbolisiert er nur noch eine weitere Hürde in der langen und langweiligen Odyssee zum Schulabschluss.
Es existiert kein Museum, in dem die Jugend über sein Lebenswerk lernen kann, da das Herzl Museum am Herzl Berg in Jerusalem so schlecht geführt war, dass es vor 7 Jahren geschlossen wurde – es ist allerdings eine Wiedereröffnung diesen Sommer mit der Hilfe der Stadt Wien geplant.
Doch nicht allen jungen Israelis ist der zionistische Prophet gleichgültig. Manche kämpfen mit seinem Vermächtnis. Wenn man tief genug gräbt, findet man schon jene, die wenigstens daran interessiert sind, was Herzl gesagt hat, oder sie sind zumindest bereit, seinem Vermächtnis Aufmerksamkeit zu schenken.
Hier einige Beispiele: Schüler basieren ihre futuristischen Aufsätze auf seinen Ideen; ein Student, der entsetzt darüber ist, dass Herzl eigentlich die Unterdrückung der individuellen jüdischen und arabischen Identität heraufbeschworen hat, taucht mit seinen Fotografien in das Unterbewusstsein der Stadt Tel Aviv ein.
Eine Hip Hop Band versucht den Vater des Zionismus in ihre Texte einzubringen, um am Ende herauszufinden, dass er eigentlich das Marihuanarauchen gepredigt hat.
Und wenn er emotional und ideologisch nicht leicht zu verdauen ist, so kann dies wenigstens kulinarisch getan werden: scharf denkende Unternehmer halten den visionären Vater des jüdischen Staates als Werbungsfigur für die Catering Industrie am Leben.
Der perplexe Schüler: Schülern die Aufgabe zu geben, die Parallelen zwischen der idealistischen Vision und der weniger idealen Realität zu geben, ist schon an sich eine große Herausforderung. Doch die Aufgabe, zu der Dutzende von Teenagern aufgerufen wurden, war sogar noch komplexer: ein Aufsatz über Israel im Jahre 2025 – in Bezug auf Herzls Vision.
Die Webseite des Wettbewerbs, welche vom Unterrichtsministerium und dem Reichman Koleg in Herzlya gesponsert wird, ist sehr hochgestochen: „Herzls Vision wurde verwirklicht und in eine beeindruckende und außergewöhnliche Realität verwandelt“, wird dort verkündet. Mit dem jüdischen Staat wurde in Eretz Israel eine vorbildliche Demokratie gegründet. Die Webseite ruft die Schüler auf, Verantwortung zu zeigen und die Fackel weiterzureichen.
Alle fünf Autoren der preisgekrönten Aufsätze haben etwas gemeinsam: Sie alle, vielleicht unterbewusst, befassen sich mit den problematischen Details von Herzls Vision, obwohl sie alle bezeugen, dass in der Schule keiner ihre Aufmerksamkeit auf diese Themen gelenkt hat.
Den jungen Autoren nach ist das zukünftige Israel ein westeuropäisches säkulares Land, von aschkenasischen Juden regiert.
Die Währung ist der Euro und frisches Wasser kommt aus einer Kläranlage, in einem Gebiet, welches früher als der Gaza- Streifen bekannt war.
Zwei der jungen Gewinner sind Liat Rodner und Ori Edelman. Das Gespräch mit den beiden deckt Gemeinsamkeiten auf: Sie sind beide intelligent und eloquent, wissen wenig über Herzls Schriften, sind religiös und geben unter etwas Druck zu, dass ihre Vision zweifelhaft und unrealistisch sei und Herzl wäre mit beiden Utopien einverstanden gewesen.
Liat Rodner ist 18 Jahre alt und lebt in Netanya. Nach dem Abschluss des Bar Ilan Gymnasiums für Mädchen steht sie unmittelbar vor dem Beginn ihres nationalen Dienstes (Zivildienstes), eine Lösung, die es religiösen Mädchen erlaubt, der Gesellschaft zu dienen, ohne in die Armee einzurücken.
Rodner meint, sie hätte an dem Wettbewerb aus literarischer und nicht aus zionistischer Motivation teilgenommen.
In ihrer utopischen Story „Straßensperre“ besucht der irakische Bub Jamil das gedeihende Israel. Er kann kaum glauben, dass die Araber jemals mit dem jüdischen Volk, das in einem ultra-modernen Staat, in dem Harmonie, perfekte Ordnung und Vorschritt regieren, lebt, eine Fehde hatten.
Palästinenser und ehemalige israelische Araber leben in einem kleinen Staat, den ihnen die großzügigen Israelis zur Verfügung gestellt haben und „Die Straßensperre” ist ein kleines Restaurant, eine Erinnerung aus längst vergangenen Tagen.
Die Souvenirs, die am Markt verkauft werden, sind aus Olivenholz geschnitzte Kamele, Kipot und Puppen, die israelische Soldaten darstellen. Die Juden sprechen flüssig arabisch und sind sich trotzdem ihrer eigenen Tradition stolz bewusst. In einem Wort: Altneuland.
Die Bewunderung der Araber den Juden gegenüber ist eine witzige und nette Idee, meint Liat, das heißt nicht, dass sie ihre Einzigartigkeit und Eigenständigkeit verloren haben. Die Idee hier ist nur, dass uns alle bewundern, das genaue Gegenteil der Wirklichkeit. Im richtigen Leben werden wir von allen gehasst.
Herzl hat in seinen Schriften den Bewohnern von Palästina keine besondere Bedeutung beigemessen. Einer seiner Nachfolger, Israel Zangvill, sah die zionistische Version der Rückkehr nach Zion folgendermaßen: Einem Volk ohne Land gebührt ein Land ohne Volk.
Glaubt Liat, dass ein palästinensisches Volk existiert? Oh nein, so etwas gibt es nicht. Es wäre ideal, wenn sie verstünden, dass das ganze Land uns gehört und sie in ihre arabischen Staaten zurückkehrten. Es wäre wirklich nett für die Juden, wenn die Araber verschwinden würden. Aber das werden sie nicht, und es wäre falsch sie zu vertreiben.
Ich wollte einen realistischen Touch in meiner Geschichte, so habe ich ihnen einen Staat gegeben. Also ist die Situation, die ich kreiert habe, eine Ko-Existenz. Wir haben ihnen Technologie und Wissen gegeben, doch haben wir selbst Dinge angenommen; ich meine, wir essen Humus und lieben Bauchtanz.
Glaubst Du wirklich, dass deine Version der Utopie Wirklichkeit werden kann?
Nein, ich bin da total realistisch. Ich kann ziemlich sicher sagen, dass sich die Dinge bis 2025 nicht bessern werden. Das passiert vielleicht, wenn meine Enkelkinder gestorben sind. Ich meine immer, wenn die Juden denken, dass alles gut ist, läuft etwas schief. Der Holocaust ist ein sehr düsteres Beispiel, doch er ist nicht das einzige. Der Antisemitismus wird immer existieren.
Herzl meinte, hier zu leben würde den Hass und die Verfolgung der Juden ersticken.
Ich denke seine Vision ist ganz schön schiefgelaufen. Doch es hat geklappt, ein Zuhause für das jüdische Volk zu bauen. Niemand kann mehr mit Steinen auf uns werfen und uns dreckige Juden nennen.
Was ist mit den Selbstmordattentaten?
Das ist immer noch besser, als in einer antisemitischen Umgebung in der Diaspora zu leben. Immerhin können wir uns jetzt nur auf uns selbst verlassen.
Außer auf Amerika.
Tja, das stimmt auch. Das ist der Grund, weshalb wir in meiner Geschichte volle wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit erreicht haben und von allen anderen Staaten voll akzeptiert sind. Es geht eigentlich nur darum, von anderen akzeptiert zu werden. Wir haben doch die Wüste in blühendes Land verwandelt. Wir Juden sind gescheit.
Was also müssen wir tun?
Wir müssen inneren Frieden erreichen und uns dann mit den Arabern versöhnen. Bis jetzt waren wir nur aggressiv, weil wir von anderen gehasst werden. Das ist die Wurzel allen Übels. Dadurch fühlen wir uns degradiert, also hassen wir zurück. Es ist leicht für die Europäer uns vorzuschreiben, wie wir uns benehmen sollen. Niemand hasst sie und niemand bedroht sie.
Die Idee des Teenagers, dass Israel sich in seine Umwelt einfügen wird, klingt vertraut. Ihre Vision erinnert uns an „Altneuland“, obwohl Liat zugibt, das Werk nie gelesen zu haben. „ch weiß alles über Herzl und was für ein Mensch er war. Es war ihm ziemlich egal, ob wir in Zimbabwe oder im Lande Israel leben werden, Hauptsache, die Juden haben ihr nationales Heim. Ich denke, der Charakter dieses Landes war ihm nicht wichtig.
Er träumte von einer weltlichen, europäischen, modernen Einheit.
Er würde wahrscheinlich gerne mehr Springbrunnen in den Städten sehen. Ich nehme an, dass, wenn Herzl uns hier besuchen würde, wäre er nicht zufrieden. Er würde uns wie eine Mutter, die lange sehnsüchtig auf ihr Kind wartet und herausfindet, dass das Kind kein sehr toller Erwachsener geworden ist, ansehen. Aber man liebt sein Kind ja trotzdem, nicht?
Ori Edelman ist siebzehneinhalb Jahre alt und lebt in Mizpeh Nekofa in Galilea. Seine Familie, bestehend aus zwei Brüdern und seinen Eltern, ist religiös. Ori ist Schüler in der Yeshiva in Tiberias. Er schrieb seinen Aufsatz aus Interesse an der Prosa, und nicht an Herzl.
Edelmann befasst sich in seiner Geschichte mit der Art und Weise, wie „Shinui“ (Änderung), eine ultra-sekuläre Partei, momentan 17 von 20 Sitzen in der Knesset ihr Eigen nennt und so die Zukunft der israelischen Politik bestimmt und jede Diskussion mit ihren Prinzipien unterjocht. Den Vorsitz der Partei hält Tommy Lapid – früherer Journalist und Holocaust-Überlebender, der von vielen als extrem anti-religiös angesehen wird. Viele, nicht nur religiöse, sehen seine harsche Kritik an religiösen Institutionen als antisemitisch.
Der junge religiöse Bub sieht das nicht so. In seiner Vision durchgehen junge orthodoxe Männer einen Prozess der „Tschuva“ (Erleuchtung) und verstehen, dass es falsch ist, die säkulare Lebensweise der Israelis zu kritisieren. Sie formen eine Partei, die für die Trennung von Staat und Religion plädiert – so wie Shinui. Friede und Freude regieren, als die Haredischen Juden, die dieser Änderung gegenüberstehen, aufgeben und das Land verlassen.
In Edelmans Geschichte spielt Lapid die Rolle Herzls, der versucht einen Staat zu gründen, in dem Juden leben wie jedes andere Volk auch.
Ist es möglich dass Edelman, ein junger religiöser Jude, den sogenannten Hass Lapids und Herzls auf die Juden und die Jüdischkeit absorbiert hat?
Ori Edelman ist da anderer Meinung. „Ich habe viel über den Riss zwischen Orthodoxen und Weltlichen und den gegenseitigen Hass nachgedacht. Die Leute in meinen Kreisen reden die ganze Zeit darüber. Ich habe beschlossen, dass es möglich ist, Shinui als etwas anderes als eine Bande von Schweinefleischessern anzusehen.
Ich habe verstanden, dass ultra-orthodoxe Juden sich reformieren müssen. Sie müssen eine Verbindung mit der Außenwelt finden, bevor es zu spät ist. Ich sage ja nicht, dass sie in dumme Sex-Filme gehen müssen, aber sie müssen aus dieser extremen Ausgrenzung heraus.“
Du meinst sie sollen ihr Getto verlassen?
Ja, sie haben sich in einem Getto abgegrenzt, doch die Medien und einige Teile der ultra-orthodoxen popularen Kultur sind auch daran Schuld.
Doch würden sie als Juden nicht so ihre Einzigartigkeit verlieren?
Ich glaube fest daran, dass unser Judentum nicht ausgerottet gehört. Wir dürfen unsere Tradition nicht vergessen, nur Israeli zu sein ist nicht genug.
Deine Geschichte setzt eigentlich Herzls Vision eines kastrierten Judentums, welche so viele Juden im vorigen Jahrhundert erschreckt hat, in die Tat um. Ist Lapid der neue König der Juden?
In der Gemara gibt es die Geschichte über den Juden, der einen großen profanen Vogel, dessen Füße im Wasser und Kopf weit oben im Himmel ist, sieht. Die Allegorie bedeutet, dass gerade dieser Vogel, unter all den verbotenen Kreaturen, das Volk regieren kann. Die Moral ist, dass nicht ein ultra-säkularer Jude die Erlösung bringen wird, doch er wird die Abneigung unter den Juden unterbinden.
Glaubst du, dass deine Vision in der Realität wurzelt?
Irgendwie schon. Öffentliche Verkehrsmittel am Sabbat und nicht-koscheres Essen zu erlauben, würde doch den Hass veringern. Den Ultra-Orthodoxen zu verstehen zu geben, dass auch die weltlichen Juden existieren, muss doch möglich sein.
Shaanan Street ist unter seinen Freunden und Fans als unbeschwert bekannt. Der Sänger und Songwriter der bekannten Hip Hop Band „Ha Dag Nachash” (Schlangenfisch) ist das Markenzeichen der israelischen „Coolness“. Seine schlabbrigen Hosen, seine Mariuhana-freundlichen Texte und seine funkige Musik machen dies möglich. Doch seine Texte drücken eigentlich, wenn auch manchmal etwas plump, die Desillusionierung der Generation der 20- bis 30- Jährigen aus.
Eines der bekanntesten Lieder der Band „Gaby und Debby“ beschreibt die Geschichte zweier Figuren aus dem israelischen Fernsehen der siebziger Jahre. Die beiden kommen auf Umwegen nach Basel, wo Herzl den jüdischen Staat zum ersten Mal ausgerufen hat. Sie treffen auf einen gleichgültigen Mariuhana-rauchenden Herzl. „Was er doch war, wie ich gehört habe“, meint Street.
Der Text des Liedes geht so: Wie kann Herzl sich ruhig an das Geländer lehnen/wenn in Israel alles brennt / Als ich ihm von den Staus auf den Straßen, den Streiks der Behinderten, der Arbeitslosigkeit und der fehlenden Sicherheit erzähle lacht er nur / legt mir eine weiße Tablette auf die Zunge/und meint „Wenn du das nimmst, ist es kein Märchen./„Ich habe versucht bekannte Sätze in den Text einzubauen, sagt Street, der zwar gut drauf, doch trotzdem von alldem rundherum besorgt ist. Wenn ihr wollt ist es kein Märchen, kam mir sofort in den Sinn. Es ist direkt ein Mythos. Immer wenn Isralis sagen: ,Ich will dieses oder jenes’ kann man mit dem Satz ,Na und, auch Herzl wollte viel’, kontern, da weiß keiner was er darauf sagen soll.
Wieso beschreibst du ihn als Drogensüchtiger und Dealer?
Es war witzig und ironisch ihn so zu portraitieren. Ich hab mal gehört, dass Herzl viel Bier getrunken hat und dass eins seiner Kinder drogensüchtig war. Ich habe nichts gegen ihn. Er war nur ein Hilfsmittel, den ganzen Mist, den wir hier erleben und der uns vorgemacht wird, zu vervollständigen. Ich bin mir sicher, dass die Politiker, die in seinem Namen sprechen, sein Okay nicht bekommen würden.
Man stelle sich vor Herzl besuche heute Israel. Es würde ihm schon beim Anblick seiner Nachfolger in der Knesset schwindlig werden, doch wie würde er reagieren, stände er gegenüber seiner lebensgroßen Statue in einem Hummus Restaurant in Tel Aviv?
Ich nehme an er hätte es lieber, wenn wir Schnitzel und Strudel servieren würden, lacht Nati Bar, der Besitzer der kleinen „Herzl Hummus“ Bude, in der Herzl Straße in Tel Aviv. Die Bude ist mit den Bildern von Herzls Exkursion im Lande im Jahre 1898 geschmückt.
Natürlich hilft das der Werbung. Die Einladung zum ersten Zionistenkongress spricht vor allem ältere Menschen an, sie reagieren irgendwie nostalgisch. Andere sagen er war pervers und litt an Syphilis.
Und was denkst du?
Was kann ich sagen? Ich bin ein Zionist. Ich liebe unseren Staat, obohl es noch dauern wird den Traum in Realität zu verwandeln. Doch ich glaube daran, Israel ist unser einziges Zuhause. Da bin ich mir sicher.
Und was denkt die Kundschaft?
Die fänden sicher den Namen Hummus Britney Spears’ besser.
Ori Han ist ein andere Unternehmer und selbsternannter Zionist. Er hat beschlossen, Herzl, sowie auch andere zionistische Führer als Werbegag zum Verkauf von Zucker zu benutzen. Der Vater des Zionismus glänzt auf kleinen Zuckersäckchen, die Han in Kaffeehäusern verteilt. So können Kaffee- und Tee-Genießer entscheiden, ob sie mit Herzl, oder dessen Gegenstück – Ahad Haam – ihr Getränk versüßen. Die Zuckersäckchen sind ein Hit in den verschiedenen Lokalen. Das ist vielleicht noch am nähesten zum Traum von einer „normalen“ Nation.
Auf der einen Seite ist es einfach der retro-Trend, und auf der anderen Seite haben viele Teenager, wie meine Tochter, keine Ahnung. So ist die Idee kommerziell und pädagogisch gut.
Die Rückseite der Säckchen enthält kurze Details über den Portraitierten: „Autor, Schriftsteller und Journalist. Gründer des Zionismus und der Zionistischen Vereinigung. Leiter des ersten Zionistenkongresses in Basel. Berühmte Werke: „Altneuland“ und „Der jüdische Staat“.
Warum steht dort nicht, dass er der Visionär des jüdischen Staates war?
Tja, es ist nicht einfach so ein Leben auf der Rückseite eines Zuckersäckchens zu beschreiben, doch ich denke es ist einfacher als ein Buch über Herzl zu schreiben.
Ilan Goren. (Übersetzt von Roberta Breiter) 4/5-2004
Im Herbst 2005 fand bereits die 2. philosophische akademie statt, ein philosophisch-kulturwissenschaftliches Symposium, bei dem sich begabte junge WissenschaftlerInnen und StudentInnen vieler Disziplinen in Vorträgen und Diskussionen intensiv einem Thema widmen. Das Projekt will ein zeichen setzen, ein Zeichen sowohl für die gegenwärtige und zukünftige Relevanz von Philosophie und Kulturwissenschaft als auch für die Förderungswürdigkeit von NachwuchswissenschaftlerInnen.
Ein Paradoxon unserer Zeit …
Wenn wir die Rolle und Bedeutung von Philosophie in der heutigen Zeit betrachten, dann stehen wir bald vor einem bemerkenswerten Paradoxon: Einerseits scheint Philosophie immer mehr in Mode zu kommen und sogar einen regelrechten Höhenflug zu erleben, der sich in einer großen Anzahl populärphilosophischer Bücher ebenso niederschlägt wie in der gesteigerten Nachfrage nach philosophischen Seminaren und Praxen. Der Philosoph wird zum Berater, Therapeuten, Mediator, Entertainer und Journalisten; die Feuilletons und Kolumnen werden mit Philosophie angereichert; Manager und Politiker holen sich ihren rhetorischen Schliff bei Philosophen, die jene dann in antiker sophistischer Tradition mit Argumenten versorgen. So weit, so gut. Über die dabei oftmals mangelnde reflexive Tiefe wollen wir hier ja nicht klagen …
Auf der anderen Seite aber läßt sich beobachten, wie Philosophie (neben vielen anderen Geistes-, Kultur-, Human- und Sozialwissenschaften) vor allem im akademisch-institutionellen Raum immer stärker an Raum zu verlieren droht, von ihrer ehemals leuchtenden Bedeutung einer Universalwissenschaft herabgesunken zu einer Disziplin neben vielen anderen, isoliert und selbst wiederum in Unterdisziplinen zersplittert. Die von politischer und wirtschaftlicher Seite ausgerufene Priorität der Effizienz, Mobilität und Schnelligkeit läßt die Disziplin des Denkens alt und praxisfern aussehen und sie dies nicht zuletzt in budgetären Kürzungen spüren. Derart in den Elfenbeinturm eingesperrt, droht die Philosophie natürlich auch auf eine rein historistische Disziplin reduziert zu werden und damit tatsächlich ihr kreatives Potential verstauben zu lassen.
Trübe Zukunftsaussichten für angehende Philosophen?
Gerade junge WissenschaftlerInnen wie auch Studierende mag dieses Szenario erschrecken oder gar resignieren lassen. Die Philosophie und damit auch ihre Vertreter sind so gut wie immer vor die Aufgabe gestellt, erst einmal ihre Existenzberechtigung vor der Gesellschaft zu beweisen, und also von Anfang an in apologetischer Position. Die akademischen Möglichkeiten für junge Menschen sind gerade in den letzten Jahren dramatisch zurückgegangen und sind durchaus in der Lage, entmutigend zu wirken. Vor allem der Einstieg in eine philosophische Laufbahn erweist sich als steinig und mühsam, weil es oft an diskursivem Austausch zwischen den bereits arrivierten WissenschaftlerInnen bzw. ProfessorInnen und den NachwuchswissenschaftlerInnen bzw. Studierenden fehlt und – nebenbei bemerkt – auch das hehre Gebiet der Philosophie vor persönlichen Rangkämpfen und Konkurrenzverhalten nicht gefeit ist.
Eine private Initiative als Reaktion auf diese Dekadenzerscheinungen
Die philosophische akademie wurde unter anderem aus diesem Bewußtsein eines Mangels geboren. Als gemeinnütziger Verein im Herbst 2003 von zwei Wiener Philosophie-Studierenden, Christian Seewald und Alexandra Prakisch, gegründet, hat sie sich zum Ziel gesetzt, den interdisziplinären wissenschaftlichen Diskurs zu fördern und speziell im Rahmen eines jährlichen Symposiums zu philosophisch-kulturwissenschaftlichen Fragestellungen und Themen StudentInnen und NachwuchswissenschaftlerInnen die Möglichkeit zu geben, ihre Arbeiten und Thesen einer größeren Öffentlichkeit vor- und zur Diskussion zu stellen. Neben den karrierebezogenen Vorteilen, die sich aus der Teilnahme als ReferentIn an einem internationalen Symposium und der nachfolgenden Publikation des Beitrages im jährlichen Sammelband ergeben können, geht es vor allem um den motivierenden Austausch von Ideen und um die Gewinnung neuer Impulse. Gewünscht werden eine kritische Auseinandersetzung mit anderen und eine perspektivenreiche Beleuchtung relevanter Themen über Instituts- und Landesgrenzen hinweg. Der Verein setzt sich mit diesen Anliegen aber auch ganz allgemein für die Förderung der wissenschaftlichen und kulturellen Fortbildung sowie für die Förderung des Interesses an philosophischen Fragen bei jungen Menschen ein. Wissensvermittlung und Wissensaustausch sollten nicht auf ihren persönlichen, emotionalen Aspekt verzichten: Elektronische Medien und virtuelle Kommunikation können den lebendigen Kontakt zwischen Menschen, der schon durch die soziale Struktur von Wissensvermittlung gefordert wird, nicht ersetzen. Nur wenn Philosophie ernst genommen wird, kann sie auch in Zukunft Relevanz für sich beanspruchen – ohne auf reine Datenübertragung reduziert zu werden, und auch ohne sich seicht verkaufen zu müssen.
Über die Autorin Alexandra Prakisch:
Geboren am 23.6.1982 in Wien. Lehrtätigkeit (Latein, Altgriechisch) am Sprachinstitut Creative Language in Wien. Studium der Judaistik und Philosophie mit den Schwerpunkten Jüdische Philosophie und Kulturphilosophie. Gegenwärtiges Forschungsprojekt: Leben und Werk von Oskar Ewald Friedländer. Gründungsmitglied des Vereins philosophische akademie, wissenschaftliche Leiterin des von diesem veranstalteten jährlichen philosophisch-kulturwissenschaftlichen Symposiums.
Es war einmal ein kleines Mädchen. Es lebte mit seinen Eltern glücklich und behütet in einer großen Stadt. Doch eines Tages fand das Glück ein jähes Ende. Der Vater verließ Frau und Tochter, die ihn fortan nur noch einmal im Monat sah. Nie gab es Schokolade, nie ging der Vater mit seiner kleinen Tochter in den Vergnügungspark – Prater nannte man ihn in der großen Stadt. Die Mutter war unglücklich darüber, dass ihre Ehe nach 20 Jahren kaputt gegangen war, und sie sprach nur noch schlecht über den Vater. Sie erzählte dem kleinen Mädchen: Dein Vater wollte keine Kinder haben, und ich habe Dich ihm immer vorgezogen. Ich wollte nie ausgehen, wenn es bedeutete, dass du mit unserem Dienstmädchen zu Hause bleiben musstest. Eigentlich bist Du der Grund unserer Scheidung gewesen. Das kleine Mädchen hörte erstaunt zu. Wie konnte es, ein Kind, der Auslöser für eine so wichtige Sache wie eine Scheidung sein? Wenn Du groß bist, wirst Du für mich sorgen, gelt? sagte die Mutter. Und sie sagte, wenn es einmal ans Sterben ginge, dann müsste das kleine Mädchen Franz Liszts „Liebestod“ bei ihrem Tod spielen. Erst viel später begriff das kleine Mädchen, wie die Mutter die Schuldgefühle in seinem Herzen genährt hatte. Doch die Mutter sorgte auch sehr für ihre Tochter. Sie ermöglichte ihr Französisch zu lernen, außerdem Geige und Klavier. In den Ferien steckte die Mutter, die noch hübsch war und wohl nicht allein bleiben wollte, das kleine Mädchen ins Kloster. Es war eigentlich ein Ferienheim in Tirol. Dort war das kleine Mädchen sehr einsam und weinte wohl auch manchmal. Als die Eltern noch verheiratet waren – der Vater hatte eine Position als Hoteldirektor – verbrachte man die Ferien gemeinsam am Wolfgangsee. Eines Tages kam ein Brief vom Vater. Wieso schreibt er denn? Er könnte doch anrufen? fragte das kleine Mädchen. Die Mutter riss das Kuvert ungeduldig auf, und nach den ersten Zeilen wurde sie ganz blass. Liebe Irene, es fällt mir schwer, Dir dies zu schreiben, aber ich verlasse Wien. Ich kann Euch beide nicht länger erhalten, da meine Pläne noch ungewiss sin“, stand da zu lesen. Das kleine Mädchen sah seinen Vater nie wieder. Was werden wir denn jetzt machen? Wovon sollen wir leben? fragte es seine Mutter voll Angst. Es bewunderte die Mutter, die sich rasch gefasst hatte. Die Mutter begann mit Handarbeiten, sie gab auch Englisch- und Französischunterricht. Ein Zimmer der Wohnung war schon vermietet, an einen Musikkritiker, den man aus Deutschland vertrieben hatte. Er war Jude, aber damit konnte das kleine Mädchen nicht viel anfangen. Es war ihm nie so richtig bewusst gewesen, dass es einen Unterschied zwischen Juden und Christen gab. Sicher, in der Schule wurde die Klasse zum Religionsunterricht geteilt, doch darüber machte sich eigentlich niemand so recht Gedanken. Einmal bat das kleine Mädchen, das zum christlichen Religionsunterricht ging, seine Mutter: Bitte, lass mich doch als Jüdin taufen. Damals wusste es noch nicht, dass sein Vater Jude war und erst bei seiner Heirat zum Christentum übergetreten war. Am 11. März 1938 rückten die deutschen Truppen in der Heimat des kleinen Mädchens ein. Als der Untermieter davon im Radio hörte, wurde er leichenblass. Am nächsten Tag verließ er Wien in Richtung Tschechoslowakei. Das kleine Mädchen verstand nicht wirklich, was da vor sich ging, aber es sah merkwürdige Dinge. Wien war wie ausgewechselt. Die Wienerin, die einst schick wie die Pariserin war, schien vom Erdboden verschluckt. Statt dessen bemühten sich die meisten Frauen, es ihren deutschen Schwestern gleich zu tun: Kein Nagellack, kein Lippenstift, aber das Hakenkreuz auf der Brust. Vor jedem Theater, vor jedem Kino, hing das Schild: Für Juden verboten. Dem kleinen Mädchen war gar nicht bewusst, in welcher Gefahr es schwebte. Immer schon hatte es davon geträumt, Schauspielerin oder Tänzerin zu werden. Eines Tages kam der Zirkus Sarasani in die Stadt. Dem Mädchen gelang es, dort eine Arbeit zu bekommen. Es durfte mit anderen Mädchen zwischen den Nummern in der Manege tanzen, und in der Pause verkauft es Programme. Seine Mutter war sehr dagegen gewesen, aber nach zwei Wochen verließ der Zirkus ohnedies die Stadt – vorbei.
Lesen Sie die Fortsetzung der Geschichte der Anna Korda in der Printausgabe der Illustrierten Neuen Welt (8/9 2003: Seite 38 / 39). "Es ist wohl keine typische Flüchtlingsgeschcihte, die Anna Korda da niederschrieb", urteilt Joanna Nittenberg in ihrem spannenden Bericht und schließt mit der berechtigten Frage: "Aber warum soll es das Happy End immer nur im Film geben?"
Vor mehr als neunzig Jahren wurde Tel Aviv gegründet. heute entdeckt Israel sein Bauhauserbe. Die Unesco erklärt große Teile der Innenstadt zum Weltkulturerbe.
Bauhausarchitektur in Tel-Aviv:
Carl Rubin: Citrus House – 19 Petach Tikwa Road; Philip Hütt: 65 Hovevei Zion St.;
Harry Loire: 2 Bilu St.
Tausend weiße Villen tauchten auf, leuchteten aus dem Grün üppiger Gärten heraus. Von Akko bis an den Carmel schien da ein großer Garten angelegt zu sein, und der Berg selbst war gekrönt mit schimmernden Bauten.“ So umschrieb 1902 Theodor Herzl seine städtebauliche Vision vom Judenstaat. Doch genauso wenig wie das Leben im heutigen Israel etwas mit der Wiener Kaffeehausatmosphäre gemein hat, die Herzl in den Orient „umzutopfen“ plante, gleicht der visuelle Eindruck der Architektur des Landes einem Beverly Hills in der Levante. Die nüchternen Realitäten der Aufbaujahre ließen wenig Spielraum für idyllische Utopien. Ein Dach über den Kopf für die Millionen von Einwanderern hatte einfach einen höheren Stellenwert als Ästhetik – ein Umstand, der Israel so manche architektonische Monstrosität bescherte.
Bauhausarchitektur in Tel-Aviv:
Ben Ami Shoulman: 34 Frishman St.; Arie Sharon: Ohel Theatre - 6 Beilinson St.;
Philip Hütt: 89–91 Rothschild Blv.
Doch neben unzähligen Bausünden finden sich in Israel auch Zeugnisse des Besten, was moderne Baukunst zu bieten hat. Gerade in Deutschland und Österreich ausgebildete Architekten hatten daran seit den Kindertagen des Zionismus einen entscheidenden Anteil. Sie waren es, die im britisch verwalteten Palästina und dem späteren Israel der architektonischen Moderne wie sonst nirgendwo zum Durchbruch verhalfen. Wenn, wie am 6. Juli diesen Jahres geschehen, große Teile des Stadtzentrums von Tel Aviv von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt werden, dann ist dies auch eine späte Würdigung der Leistungen all jener Baumeister, die während der britischen Mandatszeit eingewandert waren. […]
Bauhausarchitektur in Tel-Aviv:
Sam Barkai: 5 Engel St.; Arie Sharon: Cooperative Residence - 33 Frishman St.;
Ben Ami Shulman: 106 Disengoff St.
Erst in den neunziger Jahren begann man allmählich so etwas wie ein Bewusstsein für Denkmalschutz in Tel Aviv zu entwickeln. Kein leichtes Unterfangen in einer Stadt, in der das Konservieren der Vergangenheit eigentlich nie auf der Tagesordnung stand. Laut Arieh Sabinsky, einem der Pioniere im Kampf um den Erhalt dieser Gebäude, eine Sisyphusarbeit: Rund 1.500 denkmalgeschützte Häuser gibt es in Tel Aviv, 900 fallen unter die Kategorie Bauhausarchitektur. Wenn man bedenkt, dass aufgrund begrenzter öffentlicher Mittel nur rund fünfzig pro Jahr restauriert werden, lässt sich leicht ausrechnen, dass ein Großteil dieser architektonischen Schätze im Wettrennen gegen den Zahn der Zeit unwiederbringlich verloren zu gehen droht Tel Aviv ist ein offenes Bauhausmuseum, so Sabinsky begeistert. Für ihn ist die Ernennung großer Teile der Innenstadt zum Weltkulturerbe ein wichtiges Signal. Zwar bedauert auch er, dass dadurch keine zusätzlichen finanziellen Mittel für die Restaurierung zur Verfügung stehen, doch trägt die Unesco-Entscheidung maßgeblich dazu bei, ein stärkeres Bewusstsein für die Bedeutung dieser Gebäude zu schaffen. Außerdem kann sich die Stadt dadurch zum Magnet für Architekturenthusiasten aus aller Welt entwickeln. Und: Die Unesco-Entscheidung verhindert, dass Stadtplaner und Architekten Politik mit der Abrissbirne betreiben oder durch monströse Hochhäuser den Gesamteindruck zerstören. Schließlich lässt sich der Status als Weltkulturerbe auch wieder rückgängig machen.
Lesen Sie den gesamten Artikel von Ralf Balke in der Printausgabe der Nummer 8/9-2003.
Am 22. Juni eröffnet in Ashdod, Israel, das Museum Bar-Gera für verfolgte Kunst und Künstler. Den Grundstock des Museums bildet die Sammlung der Kölner Galeristin Kenda Bar-Gera und ihres Mannes Jacob Bar-Gera. Die Museumsmitbegründerin Kenda Bar-Gera wuchs in der Stadt Lodz in einer traditionsreichen, orthodoxen jüdischen Familie auf. Sie kennt – ebenso wie ihr im Januar 2003 plötzlich verstorbener Mann – das Schicksal der Verfolgung aus eigener Erfahrung: Getto in Lodz, Auschwitz, Arbeitslager in Niederschlesien. Nach der Befreiung durch die Rote Armee Einreise in Palästina mit gefälschten Papieren. Seit 1963 lebt sie in Köln, wo sie sich den Ruf einer international anerkannten Kunstexpertin erwarb.
Das Ehepaar Bar-Gera
INW Wie kam es zur Museumsgründung?
Bar-Gera: Der Gedanke an ein eigenes Museum kam erstmals auf, nachdem mein Mann und ich 1996 in St. Petersburg eine viel beachtete Ausstellung gemacht hatten. Als sich der ursprüngliche Plan eines Museumsneubaus in Raanana mehrmals verzögerte, entschieden wir uns – mein Mann und ich waren schließlich keine 20 mehr – für das Angebot der Stadt Ashdod, das Museum im dortigen Kulturzentrum zu beherbergen. Es ist ein Bau von 1995, am Meer gelegen, mit einer traumhaften Glaskuppel. Für das Museum wurden nun innen die drei Etagen neu geplant und gebaut.
INW: Nun wird das Museum am 22. Juni mit einer Sonderausstellung eröffnet. Wie ist die Konzeption?
Bar-Gera: Das Museum unter der Leitung von Yael Wiesel wird eröffnet mit der Ausstellung "Verfolgte Kunst und Künstler im 20. Jahrhundert in totalitären Ländern Europas." Sie wird in zwei Etappen ablaufen. Im ersten Teil wird vom 22. Juni bis Ende September 2003 deutsche "entartete Kunst" der Nazizeit, regimekritische Kunst aus dem Spanien der Franco-Diktatur, sowie die von Stalin verbotene russische Avantgarde der 20er Jahre gezeigt. Hierfür habe ich als Kuratorin der Ausstellung viele Leihgaben internationaler Privatsammler und Museen zusammengetragen. Im zweiten Teil wird vom Oktober 2003 bis März 2004 Kunst der russischen Nonkonformisten von 1955 bis 1988 zu sehen sein, mit Werken, Fotos und Dokumenten. Sie gehören zu unserer umfangreichen Hauptsammlung. Diese wird als Schenkung dauerhaft im Museum bleiben, wobei die Bilder von Zeit zu Zeit gewechselt werden. Ein Teil unserer Sammlung der russischen Nonkonformisten wird also immer ausgestellt sein.
INW Gibt es auch Wechselausstellungen?
Bar-Gera: Laut Vertrag wird mindestens einmal im Jahr eine Ausstellung zum Thema der Verfolgten Kunst gemacht. Es könnte in Zukunft zum Beispiel um die Zerstörung der Buddha-Statuen in Afghanistan gehen oder um die Kunst während der maoistischen Kulturrevolution in China. Für die Wechselausstellung sind drei Viertel, für die Dauerausstellung ein Viertel der auf drei Ebenen verteilten Ausstellungsfläche vorgesehen.
INW Bei den verfolgten Künstlern im Europa des 20. Jahrhunderts fallen einem schnell große Namen ein. Werden Werke berühmter Künstler in der Eröffnungsausstellung zu sehen sein oder hatten Sie andere Auswahlkriterien für Ihre Ausstellung?
Bar-Gera: Von bekannten deutschen Künstlern ist etwa Käthe Kollwitz dabei, Max Pechstein, Erich Heckel, Otto Dix, George Grosz, Oskar Kokoschka, der Federico García Lorca gezeichnet hat. Unter den russischen Künstlern habe ich Kasimir Malewitsch, Olga Rozanova, El Lissitzky oder auch Ilya Kabakov, von dem ich vor Jahren in meiner Kölner Galerie noch für 300 Mark ein Bild verkauft habe – heute kennt die ganze Welt Kabakov. In der Ausstellung hängt aber kein Picasso und kein Miro, auch weil viele deutsche und spanische Museen nicht gerade großzügig mit Leihgaben waren. Wenn jemand deren Kunst sehen möchte, kann er heutzutage fast in jedes Museum gehen. Aber was in meiner Ausstellung hängt, kann er nicht in jedem Museum sehen und darauf bin ich stolz. Von der spanischen Avantgarde ist etwa Lorca dabei, Agustí Centelles, Joaquín Torres García – Namen, die in Vergessenheit geraten sind. Das Museum für verfolgte Kunst ist dafür da, solche verfemten Künstler wieder anzuerkennen.
INW Wie hoch ist der Anteil jüdischer Künstler?
Bar-Gera: In der Ausstellung ist etwa Felix Nussbaum vertreten, von den russischen Nonkonformisten Künstler wie Michail Grobmann, Witali Stessin und Wladimir Jakowlew. Wie hoch ihr prozentualer Anteil ist, kann ich Ihnen nicht sagen. Für meine Arbeit war es nie ausschlaggebend, ob jemand Jude ist oder nicht, Mensch muss er sein.
INW Gibt es denn nicht Künstler oder Bilder, die Ihnen besonders am Herzen liegen?
Bar-Gera: Das werde ich sehr oft gefragt, ob in St. Petersburg, Moskau, Frankfurt, Verona oder egal, wo mein Mann und ich unsere Sammlung früher gezeigt haben. Darauf kann ich nur antworten wie eine Mutter antworten würde: Ich liebe alle meine Kinder, so schwierig die Künstler oft auch sind. Ein Bild aus unserer Nonkonformisten-Sammlung hing bei uns im Schlafzimmer. Es ist von Michail Schemjakin, der jetzt in New York lebt, betitelt "Gott des Schweigens": Es zeigt ein Gesicht, dessen Mund verbunden ist. Es ist nicht mein Lieblingsbild, aber es war eine Mahnung für mich: "Du musst dich dafür einsetzen, dass wir den Mund öffnen."
INW Wie haben Sie die Schicksale der verfolgten Künstler herausgefunden?
Bar-Gera: Das habe ich mein ganzes Leben lang gemacht als Galeristin. Ich habe geforscht in Archiven, gesucht in alten Katalogen. Wenn Sie sich etwa mit den Schicksalen der Künstler aus dem Umkreis des Bauhauses oder des "Sturm" beschäftigen, so stellen Sie fest, dass von ihrem Werk oft nicht viel geblieben ist, dass viele Künstler in Vergessenheit geraten oder sogar verschwunden sind. Wenn ich jedoch einen Künstler wieder gefunden habe, habe ich oft erfahren, wo ich den nächsten finde. In den 70er Jahren habe ich etwa eine Ausstellung über die Künstlervereinigung "die abstrakten hannover" gemacht, deren Mitglieder sich bei mir in der Galerie nach über 30 Jahren wieder getroffen haben. Ich stieß auch auf den Konstruktivisten Robert Michel, einen der ersten deutschen Piloten des Ersten Weltkrieges, und seine Frau Ella Bergmann. Oder die Straßburger Künstlerin Marcelle Cahn: Kurz vor ihrem Tod habe ich sie in einem Altersheim besucht. Sie ist in Armut gestorben. Oder Felix Nussbaum, der in Auschwitz umkam und ebenfalls in der Eröffnungsausstellung vertreten ist: In den 70er Jahren sind zwei seiner Nichten in meine Galerie reinmarschiert und haben um Rat gefragt. Kein Mensch wusste damals, wer Nussbaum ist. Heute ist man begeistert von seinen Bildern.
INW Gibt es spezielle Charakteristika von Bildern verfolgter Kunst, gemeinsame Stile, Themen oder Techniken?
Bar-Gera: Nein. Es sind alle Stile vertreten in der Ausstellung, vom Figurativen bis zum Abstrakten. Es ist auch nicht so, dass die Künstler mit ihren Bildern zum Widerstand aufgerufen haben. Wenn im NS-Regime jemand Jude war, hatte er kein Recht, überhaupt auszustellen. Er konnte der beste Künstler sein – sein Platz war dennoch Auschwitz oder Dachau. Für andere Künstler reichte es aus, eine Skulptur mit einem Titel wie "Das hungrige Mädchen" zu machen, um als "entartete Künstler" zu gelten. Und warum durfte ein Konstruktivist nicht ausstellen? Zwei Striche, ein Quadrat zu machen zeugt von Phantasie und freiem Denken. Deshalb haben die Diktatoren Angst vor der freien Kunst. Der Ausstellungskatalog beschäftigt sich detailliert mit solchen Fragen. Wir planen auch, ein Forschungsinstitut und ein Archiv aufzubauen, um das bislang wenig erforschte Phänomen der verfolgten Kunst interdisziplinär zu untersuchen.
INW Vergessene Künstler zu rehabilitieren, ein Museum für verfolgte Kunst zu initiieren, ist eine harte Arbeit. Woher beziehen Sie Ihre Kraft?
Bar-Gera: Ohne meine Kinder und ohne den Förderverein des Museums, der sich um Sponsorengelder kümmert, hätte ich das nicht geschafft. Leider erlebt mein Mann nicht mehr die Umsetzung unseres Traums vom Museum. Er war der Motor dieser Idee. Er war auch der Geschäftsführer des Fördervereins, der mit Persönlichkeiten wie Fritz-Theo Mennicken, Paul Spiegel, Bassam Tibi, Armin Müller-Stahl und Henrik Hanstein besetzt ist. Aber sicherlich war auch mein eigenes Verfolgungsschicksal eine große Motivation für mich. Mein Mann und ich waren Kinder des Krieges, wir waren beide verfolgt und so habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, verfolgten Künstlern die Ehre zu erweisen.
Das Gespräch führte unser Mitarbeiter Klaus Brath. (INW 6 / 7-2003)
Weitere Informationen: www.verfolgte-kunst.com
Georg Chaimowicz ist am Vorabend von Shawout seinem langen schweren Leiden erlegen. Alle die ihn kannten werden diese aufrichtige wenn auch sehr streitbare Persönlichkeit sehr vermissen. Die Illustrierte Neue Welt hatte das Privileg, ihn viele Jahre als Mitarbeiter zu schätzen und manchmal auch zu fürchten gelernt. Besonderes Echo fanden seine Kommentare in den 90-er Jahren zu seinen Zeichnungen aus den 60-er Jahren. Schon damals stellte er die Weigerung Österreichs, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, an den Pranger. Seine Offenheit und sein undiplomatisches Vorgehen waren auch die Gründe, warum ihm erst relativ spät die wohlverdienten Ehren zuteil wurden. Anlässlich seines 70. Geburtstages würdigte das Jüdische Museum in Wien in einer Retrospektive diesen bedeutenden Künstler.
Ein halbes Jahrhundert ist es her, dass Georg Chaimowicz seine Diplomarbeit "Steinernes Selbstbildnis – Psalm 129" beendete: In einer Wüstenlandschaft steht ein barockisierender Steinsockel, auf ihm erhebt sich das Selbstbildnis, auf der Stirn einen Davidstern tragend. Eine kleine Figur links wendet sich ab. Das Bild ist von fast unerträglicher Spannung, hervorgerufen durch die Gegensätze, die zwischen der formalen Dynamik des Sockels und der Statik der Wüstenlandschaft herrschen, zwischen der Bewegung der kleinen, sich entziehenden Gestalt und der steinernen Starre des massiven Porträts. Nicht zuletzt erhöht die Spannung der Magen David, den sich der Künstler stolz auf die Stirne stempelte, mit anscheinend leichter Hand bestätigte, dass er abgestempelt war. Demonstrativ wandelte er das Mal, das ihn stigmatisieren sollte, um in ein Zeichen trotziger Erhabenheit. Vor diesem Stolz muss die kleine Figur der Abwendung kapitulieren, sie verlässt das Bild und seinen Schöpfer, der Psalm 129 als Interpretationshilfe anbietet: "Oft haben sie mich bedrängt, von Jugend an; doch sie konnten mich nicht bezwingen. Auf dem Rücken pflügten mir Pflüger, zogen ihre langen Furchen. Der Herr ist gerecht! Er zerschnitt die Stricke der Frevler. Beschämt wandten alle sich ab, die Zion hassen!”(2-5). Auch sonst ist nichts an diesem Gemälde zufällig, jedes Detail hat seinen Sinn. Die Wüstenlandschaft symbolisiert das, was nicht vorhanden ist, ein bewusstes Nichts, in dem der Ursprung der Kreativität liegt, ein Nichts, das ein neues Etwas erst ermöglicht. Mit dem Sockel huldigte der Künstler dem Barock, diesem wunderschönen, effektiven Schmuckstil, der die nüchterne Welt triumphal zu überwinden scheint, Transzendenz vorgebend aufs Jenseits verweist und die Wirklichkeit ästhetisch verschleiert. In diese opulente barocke Welt, die die europäische Kultur so nachhaltig Jahre geprägt hat, schaltete sich der Maler Chaimowicz ein und zollte ihr seinen Tribut, indem er das künstlerische Erbe zitierte. In diese Welt schaltete sich aber auch der Jude Chaimowicz ein, indem er sich selbstverständlich eingliederte in die europäische Kulturtradition und offensiv Anspruch auf dieses Erbe erhob. Und wer Georg Chaimowicz kannte, weiß, wie viel Anspruch er darauf erhob und wie viel Wert er darauf legte, Europäer zu sein, Österreicher zu sein, Wiener zu sein. In diesem Sinne und für diesen Wert, Österreicher und Wiener zu sein, kämpfte er, oft gegen Windmühlen, öfter gegen reale Feinde, gegen Antisemitismus, Gleichgültigkeit, Vergessen und Verdrängen. Diesen Kampf – oft unkonventionell geführt – konnte nur einer aus
Liebe kämpfen, aus verzweifelter Liebe zu dieser Stadt, die ihn weitgehend ignorierte. Ja, Georg Chaimowicz war ein homo viennensis, wie diese Stadt kaum einen zweiten finden, wohl auch nicht suchen wird.
Zwanzig, dreißig und vierzig Jahre nach dem steinernen Selbstbildnis entstanden seriell geschaffene Papierarbeiten, die nur mehr mit Kratzern, Ritzungen, Erhöhungen und Vertiefungen versehen waren. Es handelt sich um Blätter, die nur kaum sichtbare Male aufweisen, von denen der Betrachter nicht weiß, ob sie verletzen sollen oder selbst Verletzungen sind. Die unscheinbaren Male irritieren den Betrachter, fordern ihn heraus zur Frage nach seinem Sinn, zur Frage, was man denn nun hier sieht, bis zur Frage, was man denn nun hier nicht sieht. Für Chaimowicz lag der Erkenntnisgewinn nicht in diesen Bildern, sondern in dem Prozess, in dem sie entstanden, einem Prozess, der sich dem Betrachter nur mitteilt, wenn er sich auf eine völlig losgelöste, meditative Schauweise einlässt. "Schau” meint in diesem Zusammenhang kontemplative Vision von etwas kaum mehr Mitteilbarem, einer Grenzüberschreitung, die der Künstler während der Arbeit durchlebt hat. Vielleicht hilft eine Geschichte, die im babylonischen Talmud tradiert wird, sich dem Hintergrund dieser Arbeit zu nähern. Im Traktat Chagiga 14b-16a, wird erzählt: "Vier traten in das Paradies ein, und zwar Ben Azaj, Ben Zoma, Acher und Rabbi Akiba", wobei "Paradies" die Umschreibung für eine metaphysische Welt ist. "Ben Azaj schaute und starb", weil er sich zu sehr in diese Welt vertiefte. "Ben Zoma schaute und kam zu Schaden", weil er an dieser Welt irrsinnig wurde. Acher wurde abtrünnig, eben ein anderer. Nur "Rabbi Akiba stieg in Frieden hinauf und kam in Frieden herunter", auch die Schau einer anderen Welt lenkte ihn nicht vom Glauben an das Wesentliche ab. Die Suche nach dem Wesentlichen scheint hinter diesen bildlosen Bildern zu stehen, eine Suche, die den Glauben daran voraussetzt sowie den Willen, dieses Wesentliche zu ertragen. Sowohl die Suche nach dem Wesentlichen als auch das Akzeptieren dieses Wesentlichen scheinen charakteristisch zu sein für eine spezifisch jüdische Kunst, deren Vertreter Georg Chaimowicz mit großem Stolz war.
In seiner "Ästhetischen Theorie" hatte Theodor Adorno sein provokantes Diktum formuliert, dass sich nach Auschwitz keine Gedichte mehr schreiben ließen. Es war im übertragenen Sinne zutiefst ernst gemeint. Ihm ging es dabei um die ästhetische Form. Nach der Katastrophe der Shoah und vor den Katastrophen, die noch folgen sollten, darf es einfach keine nur mehr "schöne" Kunst geben, die lediglich eine ideologische Mitläuferin wäre. Kunst muss die Wahrheit aufdecken und die Wahrheit ist hässlich: "Die Male der Zerrüttung sind das Echtheitssiegel der Moderne", so Adorno. Ein wahres Kunstwerk kann daher nicht mehr harmonisch sein, nicht versöhnlich, nicht glättend, nicht farbenfroh, wenn es die Welt authentisch abbilden will. Und nur die authentische Widerspiegelung der Wahrheit macht ein Kunstwerk des 20. und 21. Jahrhunderts zu einem solchen. Wo dieser Anspruch nicht gestellt wird, entsteht auch keine Kunst, höchstens eine affirmative Ästhetik. Es führt ein direkter Weg von Adornos "Malen der Zerrüttung" zu Chaimowicz‘ "Surface II (Lanzen)"-Serie aus dem Jahr 1992, in der die Tusche nur mehr zum Signieren taugt. Die eigentlichen Bilder sind Ritzungen, feinlinige Zerrüttungen am Papier. In diesem Sinne war Georg Chaimowicz nicht nur ein jüdischer Künstler, sondern auch ein konzeptioneller Künstler.
Oft habe ich Georg Chaimowicz gefragt, ob er sich selbst als jüdisch-religiösen Künstler sah.
Immer gab er komplizierte Antworten, die in einem einfachen "ja" mündeten. Ein anderer jüdischer Künstler, und zwar Barnett Newman, beantwortete dieselbe Frage mit dem Zitat des Hawdala-Segens: "Gepriesen seist Du Herr, unser Gott, König der Welt, der du unterscheidest zwischen dem was heilig und was nicht heilig ist". In völliger Übereinstimmung mit Chaimowicz setzte er hinzu: "Dies ist das Problem, das künstlerische Problem, und, wie ich denke, die wahre sprirituelle Dimension". Und diese spirituelle Dimension ist es auch, in die Georg Chaimowicz' verschlungene Wege zu Bildern führten, die auf der jüdischen Tradition eines angenommenen Bilderverbots basierten.
Die Auseinandersetzungen, die Georg Chaimowicz mit sich und seiner Kunst führte, hatten ihre Wurzeln in der biblischen Frage nach dem "Wahrhaftigen", dem "Richtigen". Die Auseinandersetzungen, die Georg Chaimowicz mit seiner Umwelt führte, hatten ihre Wurzeln in der demokratischen Frage nach dem "Wahrhaftigen", dem "Richtigen". Beide Auseinandersetzungen waren für alle Beteiligten oft schmerzhaft, doch sie führten zu jenen lebendigen Dialogen, die so charakteristisch für das Zusammentreffen mit Georg Chaimowicz dem Künstler, dem Wiener, dem Demokraten und dem Juden waren. Sein größter Wunsch war es, dass sich diese Dialoge auch nach seinem Tod fortsetzen mögen. Seine Freunde werden sich dafür einsetzen.
Felicitas Heimann Jelinek (Kunsthistorikerin und Judaiistin) in INW 6 / 7-2003
Den INW-Leserinnen ist die israelische Künstlerin Ilana Lilienthal sicher von ihren viel beachteten INW-Titelbildern her bekannt. Am 1. Mai wird im Yeshiva Museum in New York ihre Ausstellung „The New Paradise“ (das Neue Paradies) eröffnet. Eine der ausgestellten Skulpturen, „Tree of Life“ (Baum des Lebens), war schon letztes Jahr im Yeshiva Museum zu sehen und vermittelte uns gewissermaßen einen ersten Vorgeschmack auf ihre Kunst. Lilienthals Werke, die sich stilistisch nur schwer einordnen lassen, wirken in ihrer Einzigartigkeit universell und zeitlos. Sie deuten auf eine außerordentlich originelle Künstlerin, die weder Modeströmungen noch einer bestimmten Kunstrichtung folgt.
Ilana Lilienthal: Adam und Ava
Ilana Lilienthals Leben und künstlerische Entwicklung sind jedoch – paradoxerweise? – stark in der Realität verankert. Sie wurde in Tel Aviv geboren, absolvierte zwei Jahre israelischen Militärdienst. An der Tel Aviv University studierte sie Kunstgeschichte und Religionswissenschaften, in Jerusalem erwarb sie einen Abschluss in Sozialarbeit an der Hebrew University. In New York besuchte sie die renommierte Parson’s School of Design.
In den letzten zwei Jahrzehnten stellte die israelische Künstlerin auf der ganzen Welt aus: im Deutschen Museum in München, im Metropolitan Museum in New York, in Galerien in Tel Aviv, München und New York. Derzeit lebt sie mit ihrer Familie in Florida.
Formal gesehen tendiert Lilienthal zur Abstraktion – ihre Werke haben sich merklich vom Subjekt distanziert um uns Ideen und Bewusstseinszustände auf ungegenständliche Weise näherzubringen. Ihre späteren Arbeiten bestehen aus lichtreflektierenden Materialien, sprühen vor Farbe, Licht und Energie und ähneln in ihrer betonten Plastizität imaginären Mondlandschaften. Als wichtigstes formales und inhaltliches Element ihrer Bilder kann wohl das Licht selbst gelten, das sie in all seinen Formen und Erscheinungen einzufangen, wiederzugeben, zu modulieren sucht. Inhaltlich sollen Licht und Farbe uns eine neue, spirituelle oder transzendentale Dimension erschließen und uns auf diese Weise an einer universalen, kosmischen Energie teilhaben lassen.
Ilana Lilienthal kann legitim als Schöpferin eines neuen Idioms – einer Mischung aus Malerei und Skulptur – bezeichnet werden, das sie „Formalen“ oder „Sculpainting“ (eine Kombination von Malerei und Skulptur) nennt.
Zum ersten Mal fügt die Künstlerin ihren Werken auch Texte bei, welche zu integralen Bestandteilen ihrer Installationen werden.
Im Folgenden einige Auszüge aus einem Interview, das Ilana Lilienthal anlässlich ihrer Ausstellungseröffnung in New York gab:
INW: Ilana Lilienthal, was hat Sie zu Ihrer letzten Ausstellung inspiriert?
Ilana Lilienthal: Die gesamte Ausstellung basiert auf einem von Alexander und mir entwickelten Konzept. Seit wir uns kennen, unterhalten wir einen steten, unglaublich fruchtbaren Dialog. Wir kamen an einen Punkt – auch in unserer Beziehung – an dem dieses Thema uns einfach faszinierte. Die Ausstellung entstand aus einer intensiven Zusammenarbeit, in der Alexander für die Texte verantwortlich zeichnete und ich selbst für die Werke.
INW: Könnten Sie uns in einem kurzen Rundgang durch die Ausstellung geleiten?
I. L: Meine Ausstellung „The New Paradise“ (Das neue Paradies) besteht aus sieben aufeinander bezogene Installationen aus Plexiglas, faseroptischen und lichtreflektierenden Materialien, Kristallen und Licht. Ziel ist es, den Betrachter in eine andere, transformierende und gleichzeitig „transformative“ Dimension zu versetzen. Das neue Paradies enthält alle in der Bibel beschriebenen Elemente: Adam und Eva, die Schlange, Wasser, die Paradiespforte, den Baum der Erkenntnis… und dann gibt es noch Abstraktionen: Energieflüsse, Kristalle, Gold …
INW: Eva scheint hier eine besondere Bedeutung zuzukommen …
I. L: Eva soll in einem neuen Licht gezeigt werden – als Lebensstifterin und als jene Kraft, die Adam zu einem neuen Bewusstsein zu erheben suchte. Das hebräische Wort, das wir mit Erkenntnis übersetzen, beinhaltet die gleiche Wurzel im Hebräischen wie Wissen und Bewusstsein. Wenn Eva also Adam dazu auffordert, vom Baum der Erkenntnis zu essen, meint sie ihm – und damit der Menschheit – die Möglichkeit eines höheren Bewusstseins zu eröffnen, gottesähnlicher zu werden. All diese Elemente sollen den Betrachter „erheben“, ihn verwandeln, ihn ein Teil des „Neuen Paradieses“ werden lassen …
INW: Ilana, vielen Dank für das Gespräch!
War Ihr Nachbar ein Jude? Wem gehörte Ihre Wohnung? Was geschah mit der Jüdin von gegenüber? Antworten auf diese Fragen finden Sie auf www.ns-verbrechen.at/ Damit haben die Volkshochschulen Simmering und Hietzing und das Jüdische Institut für Erwachsenenbildung die Basis für eine zukunftsweisende Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte der Stadt gesetzt. Möglich wurde dies durch die Zusammenarbeit mit dem Institut für Geographie und Regionalforschung, Abteilung Kartographie der Universität Wien garantierte eine technische Realisierung dieses Vorhabens und ist ein Beispiel für eine gelungene Vernetzung zwischen Universität und Volksbildung.
Die Datenbank mit angeschlossenem Stadtplan zeigt, wo die Vertreibung und Ermordung der Juden in Wien begonnen hat: in der Gasse nebenan, zwei Straßenzüge weiter, im Bezirk. Die bislang 1600 Daten umfassenden Datenbank wird aus zwei Quellen gespeist. Für ganz Wien sind alle Jüdinnen und Juden verzeichnet, die aus Gemeindebauten vertrieben wurden. Für den Bezirk Hietzing wurden die Daten von 600 Personen, die rund um das Schloss Schönbrunn wohnten oder dort Grund oder Häuser besessen haben erfaßt. Die Daten, die Namen, die Adressen und das Schicksal alleine sind jedoch nur ein Teil dieses zeitgemäßen Versuchs, die Verbrechen auch für nachfolgende Generationen zu vermitteln. Auf die Suche nach den vertriebenen und ermordeten Juden kann sich jede/jeder machen, eine Suche mit einem digitalen Stadtplan, eine Wanderung durch Hietzing, eine Spurensuche in den Gemeindebauten.
In der Hietzinger Hauptstraße sind bislang 57 Personen erfaßt, in der Auhofstraße 17, in der Kupelwiesergasse 14 und in den Lainzer Straße 29 Personen. Die Landkarte kann in vier Stufen vergrößert werden. Eine erschreckende Wanderung durch die Geschichte kann beginnen. Gelbe Sterne markieren die aus Gemeindebauten gekündigten Juden, blaue Häuser die in Hietzing lebenden Juden. Ein Blick auf den Bezirksplan macht deutlich wie lückenlos, wie dramatisch diese Vertreibung war, noch erschreckender wird die Tatsache jedoch erst, wenn in Rechnung gestellt wird, das auch für Hietzing noch nicht alle Daten ausgewertet werden konnten. Wer diese Stadtpläne gesehen hat, kann sich nur schwer vorstellen, dass dieser Terror der Nationalsozialisten unbemerkt geblieben sein kann.
"Als im März 1938 Österreich an Deutschland "angeschlossen" wurde, waren in den sechs vorangegangenen Jahren nationalsozialistischer Herrschaft im "Altreich" einschneidende antijüdische Maßnahmen bereits beschlossen worden. Spätestens die Nürnberger Rassegesetze vom September 1935 machten klar, daß die Nazis ihre Ideologie von der "Reinerhaltung der deutschen Rasse" mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln wahr machen würden. Ein wichtiger Schritt in der Gewaltspirale, die schließlich im millionenfachen Massenmord in den deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern enden sollte, war die systematische Desintegration zunächst deutscher und dann - ab März 1938 - auch österreichischer Jüdinnen und Juden. Der Mord war verbunden mit Raub, in der damals üblichen Sprache "Arisierung" genannt. In den Jahren 1938 und 1939 wurden allein in Wien über 2000 Kündigungsverfahren gegen jüdische Gemeindebaumieter eingeleitet, insgesamt arisierten die Nationalsozialisten in den sieben Jahren ihrer Herrschaft in Wien mehr als 70.000 Wohnungen.
Die in Wien akut bestehende Wohnungsnot führte zu der Überlegung, jüdischen Mieter auch ihre Gemeindewohnungen zu kündigen, da diese Maßnahme am geeignetsten schien, schnell zu freien Wohneinheiten zu kommen. Soferne die Bauten vor 1917 erbaut worden waren, galt für die dort lebenden jüdischen Mieter der Kündigungsschutz. Nur die Wohnungen, die zwischen 1917 und 1938 gebaut worden waren, unterlagen nicht den Kündigungsbeschränkungen des Mietengesetzes; Mieter konnten also ohne Angaben von Gründen mit einer zweiwöchigen Frist gekündigt werden. Die Erfassung der jüdischen Mieter dürfte bereits im Rahmen der Volksabstimmung durch die örtlichen NS-Parteidienststellen erfolgt sein. Unzählige Listen wurden ausgestellt, die genaue Unterscheidungen wie "Volljude, Halbjude, Hauptmieter Jude, Gattin Jüdin, Mann Arier, Frau Arier, Schwiegersohn Jude, gilt als Jude" aufwiesen. Hausverwaltungen und -besitzer wurden angewiesen, die jüdischen Mieter zu den zuständigen Wohnungsreferenten der jeweiligen Kreisleitung zu melden.
Dr. Robert Streibel, Historiker und Publizist,
Direktor der Volkshochschule Hietzing. (12/1-2002/03)
Weitere Informationen auf der homepage www.ns-verbrechen.at, Deutsch und Englisch.
Unterstützt wurde dieses Projekt vom
Österreichischen Nationalfonds der Republik Österreich und den Magistratsabteilungen 13 und 7 der Stadt Wien.
Keine Kataloge, keine Zeitungskritiken berichten von Betty Freund. Nur an Hand weniger Fotografien kann man sich durch ihr Leben blättern. Eine Fotografie aus den 20-er Jahren zeigt die Künstlerin in einer festlichen, engen Robe, die sich am unteren Ende zu einer breiten Schleppe weitet – dort sind am Saum Musikplatten befestigt. Das ungewöhnliche Kleid ist von ihr entworfen und ausgeführt. Man betrachtet eine hübsche Frau und spürt, dass sie voller Lebenslust und neuer Ideen ist.
Das Kleid trug sie bei einem der legendären Feste an der Wiener Kunstgewerbeschule, wo sie in der Zeit von 1926 bis 1930 bei Prof. Eduard J. Wimmer zuerst in der Werkstätte für Textilarbeit und anschließend in der Werkstätte für Modewesen studierte.
Einer ihrer Studienkollegen war Friedrich von Berzeviczy-Pallavicini, der ihr, so die Überlieferung, bei einem Treffen den Schal galant aus dem Wienfluss gerettet hat. Berzeviczy-Pallavicini beschrieb ihren gemeinsamen Lehrer: "Professor Wimmer hatte einen großartigen Spürsinn, das Neue, das Elegante, Künstlerische, Modische in allem herauszufinden. Vor und nach dem Ersten Weltkrieg war man in Wien nicht so gut über die internationale Mode informiert, nur ganz Privilegierte, die gereist waren, hatten einen gewissen Überblick, was in der großen Welt geschah."
Im Jahr 1929 bestand die Klasse von Betty Freund aus 29 Schülern, 27 davon waren weiblich. In den 30 Wochenstunden studierte man – Die männliche und weibliche Kleidung, ihr Entwurf, ihre Herstellung und ihre zeichnerische Darstellung.
Später ging Betty Freund auf Wunsch ihrer Eltern, die ihr zusätzlich eine Lehre als Schneiderin empfahlen, nach Michelbeuren und absolvierte dort diese Ausbildung.
In einer Bewerbung schreibt sie selbstbewusst:"Als Absolventin der staatlichen Kunstgewerbeschule Wien habe ich in der Modeklasse Prof. J. Wimmer gearbeitet und mit Auszeichnung abgeschlossen. Seit einem Jahr bin ich von dem ersten schwedischen Unternehmen für Sport und Modebekleidung als Modezeichnerin und Beraterin engagiert und habe auf beste Erfolge hinzuweisen. Mit viel praktischer Erfahrung in Anwendung und Ausführung von Modellen kann ich infolge meiner ausgesprochenen kultivierten und originellen Entwurfsfertigkeit den höchsten Ansprüchen eines führenden Modehauses entsprechen."
1933 erhält sie eine Einladung vom Bayrischen Nationalmuseum. Die Staatliche Kunstbibliothek in Berlin möchte die Ausstellung – Die Modezeichnung – in der auch ihre Werke vertreten sind, in Berlin zeigen.
Die Karriere fing also vielversprechend an. Geblieben sind einige Modeentwürfe, wenige Fotos und ein großartiger Gobelin – den man als Betty Freunds Lebenswerk bezeichnen muss. Denn sie arbeitete an ihm beginnend 1926 und wieder nach 1973. Etwa 150 x 150 cm groß, aus französischen Seiden bestehend, zeigt dieses Werk eine beeindruckende Komposition mit abstrakten Formen, Blumen und Paradiesvögel. Ein Springbrunnen voller Farben. Man kann an Impulse der rumänischen Volkskunst und des Surrealismus denken, die hier zu einer wirklich virtuosen Kreation verarbeitet sind. Dieser Gobelin ist Zeugnis einer heute leider nur mehr ahnbaren Kreativität voller Fantasie und Farbsensualismus. Dieser Gobelin ist aber auch stummes Zeugnis einer Verhinderung – Verhinderung von Leben und Kunst. Denn für Betty Freund und für viele andere ihrer jüdischen Kolleginnen und Kollegen wurde die Ära des Nationalsozialismus auf Grund ihrer Abstammung zum Verhängnis. Jene, die zu diesem Zeitpunkt bereits tot waren, wurden aus der österreichischen Kunstgeschichte gelöscht und totgeschwiegen. Die anderen, die auf dem Höhepunkt ihrer Karriere standen, mussten das Land verlassen oder endeten im Konzentrationslager. Ab Ende der 30er Jahre sind jüdische KünstlerInnen in Österreich nicht mehr präsent. Da ihre Werke im Ausland, in Privatbesitz oder verschollen waren, gerieten sie auch zunehmend in Vergessenheit.
Betty Freund konnte diese Zeit, geschützt durch die Ehe mit Franz Herberth, zwar lebend überstehen, aber sie hatte keine Möglichkeit für künstlerisches Schaffen. Ihr Talent versickerte im Nichts.
1933 heiratete sie ihren Kollegen Franz Herberth, der an der Kunstgewerbeschule Graphik studierte. 1934 wurde ihr gemeinsamer Sohn geboren, den sie zu Hause versorgte. Als sie gerade am Weg zu ihren Eltern nach Bratislava war, marschierten die Truppen Hitlers ein. Ihr Bruder konnte nach Israel flüchten. Sie blieb bei ihrem Mann. 1938 wurde Franz Herberth von seiner Lehrtätigkeit an der Kunstgewerbeschule entlassen, der Ausschluss vom Bund Österreichischer Gebrauchsgraphiker wegen nicht arischem Ehepartner folgte. 1940 erhielt er Berufsverbot. Betty wurde als Uniformschneiderin von Abzeichen, Epoletten und Aufschläge zur Heimarbeit zwangsverpflichtet. Die Bezahlung war minimalst und sie stand bei der Arbeit unter enormen Zeitdruck, sodaß die ganze Familie mithelfen musste. Zugleich stand der Schrecken einer Deportation ständig vor der Tür – Drorygasse 8 im 3. Bezirk in Wien. Nach 1945, als die Zeit halbwegs heil überstanden war, malte Betty Freund nur mehr auf glasierte Keramiken, die als Reste des zerstörten Daches vom Wiener Stephansdom herumlagen. Sie malte das Madonnenbild im Wiener Stephansdom – die Maria Pötsch –, um etwas Geld zu verdienen. Künstlerisch hat Betty Freund auch später nicht mehr gearbeitet. Sie verbrachte die letzten Jahre ihres Lebens in einem kleinen Häuschen in Pulkau.
Der Gobelin wurde 1960 ein einziges Mal im französischen Saal des Wiener Künstlerhauses bei einer Ausstellung des Neuen Hagenbundes ausgestellt. Nach dem Tod ihres Mannes begann sie den ursprünglich sehr hellen Gobelin im Hintergrund schwarz auszusticken – Symbol ihrer Jugend und Liebe und Trauer!
Gabriela Nagler (12/1– 2002/2003)
Initiatorin und Gründerin dieses Vereins, der seit Mai 1996 existiert, ist die Wiener Kulturmanagerin Dr. Primavera Gruber. Sie hatte in den achtziger Jahren mit grossem Erfolg das Klangforum Wien aufgebaut. Im Rahmen eines Festivals gab es 1992 eine kleinere Veranstaltung zum Thema Entartete Musik, für die sie Noten und Aufführungsmaterial suchte. Es war zunächst, wie sie sich erinnerte, hier in Österreich kaum etwas an Informationen zu Notenmaterial vorhanden, es gab niemanden, der uns da helfen konnte. Da die Künstler, die beim Klangforum auftraten, aus verschiedenen Ländern kamen, konnte so intensiver recherchiert werden; vor allem wurde man zunächst in der Schweiz fündig. Als sich Primavera Gruber entschlossen hat, sich selbständig zu machen, war sie unter anderem als künstlerische Beraterin für das israelische Klaviertrio Amber-Trio Jerusalem, dessen Musiker beim Alban Berg Quartett studierten, auf der Suche nach Exil-Musik. Seit dieser Zeit ist das Suchen und Aufspüren diesbezüglicher Kunst kontinuierlich erfolgt. Denn, wie Primavera Gruber erklärt, das Gebiet war wie in weißer Fleck. Die Leute, die ich durchs Herumfragen hier in Wien wie auch außerhalb ausfindig machen konnte, wussten oftmals nichts voneinander.
Nicht nur die Tatsache, dass das doch recht gut in der Öffentlichkeit bekannte und sehr gut ausgestattete Jüdische Museum in Hinblick auf Musiksammlungen oder Musiknachlässe keine weiterführende Hilfe oder Information liefern konnte, war zunächst bedauerlich. Wie Primavera Gruber meint, dürfte diese unbefriedigende Situation mehrere Gründe gehabt haben: Das Jüdische Museum stützt sich vordringlich auf jüdische Literatur und Kunstgegenstände. Musik braucht immer doch eine Aufführung, es braucht Noten und vor allem den Interpreten. Der Interpret spielt aber nur dann, wenn er erstens von dieser Musik weiß und zweitens einen Veranstalter hat, der das finanzielle Risiko übernimmt.Die Gründung des Vereins war ein unbequemer Versuch, sich der Verantwortung des "Musiklandes Österreich" zu stellen und eine schmerzliche Lücke zu schließen. Trotz verweigerter öffentlicher Förderung konnte seit der Gründung bis heute eine kontinuierliche Arbeit geleistet werden. Nach und nach gelang es beispielsweise, ein dichtes Netz an Kontakten mit Wissenschaftlern, Veranstaltern, Künstlern und Interessenten zu knüpfen. Zunächst machte sich die Gründerin in Eigeninitiative und ohne finanzielle Förderung im Rücken daran, Zeitzeugen zu befragen und diese Oral-history-Interviews mit Vertriebenen und Angehörigen schriftlich zu transkribieren und aufzubereiten. Bis heute liegen rund 100 dieser Interviews vor, auf DAT, dass man sie auch im Rundfunk bringen könnte. Nach und nach wuchs bei einigen Wiener Politikern endlich ein Bewusstsein für exilierte Musiker, so brachte die Stadt Wien Mittel für das Ernst-Krenek-Institut auf und errichtete das Arnold Schönberg Center. Von Anfang an war das Bestreben vorhanden, mit anderen Institutionen zu kooperieren, und so wurden bisher die meisten Veranstaltungen auch als Koproduktionen durchgeführt.
Die Aufgabengebiete des Vereins Orpheus Trust, der heute 250 Mitglieder umfasst, sind auf drei Ebenen angesiedelt. An erster Stelle widmet man sich der Erforschung und Dokumentation von Leben und Werk der aus Österreich vertriebenen oder im KZ getöteten Musikschaffenden, konkret Komponisten, Interpreten, Musikwissenschaftlern und Musikpublizisten. Hier ist der Aufbau einer Datenbank zu nennen, die permanent vervollständigt wird und derzeit biografische und künstlerische Daten zu 3280 Persönlichkeiten umfasst. Primavera Gruber schätzt, dass sich die Zahl bis auf 5000 oder 6000 steigern könnte. (Es betrifft jene Künstler, die, wenn das Geburtsdatum vor 1918 liegt, auf dem Gebiet der ehemaligen Donaumonarchie geboren sein müssen, und nach 1918 in der Republik Österreich.) Über die Datenbank hinaus gibt es eine Werkdatenbank mit ca. 5500 Werken dieser Komponisten. Die Leiterin hat eigens eine Maske entwickelt, in der beispielsweise alle exilierten jüdischen Komponisten (ca. 580) herausgesucht werden können. Ziel ist es, diese Daten über kurz oder lang in einem Lexikon zu vereinen, doch auch hier muss die finanzielle Basis noch gesichert werden. Zur Forschung gehören auch die Interviews mit Zeitzeugen und die Aufbereitung des Nachlasses Fritz Spielmanns, angegliedert ist der Fritz Spielmann-Fonds, der jungen Exilmusikforschern kleine Projektstipendien zur Verfügung stellt.
Das zweite große Arbeitsgebiet ist die Organisation von Aufführungen und Veranstaltungen. Hier soll beispielsweise die für Wien adaptierte Hanns Eisler Ausstellung der Berliner Akademie der Künste genannt werden oder eine Videovorführung über Herbert Zipper, den Komponisten des Dachau–Liedes. Seit Beginn der Vereinsarbeit fanden über 90 Konzerte, Vorträge, Symposien oder Ähnliches statt. Für Dezember ist ein Kolloquium zum Thema Vally Weigl, der Frau des Komponisten Karl Weigl, geplant, die eine Pionierrolle als Musiktherapeutin in den USA einnahm.
Das dritte Gebiet der Vereinsarbeit ist die Vermittlung, der Informationsaustausch und die Vernetzung zwischen den Gebieten der Forschung und des Musikbetriebs. Hier kann die Datenbank eine große praktische Hilfe leisten, denn Orpheus Trust kann Programmvorschläge liefern, da in der Computermaske auch Quellennachweise und das Urheberrecht der Noten angegeben sind. Der Verein organisiert Gesprächsveranstaltungen mit Zeitzeugen in Schulen oder anderen Bildungseinrichtungen und es besteht sogar die Möglichkeit einer Non–profit–Vermittlung von Dirigenten, Solisten und Ensembles, die Exilmusik in ihrem Repertoire haben. Wichtig ist auch das – im Aufbau befindliche – Archiv. Hier stehen dem Nutzer Kompositionen, Werkkopien, Tonaufnahmen, biografische Materialien und Sekundärliteratur zur Verfügung, um Recherchen zu erleichtern und auch eine mediale Begleitung für die Presse zu ermöglichen.
Wenn man Revue passieren lässt, mit welchem Durchhaltevermögen sowohl die Gründerin als auch die Beteiligten, die jahrelang ehrenamtlich die Arbeit des Vereins betrieben und für die Konzerte hin und wieder minimale Zuschüsse bekamen, das Projekt vorantrieben, nämlich der vom NS–Regime verbotenen Musik endlich wieder den ihr gebührenden Raum zu geben, ist das achtungsgebietend. Primavera Gruber selbst formuliert es bescheidender: "Ich habe zuerst eigentlich ein paar Freunde gefragt, ob sie mich beim Aufbau unterstützen. Es wurde dann ein Schneeballprinzip. Ich konnte das gar nicht absehen, weder, wieviel Arbeit ich mir aufladen würde, noch, wie fündig wir werden würden." Ihre normale Arbeit als Kulturmanagerin musste sie völlig aufgeben, aber es wäre für sie nicht vorstellbar, die Arbeit am Orpheus Trust einzustellen. Unüberhörbar ist aber die Bitterkeit, dass sich trotz der beträchtlichen Erfolge die Politiker und Kulturverantwortlichen in mündlichen Beteuerungen ergehen und sich zu keiner kontinuierlichen Förderung entschließen können. Entmutigen lässt sie sich davon nicht, auch nicht von der gegenwärtigen komplizierten politischen Situation in Österreich: weder wird sie aufgeben, noch sich oder den Verein als Aushängeschild missbrauchen lassen. Befragt nach Wünschen für die Zukunft bekräftigt sie, dass sie sich einen noch regeren Austausch wünscht, dass Anfragen aus dem In– und Ausland gerne bearbeitet werden und dass weiterführende Informationen von Zeitzeugen, so etwa von den Lesern der INW, mit grossem Interesse aufgenommen werden. (Von der Redaktion gekürzt)
Beate Hennenberg (Nummer 4/5 2001)
Zur Auflösung des Orpheus-Trust siehe Heft 4/5 2007 und 12 / 1_2005/6. www.orpheustrust.at/
Die Erinnerungsarbeit an Nationalsozialismus und Holocaust blieb über Jahrzehnte hindurch den Opfern des Regimes und des Vernichtungsplanes vorbehalten. Das gilt für Museen, Mahnmale und für die Literatur gleichermaßen, während in den Nachfolgestaaten des Dritten Reiches, in Deutschland und Österreich, vergleichsweise wenig Trauer- und Erinnerungsarbeit geleistet wurde, und man bis heute kaum von einer entwickelten Erinnerungskultur sprechen kann. Spät errichtete und vergleichsweise wenige Mahnmale, die an die Verbrechen erinnern, späte Empathie mit den Opfern und lückenhafte Auseinandersetzung mit den Tätern waren das Umfeld für die dritte und vierte Generation in Deutschland und Österreich, die in den 1970er und 1980er Jahren aufgewachsenen Enkeln und Urenkeln der einstigen Täter und Täterinnen, bei denen man nie sicher sein konnte, ob sie ihren Taten wirklich abgeschworen hatten.
Von Vertretern dieser Generation liegt nun ein im Wiener Löcker-Verlag unter dem Titel Jenseits des Schlussstrichs veröffentlichter Sammelband vor. Vier aus dem Umfeld des Gedenkdienstes stammende Herausgeber nahmen das heurige 10-jährige Bestandsjubiläum des Vereins Gedenkdienst zum Anlass für eine ausführliche Diskussion über die Bedeutung von Nationalsozialismus und Holocaust für Nachgeborene. Das Besondere an dem Band ist, dass Herausgeber und Autoren sich der Introspektive stellen, dass nicht der Umgang anderer mit dem historischen Erbe von Nationalsozialismus und Holocaust, sondern der erstmals eigene kollektive Umgang – die Selbstreflexion – im Vordergrund steht.
Im ersten von insgesamt fünf Kapitel setzen sich Wissenschafter mit Strategien der Nachgeborenen auseinander. In einem programmatischen Artikel thematisiert der Bochumer Professors Norbert Frei, der sich erst vor kurzem um die Nachfolge des Zeithistoriker-Lehrstuhl von Anton Staudinger beworben hatte, den mit dem Wegsterben der Zeitzeugen eingetretenen Generationenwechsel – "Erbantritt" – und die damit verbundenen Aufgaben für die Geschichtswissenschaft. Die Wiener Zeithistorikerin Margit Reiter, Habilitationsstipendiatin im Rahmen des Charlotte Bühler-Stipendiums, analysiert in ihrem Beitrag die zweite Generation in Österreich und weist sowohl auf Unterschiede zwischen der BRD wie auch zwischen den Generationen und Geschlechtern hin. Einer aktuell brisanten Fragestellung geht Brigitte Bailer-Galanda, Historikerin des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands und Mitglieder der Historikerkommission, in einem Essay über Restitution nach: Warum sollen Generationen zahlen, die nichts verursacht haben?, während der israelische Psychologieprofessor Dan Bar-On (Ben Gurion-Universität) mit seinem Beitrag über Mitläufer als Opfer, Helfer und Täter einen thematischen Bezug zu sozialpsychologischen Fragen der Gegenwart herstellt. Alexander Joskowicz, Doktorand an der Universität von Chicago, analysiert die jüdischen Gedenkdiskurse der fünfziger und sechziger Jahre, und berichtet von den mitunter verzweifelten Versuchen der Israelitischen Kultusgemeinde und ihrer Repräsentanten, eine positive jüdische Identität in Österreich zu schaffen. Als Quellenmaterial für zukünftige Forschungen kann das Interview mit Franz Vranitzky, dem früheren Bundeskanzler und Proponenten des österreichischen Paradigmenwechsels im offiziellen Vergangenheitsdiskurs, gelten.
Während im ersten Kapitel vor allem grundsätzliche Beiträge zu finden sind, geht es im zweiten Kapitel um die Details der – mit diesem Buch erstmals öffentlich zugänglichen – Gedenkdienstarbeit. Individuelle Zugänge, Motivation, Institutionalisierung, das Vorbild der deutschen Aktion Sühnezeichen Friedensdienste und Nachfolgeprojekte, deren Anzahl ebenso überrascht wie das vielfältige Spektrum der Aktivitäten, werden ebenso beschrieben wie das Verhältnis zur FPÖ. Darauf und auf das erste Kapitel aufbauend folgen drei Kapitel, die sich mit den Arbeitsfeldern im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit im Allgemeinen und im Rahmen des Gedenkdienstes beschäftigten: die Begegnung mit Überlebenden des Holocausts, die Zeitgeschichteforschung und die pädagogische Vermittlung. Artikel von in diesen Bereichen etablierten Wissenschaftern stehen Beiträge von Gedenkdienst-Mitarbeitern gegenüber. Die Information über Gedenkdienst wird mit einem detaillierten Anhang über die Einsatzstätten ergänzt.
Dass der Band im Jahr 2002 erschienen ist, mag – 57 Jahre nach Kriegsende und Fall des Nationalsozialismus – anachronistisch anmuten. Ein Eindruck, der spätestens mit der Lektüre des Buches schwindet und sich geradezu ins Gegenteil umkehrt. Die Auseinandersetzung mit NS und Holocaust ist noch lange nicht abgeschlossen – anachronistisch erscheinen da eher die zuletzt von Martin Walser und Rudolf Burger postulierten und von Politikern allzu gern aufgegriffenen Metaphern vom Schlussstrich. Das belegt auch ein im Herbst dieses Jahres im Berliner Philo-Verlag erscheinender Sammelband mit Beiträgen deutscher Autoren – hervorgegangen aus einer zweisemestrigen Seminarreihe über die "Bedeutung des Holocaust für die dritte Generation" an der Freien Universität Berlin. Auch mit diesem Band reklamieren sich Angehörige der dritten Generation in die Diskussion.
J. N. (8/9 - 2002)
Martin Horváth, Anton Legerer, Judith Pfeifer, Stephan Roth (Hg.): Jenseits des Schlussstrichs. Gedenkdienst im Diskurs über Österreichs nationalsozialistische Vergangenheit,Löcker Verlag 2002, 335 Seiten, EUR 25, ISBN 3-85409-367-5.
Jens Fabian Pyper (Hg.): Uns hat keiner gefragt. Positionen der dritten Generation zur Bedeutung des Holocaust, Philo Verlag 2002, 291 Seiten, EUR 19,90, ISBN 3-8257-0247-2.
Seit April 2002 ist Österreich mit einem zweiten vielbeachteten Kulturobjekt in New York vertreten. Nach der Neuen Galerie (INW 2/3_2002) öffnete nun auch das Austrian Cultural Forum einem Österreich-interessierten Publikum seine Tore.
Architekt des kleinen, aber feinen Kulturinstituts ist niemand geringerer als der 1964 nach Amerika emigrierte und seit 1971 in New York lebende Raimund Abraham. Der gebürtige Tiroler ist seit kurzem auch Pass-Amerikaner, nachdem er aus Protest gegen die FPÖ Regierungsbeteiligung auf seine österreichische Staatsbürgerschaft verzichtet hat.
Raimund Abraham, der neben einem ständigen Lehrauftrag an der Cooper Union und am Pratt Institute in New York City auch in Yale, Harvard, Los Angeles, London, Strassburg und Graz unterrichtete, erhielt zahlreiche internationale Preise für seine Entwürfe, u. a. für das Rainbow Plaza (Niagara Fälle, Bundesstaat New York), den Times Square Tower in New York, die Internationale Bauausstellung in Berlin; zweite Preise errang er für Projekte wie das Centre Pompidou und die Oper La Bastille in Paris, das Jüdische Museum in Berlin und das Neue Akropolis Museum in Athen.
Abraham, der mit seiner "imaginären Architektur" vor allem als Theoretiker galt, ging 1992 mit seinem Entwurf für das Österreichische Kulturinstitut in New York aus einem anonymen Wettbewerb von 226 Eingaben (darunter auch von Hans Hollein) als Sieger hervor (unter den Juroren befanden sich Stararchitekten Richard Meier, Charles Gwathmey, Kenneth Frampton und Hermann Czech).
1993 im Museum of Modern Art als Modelle ausgestellt, zählt das neue Gebäude schon jetzt zu New Yorks Architekturmeilensteinen.
Das schmale, keine acht Meter breite Grundstück wurde brillant genutzt, um zwischen die angrenzenden Häuserblöcke einen 24-stöckigen "Miniwolkenkratzer" mit schräg abfallender Aluminium-Glasfassade aufzuziehen, dessen Profil Assoziationen an einen Steilhang, an einen Wasserfall, an ein Osterinsel-Totem oder an eine Guillotine wachruft. Abraham selbst beschreibt das Gebäude in seinen drei konstitutiven Elementen als eine Verschränkung der "Vertebra" - womit die nördliche Feuerstiege am Rücken des Gebäudes gemeint ist, des strukturierenden Mittelturms, der die Funktionsräume umfasst, und der auf die Straßenseite ausgerichtete Glasfassaden-Maske", die durch vorstehende Volumina kontrapunktiert wird.
Im Innern beherbergt das zwischen Fifth und Madison Avenue zentral in Midtown Manhattan gelegene Kulturforum ein Foyer, eine Galerie, ein Theater, eine Mini-Cafeteria, eine zweigeschossige Bibliothek mit rund 10.000 Büchern, ein multifunktionales Stockwerk für Vorlesungen und Seminare, Direktionsräume, drei Bürogeschoße, einen Loft für Besprechungen und ein Technik-Stockwerk. Darüber befinden sich noch die Wohnungen für den Hausmeister, für Gäste und für den Leiter des Kulturforums, Christoph Thun-Hohenstein, sowie eine Aussichtsterrasse. Auch für die Innenausstattung zeichnet Abraham mit von ihm entworfenen, in Österreich maßgefertigten Möbeln verantwortlich.
Vielschichtiges Programm
Als seine wesentlichste Aufgabe erkenne das österreichische Kulturforum die Vermittlung von Kunst und Kultur jenseits aller Österreich-Klischees, meinte Staatssekretär Franz Morak in seiner Eröffnungsrede. In diesem Sinne ist auch Christoph Thun-Hohensteins ambitiöses dreimonatiges multidisziplinäres Eröffnungsprogramm zu verstehen, das bereits am Inaugurationsabend mit Roman Haubenstock-Ramati und Franz Hackl und dem Klangforum Wien, gefolgt von einem mehrstündigen "Musik-Marathon", seinen Auftakt nahm.
Im April fanden bereits das Symposium „Mediations: Archäologies and Transformations in the Electronic Sphere“ und das Elektronik-Festival "phonoTAKTIK" statt. Anfang Mai verknüpfte das Festival "Transforming Literature" Literatur mit anderen Kunstsparten, während "Transforming the Sound of Music“ lebende Kompositionen präsentierte. Am 22. Mai wurde die Ausstellung "TransModernity: Austrian Architects" eröffnet, auf die Ende des Monats vier von Wolfgang Muthspiel konzipierte "Mostly Jazz"-Tage folgten. Im Juni stehen das Film- und Videofestival "VISIONary" mit einem Avantgarde-Schwerpunkt und eine weitere Installation von Granular Synthesis auf dem Programm. Den Abschluss bildet im Juli eine Vorlesungsreihe österreichischer und amerikanischer Künstler unter dem Titel "Thinking Out Loud".
Daniela Nittenberg (INW 4/5_2002)
Mehr Informationen und das detaillierte Veranstaltungsprogramm sind auf der Webseite des Austrian Cultural Forums zu finden.
Seit November 2001 besitzt New Yorks Museumsmeile ein neues Juwel: Die Neue Galerie New York, deren Ziel es ist, dem amerikanischen Publikum deutsche und österreichische Kunst der Moderne näher zu bringen.
Die Sammlung umspannt mehrere Medien und umfasst neben Malerei, Graphik und Skulptur auch Kunstgegenstände und Möbel.
Die Neue Galerie, deren programmatischer Name bewusst an Otto Kallirs 1923 gegründete Neue Galerie anschließt und in dem die Aufbruchsstimmung des beginnenden 20. Jahrhunderts anklingt, verdankt ihre Existenz zwei Persönlichkeiten, die während ihrer dreißigjährigen Freundschaft eine gemeinsame Leidenschaft teilten: Österreichische und Deutsche Kunst der Moderne, deren erlesenste Werke, so träumten die beiden, eines Tages einer breiteren Öffentlichkeit in einem ihnen eigens gewidmeten Museum zugänglich gemacht werden sollten.
Die Freundschaft der beiden Männer geht auf das Jahr 1967 zurück, noch ehe Serge Sabarsky 1968 seine erste Galerie eröffnete, die in kürzester Zeit zur führenden Galerie für Österreichische und Deutsche Kunst des Expressionismus avancieren sollte. Ronald Lauder war ein häufiger Besucher und Kunde, wie aus folgender Anekdote hervorgeht: Eines Tages fragte Lauder seinen älteren Freund: Sag' mir, Serge, Gott und die Welt kommt zu Deinen Vernissagen, aber wie viele Kunden kaufen tatsächlich Schiele? Genau zwei, antwortete Sabarsky. Darauf Lauder: Du kannst meinen Bruder und mich dazuzählen. Sabarsky: Hab' ich schon.
Der 1912 in Wien geborene Serge Sabarsky kam erst relativ spät zur Kunst, nach einer Karriere als Bühnenbildner an Wiens führender Kabarettbühne, dem Simplicissimus, und später als Clown einer Zirkustruppe.1939 emigrierte er in die Vereinigten Staaten und trat der US Armee bei, in deren Reihen er in Deutschland und Frankreich kämpfte. Nach Kriegsende kehrte Sabarsky nach New York zurück, es dauerte jedoch noch 20 Jahre ehe es bei einer Schiele und Klimt Ausstellung im Guggenheim Museum zu einem Schlüsselerlebnis kam. Seine Faszination vor den ausgestellten Werken löste eine Art Sammlerimpuls in ihm aus, der ihn zu einem führenden Sammler dieser Kunstrichtung werden ließ - und schließlich zur Eröffnung seiner Galerie an der Madison Avenue führte.
Für nahezu 30 Jahre blieb diese Galerie Sabarskys Stützpunkt und erste Anlaufstelle für Experten, Interessierte, Kunstliebhaber und Sammler Österreichischer und Deutscher Moderne.
1978 begann Sabarsky umfangreiche internationale Ausstellungen zu organisieren. Teile seiner Kollektion wurden an Museen in aller Welt verliehen. Nach Sabarskys Schätzungen sahen etwa 10 Millionen Menschen Meisterwerke aus seiner hochkarätigen Sammlung.
1992 eröffnete er das Egon Schiele Zentrum in der tschechischen Republik. Das Zentrum, in einer ehemaligen Brauerei aus dem 16. Jahrhundert untergebracht, dient sowohl dem Studium der Schiele-Werke als auch zeitgenössischen Künstlern als Atelier. Präsident ist Ronald Lauder, dem auch in der Realisierung der Neuen Galerie in New York eine Schlüsselrolle zugekommen war. Lauders Interesse an österreichischer und deutscher Kunst geht auf seinen österreich-ungarischen gefärbten Familienbackground zurück. Von 1986-87 war Lauder zudem amerikanischer Botschafter in Österreich. Lauder, der heute auch der Präsident der Neuen Galerie New York ist, tätigte seinen ersten Kunstkauf 1957, als er mit seinem Bar-Mitzwa-Geld seine erste Schiele-Zeichnung erstand.
Es war daher nur natürlich, dass der langjährige Freund und Sammler nach Sabarskys Tod 1996 das gemeinsam entworfene Projekt fortsetzte. 1994 hatten die beiden an der Fifth Avenue und 86sten Straße das ideale Gebäude gefunden. In die ehemaligen Vanderbilt Villa, die den eleganten Häuserreihen im Stile Louis XIII der Place des Vosges in Paris nachempfunden war, zog nach 1953 das YIVO (Yiddish Institute) ein. Das YIVO, das die Residenz in ein Bürogebäude umwandelte, hatte - aus Gründen der Sparsamkeit - das Interieur der Villa als solches belassen und lediglich die allzu dekorative Innenausstattung notdürftig verdeckt.
Lauder beauftragte die in Köln geborene Architektin Annabelle Selldorf mit der musealen Umgestaltung. Zu Selldorfs vormaligen kunstbezogenen Projekten zählen Entwürfe für New Yorker Galerien zum Beispiel für Barbara Gladstone - als auch Renovierungsarbeiten, wie jene des gotischen Palazzo der Fondazione Ortamia in Venedig.
Was die Arbeit an der Neuen Galerie betrifft, so beschränkte sich Selldorf auf das Wesentlichste, um den Originalzustand wieder herzustellen und gleichzeitig den Anforderungen heutiger Museen gerecht zu werden.
Das Museum, das alle sechs Stockwerke des Gebäudes einnimmt, beinhaltet neben seiner auf zwei Stockwerken untergebrachten Sammlung im Erdgeschoss eine Buchhandlung, einen Designshop und vor allen ein echt Wiener Kaffeehaus mit original Jugendstileinrichtung mit Lampen von Josef Hoffmann, Möbeln von Adolf Loos und von Otto Wagner entworfenen Stoffüberzügen.
Die Sammlung selbst umfasst Werke von Gustav Klimt, Egon Schiele und Oskar Kokoschka, die mit Objekten der Wiener Werkstätte von Josef Hoffmann, Koloman Moser und Dagobert Peche und mit von Adolf Loos und Otto Wagner entworfenen Einrichtungsgegenständen im ersten Stock ergänzt werden. Das malerische und graphische Ensemble wird durchgehend mit Objekten kontrastiert und vermittelt in hervorragender Weise ein Gesamtbild des künstlerischen Schaffens der Wiener Jahrhundertwende.
Der zweite Stock ist der deutschen Kunst der Moderne gewidmet. In drei (leider recht engen) Räumen sind Meisterwerke des Blauen Reiters - von Vasily Kandinsky, Gabriele Münter, Franz Marc bis zu August Macke und Emil Nolde anzutreffen, die haarscharf mit jenen der Brückemaler Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner, Max Pechstein und Karl Schmidt-Rottluff rivalisieren. Nicht zu vergessen die Universalkünstler des Bauhauses - Laszlo Moholy-Nagy, Lyonnel Feininger, Paul Klee, Oskar Schlemmer und die kühlen Realisten der Neuen Sachlichkeit Max Beckmann, George Grosz, Otto Dix und Christian Schad. Industrielles Design des Bauhauses und des Werkbunds wird im letzten Raum von Marcel Breuer, Mies van der Rohe, Peter Behrens und Wilhelm Wagenfeld vorgeführt. Eine historische Fotogalerie mit Portraits der ausgestellten Künstler lockert diese spannungsvolle Inszenierung zum Abschluss auf. Man kann sich bei bestem Willen jedoch des Eindrucks nicht erwehren, dass, so vorbildlich die Präsentation der österreichischen Kunst auch gelungen ist, die deutschen Werke hier eine eher stiefmütterliche Behandlung erfahren.
Die Räume des zweiten Stockwerks sind weiters für temporäre Sonderausstellungen vorgesehen.
Was die Sammlungsbestände betrifft, so ist hervorzuheben, dass Sabarskys Sammlung nicht der Neuen Galerien einverleibt, sondern lediglich zur Verfügung gestellt wurde. Nach Angaben von Museumskuratorin Renée Price (die 1981 zu Sabarsky gestoßen war), besitzt das Museum selbst etwa 100 Werke und verfügt über ein eigenes Ankaufsbudget. So wurde beispielsweise zu Beginn letzten Jahres Max Beckmanns spektakuläres Selbstportrait bei Sotheby's um 20,5 Millionen $ erstanden, allerdings mit Unterstützung des Sammlers Leon Black.
Was die Höhe des Budgets betrifft Ronald Lauder war bisher für alle Kosten aufgekommen - so hüllt sich die derzeitige Direktion in Schweigen. Die Finanzierung der nächsten zwei Jahre wäre durch einen designierten Fonds gesichert, darüber hinaus werde man aber, so Renée Price, nach anderen Finanzierungsmöglichkeiten Ausschau halten müssen.
Daniela Nittenberg (INW 4/5_2002)
Neue Galerien New York, 1048 Fith Avenue, NY 10028
Amos Oz, Jahrgang 1939, ist ein prominenter Vertreter der israelischen Friedensbewegung, Autor zahlreicher Romane sowie Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Das Interview mit dem Schriftsteller, geführt von Hubert Spiegel, ist am 16. April 2002 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen.
FAZ: Die ganze Welt fragt sich, was im Flüchtlingslager von Dschenin wirklich stattgefunden hat. War es ein Massaker?
Amos OZ: Ich habe mit zwei Soldaten gesprochen, die an den Kämpfen in Dschenin beteiligt waren. Es sind frühere Studenten von mir, mit denen ich eng befreundet bin, Reservisten, die eingezogen wurden, beide etwas über dreißig Jahre alt. Sie gehören zur Peace-now-Bewegung, einer der beiden sogar als Aktivist. Beide haben mir eindringlich versichert, dass in Dschenin kein Massaker stattgefunden hat. Es sei zu heftigen Kampfhandlungen gekommen, bei denen etwa zwanzig Israelis und ungefähr hundert Palästinenser ums Leben kamen. Sie sagen, dass sie nicht mehr als fünfzehn bis zwanzig Leichen palästinensischer Zivilisten gesehen haben, aber möglicherweise befänden sich noch mehr Tote unter den Trümmern. Die palästinensischen Kämpfer, so haben meine Freunde mir berichtet, hätten Zivilisten, ihre Landsleute, als lebende Sandsäcke und menschliche Schutzschilde eingesetzt. Das haben sie mit eigenen Augen gesehen und mir gegenüber beschworen. Ich selbst war, wie ich betonen möchte, nicht im Lager. Aber was ich Ihnen sage, stammt von Augenzeugen, von Freunden, denen ich traue wie mir selbst.
FAZ: Beruhen die Berichte von einem Massaker auf palästinensischer Propaganda und gezielter Desinformation?
Amos OZ: Ja, offen gesagt, bin ich dieser Ansicht. Offensichtlich sind ja die palästinensischen Berichte über die Ereignisse sehr indirekt. Denn die palästinensischen Kämpfer wurden entweder getötet oder gerieten in Kriegsgefangenschaft. Ich glaube nicht, dass die Palästinenser auch nur einen Augenzeugen haben, der ein Massaker bestätigen könnte. Außerdem sehe ich keinerlei Grund, weshalb die israelische Armee dort ein Massaker begehen sollte. Wir sollten auch bedenken, dass die Einheiten, die in Dschenin zum Einsatz kamen, überwiegend aus Reservisten bestanden. Das sind Männer in den Dreißigern, die in ihrem zivilen Leben zur Mittelschicht gehören. Ich glaube nicht, dass irgend etwas an diesen Vorwürfen gerechtfertigt ist.
FAZ: Warum hat die Armee internationalen Organisationen wie dem "Roten Kreuz" den Zutritt zum Lager untersagt?
Amos OZ: Diese Frage kann ich nicht beantworten – ich habe nicht die leiseste Idee. Wenn Sie mich fragen, war das eine dumme Fehlentscheidung, aber darüber habe ich nicht zu urteilen.
FAZ: Glauben Sie, dass wir je erfahren werden, was wirklich in Dschenin geschah?
Amos OZ: Ich habe keinen Zweifel, daß die Wahrheit früher oder später auf irgendeine Weise durchsickert. Aber Mythen lassen sich nur selten durch Fakten verdrängen. Mythen werden nur durch Mythen ersetzt. Aber das ist eine philosophische Bemerkung über die menschliche Natur und keine Bemerkung über Dschenin oder den Konflikt zwischen Israel und Palästina.
FAZ: Sehen Sie eine Verbindung zwischen dem Aufenthalt des amerikanischen Außenministers Powell und dem mutmaßlichen Versuch der Desinformation durch die Palästinenser?
Amos OZ: Nun, da bin ich nicht sicher. Aber die Palästinenser geben sich sehr große Mühe, den Schreckensbildern von den Selbstmordattentätern und ihren Opfern unter der israelischen Zivilbevölkerung etwas gegenüberzustellen. Sie versuchen, die Waagschalen auszubalancieren. Deshalb erzählen sie Märchen über die Gräueltaten der israelischen Armee. Aber ich wiederhole: Ich spreche nicht als Augenzeuge.
FAZ: Wie beurteilen Sie Powells Besuch? War er in irgendeiner Hinsicht hilfreich?
Amos OZ: Powell ist noch nicht wieder abgereist. Deshalb ist es noch zu früh für ein Fazit. Aber alles ist hilfreich, was das kleine Fünkchen Hoffnung, das Israelis und Palästinensern noch geblieben ist, am Leben erhält.
FAZ: Hoffnung? Sehen Sie in dieser ausweglosen Lage ein Anzeichen dafür, dass der Konflikt einer Lösung entgegengeht?
Amos OZ: Natürlich wird auch dieser Krieg eines Tages beendet sein, wie jeder Krieg in der Geschichte der Menschheit. Es gibt keinen ewigen Krieg. Die Deutschen wissen dies vielleicht besser als andere Nationen. Wie lange dieser Konflikt noch währen wird? Zehn Stunden, zehn Tage, zehn Wochen? Ich weiß es nicht. Aber ich bin überzeugt davon, dass beide Völker, Israelis und Palästinenser, wissen, dass unser Land schließlich aufgeteilt sein wird unter zwei benachbarten Staaten. Daran zweifeln auch jene nicht länger, die diese Entwicklung noch immer heftig bekämpfen. Auch sie wissen, dass es zuletzt so kommen wird.
FAZ: Vor kurzem hat eine Delegation des Internationalen Schriftstellerparlaments Israel und Palästina besucht. Haben Sie mit Ihren Schriftstellerkollegen gesprochen?
Amos OZ: Nein, aber ich habe die Berichterstattung in der Presse verfolgt. Die öffentliche Meinung in Israel ist sehr verbittert. Hier gilt die europäische Haltung als unausgeglichen und sehr einseitig. Es gibt hier im Moment einen populären Witz: Die Europäer sagen: Die Palästinenser sind zu hundert Prozent im Recht, die Israelis haben zu hundert Prozent Unrecht. Also, warum laßt ihr uns denn nicht vermitteln? Die Europäer können nicht den "ehrlichen Makler" spielen wollen, wenn sie so offensichtlich für eine Seite Partei ergreifen. Der Schlüssel zum Verständnis des Konflikts im Nahen Osten besteht in der Erkenntnis, dass hier nichts schwarz oder weiß ist. Es handelt sich um eine Tragödie im klassischen Sinne. Hier stoßen sehr starke, sehr gut begründete Ansprüche aufeinander, die sich jedoch ausschließen. Und hier stoßen zwei Gegner aufeinander, die beides sind: schuldig und unschuldig.
(INW 4/5 2002)
Es gibt Bücher, die einen heiligen Zorn gegen Verlogenheit und Doppelmoral entfachen können. Die Parallelbiographie von Oliver Lehmann und Traudl Schmidt über den NS-Arzt Dr. Gross ist eines davon. Und die Warnung: "Vorsicht, dieses Buch kann Ihre Einschätzung über die Zweite Republik verändern" dürfte nicht fehlen. Bereits 1977 hat der Journalist Peter Michael Lingens einen Artikel über die Morde des Doktors vom Spiegelgrund Heinrich Gross mit der überschrift versehen: "Gut, dass ich kein Terrorist sein will". Der Fall von Friedrich Zawrel, die Beständigkeit, mit der der wegen Kleinkriminalität verurteilte Mann Behörden und Persönlichkeiten mit Schreiben über die Vergangenheit von Gross konfrontierte, hat letztlich den Stein ins Rollen gebracht. Viele sind seitdem mit dem Fels beschäftigt, doch die Bemühungen gleichen jenen von Sisyphus: gegen Freunderlwirtschaft und falsche Scham ist nicht anzukommen. Seit Jahrzehnten beherrscht die Debatte über den NS-Arzt die österreichische Öffentlichkeit und alle, die an Gerechtigkeit glauben wollen, müssen Ohnmacht empfinden. Dass Dr. Gross bisher noch nicht der Prozess gemacht wurde, ist jedoch kein Zufall, denn er hatte gute Freunde auf der richtigen Seite (beim BSA und in der SPÖ) und seine Taten betrafen vor allem Behinderte. Die beiden Journalisten erzählen in ihrem Buch die Geschichte von zwei Menschen, berichten über den unaufhaltsamen Aufstieg des Dr. Gross und die Geschichte des Scheiterns von Friedrich Zawrel, den der Arzt drei Mal in seinem Leben begutachtet und behandelt hatte, zuletzt 1975 dafür sorgte, dass "sein" Patient, der ihn erkannte und über sein Vorleben auf dem Spiegelgrund wusste, wieder hinter Gitter kam. Wegen einer Schadenssumme von 20.000 Schilling wurde Zawrel aufgrund des Gutachtens von Heinrich Gross zu sechs Jahren mit anschließender Einweisung auf zehn Jahre in eine Anstalt für gefährliche Rückfalltäter verurteilt. Erstmals wird durch dieses Buch die Tragweite des Falles Gross und seiner Förderer im Kreis des "Bundes Sozialistischer Akademiker" (BSA) klar. Denn auch in den achtziger Jahren, als bereits bewiesen war, woher die Gehirnsammlung von Gross stammte, es waren die Gehirne der ermordeten Kinder vom Spiegelgrund, bekam der Arzt weiterhin Geld für seine Forschungen über das für ihn geschaffene "Ludwig Boltzmann Institut zur Erforschung der Mißbildungen des Nervensystems". Die SPÖ und der BSA haben sich daher schwer getan mit einer Distanzierung und manche tun sich bis heute schwer. Das Beispiel des BSA Salzburg, der einem Historiker ausnahmslos Zugang zu den Akten gewährt hat, um so den sozialdemokratischen Versuch zu dokumentieren, "neue" akademische Kader der CV übermacht entgegenzustellen, wobei man dabei nicht immer wählerisch war und sein konnte in der Bewertung der Vergangenheit, bleibt die Ausnahme. Das Buch ist eine erschütternder Bericht über eine Existenz am Rande vor, während und nach dem Nationalsozialismus und macht einmal mehr deutlich, dass der Eindruck nicht trügt, dass die öffentliche ausgiebige Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus auch der Verpflichtung entheben kann, die ungeschminkte Geschichte der Zweiten Republik zu schreiben. Die Scheinheiligen, die bei Gross weggeschaut, ihn unterstützt und geehrt haben, werden einen sicheren Platz in dieser Geschichte der Zweiten Repunblik einnehmen müssen und dagegen hilft kein Verschweigensversuch mehr. Wie Opfer und Täter im BSA miteinander ausgekommen sind, welche Mechanismen sich dabei entwickelt haben, diese und ähnliche Fragen werden noch zu erforschen sein. Vorerst bleibt ein heiliger Zorn, dass offenbar dieser Täter seiner Strafe entgehen wird und dass die Auszeichnung, die Gross von der Republik österreich bekam, höher einzustufen ist als jene, die der Leiter des US-Militärgeheimdienstes, Charles Haywood Dameron, erhielt, der maßgeblich an der Aufdeckung der Verbrechen im Schloss Hartheim zuständig war. Dass Heinrich Gross nicht der einzige war, der seiner Strafe entging und dass es noch andere ärzte seines Kalibers in österreich gibt, schmerzt umso mehr, umso wichtiger ist aber dieses Buch. Die Autoren gehören zu jenen, die nicht geschwiegen haben und so auch mitgeholfen, dass ein Gesinungswandel bei Entscheidungsträgern einsetzte. Fehler zu begehen – Interviews zu verweigern ist eine Sache – dies auch einzugestehen eine andere und dies kommt nicht so oft vor in der Politik. So mag die Pressekonferenz von BSA-Vorsitzendem Sepp Rieder Anfang September 2001 gewertet werden, der eigene Fehler eingestand (Es war ein Fehler, die Sache nicht offensiver anzugehen) und eine Untersuchungskommission in Aussicht gestellt hat. Ein Zeichen für diese Veränderung ist das offizielle Zeichen, das die Stadt Wien mit der Beerdigung der Opfer vom Spiegelgrund setzt mit Fingerspitzengefühl, in Absprache mit den Angehörigen und ohne die Trauer politisch instrumentalisieren zu wollen, wie versichert wird.
Robert Streibel (2/3 2002)
Oliver Lehmann/Traudl Schmidt: In den Fängen des Dr. Gross. Das misshandelte Leben des Friedrich Zawrel,
Czernin Verlag, Wien 2001, 211 Seiten, geb., Euro 18,02
Am Sonntag , 28. April 2002 wurden die Opfer nach einem feierlichen Trauerakt
in Anwesenheit des Bürgermeisters der Stadt Wien auf dem Zentralfriedhof beerdigt.
Zu den spektakulärsten Aktionen in der Entstehungsgeschichte Israels zählt das "Unternehmen Zauberteppich", in dessen Rahmen Tausende jemenitische Juden gerettet und nach Israel gebracht werden konnten. Damals, im Jahr 1951, arbeitete Ursula Ucicky als Sekretärin in Aden. Sie konnte die Aktion tatsächlich hautnah beobachten. Heute, 50 Jahre später, veröffentlicht sie erstmals ihre Aufzeichnungen und ermöglicht uns mit ihrem Live–Bericht aus dem Vorhof der Hölle einen tiefen Blick in eine faszinierende Epoche.
1951 – Aden am Roten Meer. Auf dem Flugplatz von Aden, der kleinen britischen Kolonie und Hafenstadt am südlichen Ausgang des Roten Meeres, startet hin und wieder eine viermotorige Maschine zum Flug nach Israel. Es ist kein planmässige Verkehrsflugzeug, und die Fluggäste sind keine gewöhnlichen Passagiere. Es sind malerische Gestalten , schlank und feingliedrig, mit dunklen Augen und pechschwarzen Haaren. Manchen Männern fallen sie bis auf die Schultern herab, allen Männern aber hängt zumindest eine lange schwarze Ringellocke von jeder Schläfe auf die Schulter. Viele der weiblichen Fluggäste sind mit handgearbeitetem Silberschmuck reich beladen. Die Ohrläppchen von manchen Frauen und Mädchen und sogar von Babies sind durchlöchert – ein großes Loch sitzt neben dem anderen, manchmal sechs in einem Ohr. In jedem Loch hingen einmal Ohrringe, und so schwer war die Last, dass die Ohrläppchen heruntergezogen worden sind. Diese bunte Reisegesellschaft also, ungefähr hundert Menschen – verteilt auf die einfachen, schmalen Bänke im Flugzeug. Viele haben sich auf dem Boden der Kabine häuslich niedergelassen – das ist für sie bequemer. Und außerdem können sie dann gleich ein Feuer vorbereiten, wenn ihnen beim Flug hoch über der arabischen Wüste plötzlich kalt wird. Das Begleitpersonal hat es nicht leicht, sie davon abzuhalten, das Feuer auch anzuzünden; sie müssen sie geschickt ablenken, denn niemand unter diesen Passagieren würde verstehen, dass ein offenes Feuer im Flugzeug lebensgefährlich ist. Für sie ist der neunstündige Flug von Aden nach Israel ein Wunder – eine Reise auf dem Zauberteppich – wie in einem alten orientalischen Märchen.
Unternehmen Zauberteppich hat man deshalb die Flüge genannt, mit denen ab 1949 gut 50.000 Juden aus dem Jemen nach Israel gebracht wurden. Der Jemen ist ein arabisches Königreich im Südwesten der arabischen Halbinsel und nördlich von Aden. Im Jemen leben Juden schon seit biblischen Zeiten, und ihre Gemeinden sind die ältesten jüdischen Gemeinden der Welt. Einst waren die Juden hochangesehene Leute im Jemen. Bis vor rund 1.500 Jahren hatten sogar die Könige des Jemens den jüdischen Glauben angenommen. Aber dann verkündete Mohammed eine neue Lehre, und der Islam verdrängte das Judentum im Jemen. Seitdem wurden dort die Juden unterdrückt und lebten fast wie Sklaven. So abgeschnitten waren sie dort von aller Welt, das ihre Glaubensgenossen sie fast schon vergessen hatten. Bis eines Tages – in der Mitte des 19. Jahrhunderts – ein Jude aus Jerusalem durch Arabien reiste. Er stieß dabei auf die Brüder im Jemen – und auf eine andere Gruppe vom gleichen Stamm in Aden. Dorthin waren manche geflohen, weil sie die Unterdrückung nicht mehr ertragen konnten. Von Aden, so hofften sie – würden sie eines Tages den Weg ins Gelobte Land finden – nach Palästina. Einige fanden den Weg dorthin sogar vom Jemen aus. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts brachen ein paar Mutige dort auf zu der beschwerlichen und gefährlichen Reise nach Palästina. Von den furchtbaren Höhen im Inneren des Landes zogen sie zu Fuß durch die Wüste ans Rote Meer, bis nach dem jemenitischen Hafen Hodeida. Dort fanden sie ein Schiff, das sie ins östliche Mittelmeer brachte. Im palästinensischen Hafen gingen sie an Land und wanderten nach Jerusalem. Nach vielen Mühen fassten sie Fuß in ihrer neuen Heimat, denn sie waren fleißige und ausdauernde Leute – vor allem gute Handwerker.
Mehr und mehr Juden aus dem Jemen folgten den ersten Pfadfindern nach dem Heiligen Land – bis sich im Jemen zeigte, dass sie eine große Lücke hinterließen. Sie waren dort die Stützen des Handwerks gewesen. Darum verbot der Herrscher des Jemen die Auswanderung. Später – in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts – wurde sie wieder gestattet; aber jeder Jude, der auswanderte, mußte sein gesamtes Vermögen zurücklassen. Nach dem ersten Weltkrieg wurde die Auswanderung wieder völlig untersagt. Den Juden blieb nur ein Ausweg – heimlich nach Aden zu fliehen – mit leeren Händen; 300 Kilometer durch die Wüste – zu Fuß. Vielen gelang die Flucht, aber dann saßen sie oft jahrelang in Aden. Sie brauchten viel Zeit, um dort das nötige Geld für die Weiterreise nach Palästina zu verdienen.
Die meisten Flüchtlinge lebten während dieser Zeit unter schlechten Verhältnissen in einem Lager im Wüstensand – einige Kilometer von Aden entfernt. Es war kein Wunder, dass im Lager eine große Typhus–Epidemie ausbrach, die viele Opfer forderte. Dann aber kam – drei Jahre nach Beendigung des zweiten Weltkrieges – eine glückliche Wende: 1948 wurde der jüdische Staat Israel ausgerufen. Für die Juden aus dem Jemen war der Weg dorthin zunächst immer noch gesperrt – der Weg zu Wasser und zu Lande lag nämlich in arabischen Händen, und zwischen Israel und den arabischen Ländern war Kriegszustand. Aber die Luft war frei. Da organisierte die Regierung von Israel eine Luftbrücke von Aden nach Lydda, dem Flughafen des jungen jüdischen Sta
sates. Sie schickte Ärzte, Krankenpfleger und Fürsorger in das Lager nach Aden. Sie sollten den Kranken endlich Hilfe bringen, und das Unternehmen Zauberteppich vorbereiten.
Es begann im Jahre 1949. Der Herrscher des Jemen gab dem Drängen europäischer Mächte nach – er ließ die Juden aus seinem Lande ziehen. Allerdings durften sie nur 30 Pfund Gepäck mitnehmen. Das war viel zu tragen auf einem weiten Weg durch die Wüste nach Aden – doch wenig Hab und Gut. Aber die Juden waren froh, dass sie überhaupt ziehen durften. Für den Jemen war ihr Auszug ein großer Verlust. Wer würde an Stelle der Juden gute Eisen– und Zinnwaren herstellen? Und wer den herrlichen Silberschmuck anfertigen? Und wer würde des Königs Kleider nähen? Denn auch der beste Schneider im Jemen war ein Jude – und nun zog auch er in sein Gelobtes Land. Aden war die erste Station auf dem Weg dorthin. Wenn die Wanderer diesen Ort erreichten, hatten sie das Schlimmste hinter sich. Ihr Gepäck war unterwegs leichter geworden, denn sie hatten viele Wüstensultanate durchqueren müssen – und jeder Sultan hatte Tribut verlangt. Völlig erschöpft kamen sie in Aden an; aber überglücklich, dass sie so weit waren. Männer, Frauen, Kinder und Babies, Gesunde und Kranke, in jedem Alter; die Jüngsten waren unterwegs geboren, die Ältesten waren über 100 Jahre alt. Manche hatten kaum mehr Lumpen auf dem Leib. Andere trugen ihre malerische Kleidung: die Männer farbige, rockartige Gewänder – die Farben kaum erkennbar vor Schmutz; die Frauen trugen unter Röcken lange, enge Hosen, die unten buntbestickt waren. Auf dem Kopf hatten sie Zipfelmützen aus dunklem Stoff, mit schöner Stickerei an den Kanten, in Silber, Gold, Rot und Grün. Ihr Hab und Gut bestand aus ein paar Bündeln – Haushaltsgeräte, Handwerkszeug, heilige Bücher und religiöse Artikel; Juden aus dem Jemen sind sehr fromm.
Einige Wochen mussten die Auswanderer im Lager in der Nähe von Aden verbringen. Alle bekamen neue, saubere Kleidung – Geschenke von jüdischen Verbänden in aller Welt. Für die Männer waren es meist Drillich–Hosen und bunte Baumwollhemden, für die Frauen Kattunkleider. Alle bekamen zum ersten Mal in ihrem Leben Schuhe an die Füße. Sie hatten großen Spaß daran und aneinander, denn einer lief darin ungeschickter als der andere! Ihre Lumpen wurden verbrannt. Kleider, die noch gut waren, wurden gründlich gereinigt. Erst dann durften sie die malerischen Volkstrachten wieder tragen. Das taten sie am Schabbath.
Eines Tages wurden dann die Worte ihres Propheten für sie wahr. Er hatte verkündet, dass sie auf Adlers Fittichen in das Gelobte Land getragen werden. Deshalb waren sie weder erstaunt noch erschrocken, als ein donnerndes Ungetüm aus den Lüften kam. Schnurstracks gingen sie auf das Flugzeug zu und ließen sich zunächst in seinem Schatten häuslich nieder. Schatten ist ja dort ein ganz seltenes und sehr wertvolles Geschenk – und selbstverständlich nimmt man es, wenn man es haben kann. – Inzwischen (1951) sind fast alle Juden aus dem Jemen mit dem Zauberteppich nach Israel geflogen. Auf manche warten in Israel Verwandte, die ihnen schon eine Bleibe anbieten können. Auf die meisten aber wartet wieder Lagerleben. Wie viele andere Neueinwanderer auch, müssen sie zunächst in einem Lager wohnen, bis sie in das neue Leben im neuen Staat eingeordnet werden können. Das geht bei vielen Juden aus dem Jemen verhältnismäßig schnell. Sie zeigen sich erstaunlich intelligent, fleißig, willig und geduldig. In kurzer Zeit sprechen sie Hebräisch fast genau so fließend wie Arabisch, ihre Muttersprache. Sie bekommen ein Stück Land, das sie mit viel Liebe und Erfolg bebauen. Die meisten jungen Juden aus dem Jemen nehmen schnell moderne Lebensgewohnheiten an: sie schlafen in Betten, sitzen auf Stühlen, essen mit Besteck und arbeiten heute (1953) auch in den Städten Israels, in Büros oder Schulen.
Die Alten leben meist in alter Gewohnheit weiter, aber auch sie machen sich nützlich: vor allem Frauen. Sie haben ein schönes Kunsthandwerk mitgebracht – eine besondere Art von Stickerei, mit Gold– und Silberfäden und Garn in leuchtenden Farben. Sie sticken teilweise die gleichen, phantasievollen Muster wie ihre Urururur–Großmütter in biblischen Zeiten. Israel verdient heute eine ganze Menge Geld durch ihre Kunst. Die Frauen besticken Kleider, Blusen, Schals und Stofftaschen – vor allem ausländische BesucherInnen kaufen die schönen Dinge sehr gern. Es sind hauptsächlich alte Frauen, die diese feinen Arbeiten machen, denn nur sie haben die nötige Geduld dafür! Alle Juden aus dem Jemen nehmen Teil am allgemeinen Leben ihrer neuen Heimat – sie haben sogar ihre eigene politische Partei – und einen Vertreter im israelischen Parlament. Nur eines will ihnen nicht in den Kopf: dass sie jetzt nur eine Frau heiraten dürfen – im Gelobten Land. Im Jemen hätten sie vier heiraten dürfen. Viele hatten wenigstens zwei, und kamen auch mit ihnen in die neue Heimat.
Ursula Ucicky (8/9 - 2001)
Das Projekt, im Survivors Memorial bisher unveröffentlichte Erinnerungen von Holocaust-Opfern zugänglich zu machen, wurde von Eli Wiesel initiiert, der heute Ehrenvorsitzender ist. Die finanziellen Voraussetzungen hatte Wiesels Verleger, das Random House, mit einer Ausfallsgarantie von 1 Million Dollar geschaffen. Von mancher Seite wird dies mit gemischten Gefühlen betrachtet: Das Random House ist eine Tochtergesellschaft des deutschen Bertelsmann Verlags, dessen Tätigkeit während des 2. Weltkrieges nicht ohne Kritik geblieben ist. Um das jüdische internationale Erscheinungsbild zu betonen, steht das Projekt unter dem Schirm des World Jewish Congress.
Leiter des Holocaust Survivors Memorial ist Menachem Rosensaft. 1948 in einem Entlassungslager von Bergen-Belsen-Häftlingen auf die Welt gekommen, ist Menachem Rosensaft ist für diese Aufgabe geradezu prädestiniert. Sein Vater, ein Überlebender der KZ Lager Auschwitz und Bergen Belsen, war Gründer und lebenslange Vorsitzende der Welt-Vereinigung der Überlebenden von Bergen-Belsen und Stifter eines Preises für Holocaust Literatur, dessen erster Empfänger Eli Wiesel ist. Rosensafts Mutter hatte die Haft in Bergen-Belsen überlebt. Wiesel verkehrte regelmässig im Haus der Rosensafts. Als Wiesel an das N. Y. City College berufen wurde, holte er Menachem als seinen Assistenten nach. Daraus ergab sich eine jahrzehntelange Freundschaft, die in Rosensafts Berufung zum Memorial im vergangenen Jahr kulminierte.
Obwohl Rosensaft vermeiden will, den Markt zu überfluten – in den ersten Monaten gingen ihm bereits 500 Manuskripte zu – möchte er die ersten sechs bis acht Exemplare schon im nächsten Jahr herausbringen. Sie sollen vorerst auf Englisch erscheinen, um ihnen größtmögliche Verbreitung zu sichern, doch werden, wenn durch Tantiemen mehr Geldmittel zur Verfügung stehen, auch andere Sprachen nicht ausgeschlossen. Rosensaft berichtet, er sei von der Authentizität der Erzählungen, die von den Höhen menschlicher Großmut bis zur Ausgeburt des Bösen in seiner grausamsten und brutalsten Form reichen, zutiefst beeindruckt. Die Mehrheit der Erinnerungen endet nicht 1945, denn so werden die Stereotypen vermieden, als hätten die Opfer vorher und nachher kein Leben gehabt. Eine der reichsten Erfahrungen, die er in seiner Tätigkeit gesammelt hat, ist die Erkenntnis, über welches Potential der Mensch verfügt, Ungemach zu meistern. Voll Bewunderung spricht Rosensaft von der Vitalität der Überlebenden, die trotz der schauerlichen Erfahrungen Familien gründeten, mit Kindern und Kindeskindern in ihre Herkunftsländer zurückkehrten und in vielen Fällen aktive Mitglieder ihrer Gemeinden oder jüdischer Organisationen wurden.
Rosensaft selbst ist Gründer der Internationalen Vereinigung von Kindern jüdischer Holocaustüberlebender, er ist Vorsitzender der Labor Zionist Alliance, war sieben Jahre lang Mitglied des US Holocaust Memorial Councils, 1995 wurde er senior counsel der Ronald. S. Lauder Foundation und war von 1996 bis 2000 Vizepräsident der Jewish Renaissance Foundation, ebenfalls eine Ronald Lauder Gründung. Bekannt für seine Bemühungen um die Erinnerung an den Holocaust erregte er Aufsehen, als er gemeinsam mit fünf amerikanischen Juden mit Arafat in Schweden zusammentraf, um die Palästinensererklärung über die Anerkennung Israels auszuarbeiten. In vollem Bewusstsein der kriminellen Akte der PLO bekannte er sich als Anhänger der Peace Now Bewegung. Ein Jahr nach diesem Treffen forderte ein enttäuschter Rosensaft in einem offene Brief an Newsweek Arafat auf: Sie müssen es den gemäßigten Palästinenser, die nicht notwendigerweise Ihrer Auffassung sind, ermöglichen, sich ohne Furcht zu äußern und mit Ihnen Ihr Volk zum Frieden zu führen." Vergangenen September schrieb er in der Washington Post, dass er und seine Freunde nicht geirrt hätten, als sie für den Frieden eintraten, "...wohl aber, weil wir glaubten, Arafat wolle wirklich den Frieden mit Israel.
Empört über den Terrorismus, der so viele und vor allem junge Menschenleben fordert, unterstreicht Rosensaft, wie notwendig es jetzt ist, die zeitgeschichtlichen Ereignisse sorgfältig zu registrieren. Je dramatischer sie sind, um so wichtiger sind die direkten Wahrnehmungen der Teilnehmer und der Augenzeugen. Die Opfer des Terrorismus von heute haben eine Verpflichtung, darauf zu achten, dass ihre Erfahrungen nicht von anderen entstellt und missbraucht werden.
Heimo Kellner
Geht der Einkäufer Londons Oxford Street entlang, können ihm die grünen Pakete mit der Aufschrift "Marks & Spencer" kaum entgehen. Genausowenig wie der Tourist auf der Wiener Kärntnerstrasse die gleichfarbigen Säcke von Palmers übersehen dürfte. Doch die Hingabe des Engländers an seinen Marks & Spencer, die grosse von dem jüdischen Immigranten Michael Marks Ende des vorletzten Jahrhunderts gegründete Retailgruppe, ist sondergleichen.
Vielleicht einzig mit der Liebe des Wieners zu seinem Kaffeehaus vergleichbar. Die Geschichte von Marks & Spencer lässt sich mit derjenigen einer "Rags to Riches" Story vergleichen (von "Fetzen zu Vermögen"), und ist die Geschichte vom Aufstieg eines armen, der englischen Sprache, Sitten und Traditionen unkundigen Immigranten, der es von einem billigen Verkaufskarren zu einem der weltgrößten Geschäftsgiganten gebracht hat. Die Liebe des Engländers zu seinem in allen Großstädten vertretenen M+S geht tief und ist mit der Gründerfamilie Marks aber auch der später hinzugekommenen jüdischen Familie Sieff tief verbunden. Beide sind sie heute geadelt und der britischen Nobilität durch verschiedene geschäftliche und soziale Kontakte eng verbunden.
Obwohl M+S als Wunder im englischen Detailhandel galt, da die Firma den 1–Milliarde–Pfund–Umsatz zu überschreiten vermochte, galt sie als Familienbetrieb, wo Mr. Marks, vor allem der in 1964 verstorbene Simon Marks, täglich in einem der Läden zu sehen war, wo er Säume, Knöpfe oder einfach das Klingeln der Kassen kontrollierte. Doch wie es mit so vielen Liebesaffären geht, blüht diese, wenn alles zum besten steht und sie versiedet, wenn Probleme aufkeimen, wenn, wie im Fall von Marks & Spencer, die Zahlen nicht mehr so rosig wie einst sind und wenn es mit dem Umsatz hapert. Viele Analytiker wollen einen Zusammenhang zwischen der beeindruckenden Expansion von M+S sehen – etwa nach Asien, Kanada und Europa – und einer stark zunehmenden Konkurrenz auf der Geschäftshauptstraße. Andere wollen den Grund eher in der Tatsache entdecken, dass sich die jüdischen Gründerfamilien vom täglichen Geschäftsbetrieb zurückgezogen haben. Bestand ja einst der überwiegende Großteil des Managements aus Familienmitgliedern der Marks und Sieff, so sind heute noch kaum irgendwelche jüdische Direktoren im Verwaltungsrat anzutreffen. Maßgebend waren beide Familien übrigens Chaim Weizman behilflich, um die Balfour Deklaration durchzupeitschen, während Rebecca Sieff an der WIZO–Gründung beteiligt war. Diese Verbindung zu Israel lebt in den Familien bis zum heutigen Tage fort.
Modernes Marketing
Michael Marks begann sein Geschäft aus einer bescheidenen fahrenden Karre. Täglich mühte er sich mit dem englischen Wetter ab, musste er doch von einem Dorf zum anderen ziehen, und die schwere Last machte ihm zu schaffen. Da kam ihm die glänzende Idee, die Fuhre abzuschaffen, eine Marktbude aufzubauen und einfach alles für einen Penny zu verkaufen. Don't ask for the price, everything costs a penny war sein Slogan und er gründete damit in England eine revolutionäre Preispolitik .
Als Luftzug und die nassen Trottoirs seinen Verkäufern für Lungenentzündung anfällig machten, verlegte der gewiefte Marks seine Verkaufsbuden vom offenen Marktplatz in überdachte Einkaufsarkaden und ließ seine Mitarbeiter die Käufer von hölzerne Stehbrettern aus bedienen. Ein von der schweren Arbeit erschöpfter Michael Marks überließ dann das Geschäft seinem bereits versierten Sohn Simon, der Marks & Spencer zu einer regelrechten Weltmarke und einer gesunden Position auf der Börse verhalf.
Simon Marks verstand sich jedoch nicht nur auf Geschäft, viel Zeit, viel Geld und viel Interesse widmete Simon auch jüdischen Zwecken, dem Land Israel und ganz allgemein wohltätigen Vereinen. So war Marks & Spencer nicht nur für die zumeist aus Israel importierte Unterwäsche berühmt, der Name fehlte auch bei keinem Wohltätigkeitsanlass und figurierte auf so manchen neuen Gebäuden und Galerien.
Vor allem verstand sich Simon auf Liegenschaften – alle seine Geschäfte waren in der besten Lagen aufzufinden und als sein Flaggschiff–Geschäft auf der Oxford Street eröffnet wurde und sich manche um den Umsatz Sorgen machten, fegte er diese mit dem Trost hinweg, dass dieses Geschäft, wenn auch nicht finanziell erfolgreich, dann halt wenigstens gute Reklame war. Doch Sorgen musste sich Simon Marks sowieso keine machen. Sein Motto, dass jeder Quadratmeter einen Umsatz zu verzeichnen hatte, zahlte sich aus. Simon setzte auf Qualität – auch die Premierministerin Margaret Thatcher trug die M&S Kleider – auf innovative Materialien – M& S waren die ersten, die synthetische Stoffe elegant verarbeiteten, auf tadellose Verarbeitung und auf einen angemessenen Preis.
Marks & Spencer war die Marke der zusehends wohlhabenderen mittleren Schicht und vor allem war die Ware in Großbritannien verarbeitet, ein Entschluss, der den Patrioten Simon Marks und Margaret Thatcher später aufs engste verbinden sollte. (Der Patriotismus von Sieff wurde allerdings ob dessen enger Bindung mit Israel oft etwas angezweifelt). Während des Zweiten Weltkriegs war es denn auch das jüdische Warenhaus, das der britischen Armee zu einem Spitfire verhalf. Während der Jahre seines geschäftlichen Höhepunkts, verkaufte Marks & Spencer 15 Prozent aller englischen Kleider und besaß auch 30 Prozent des Lingeriemarktes.
Jüdische Firma – jüdischer Arbeitsethos
Dokumentarfilme und Interviews mit Simon Marks überzeugten den Engländer, dass der stolze jüdische Geschäftsmann ihn nicht um preiswerte und qualitätssichere Produkte bringen würde und dass er ein wichtiger Arbeitgeber war. Simon Marks Ruf als patriarchalischer, fairer, wenn auch strenger Boss war in aller Munde. Was in Simons Familie galt, sollte sich auch im Geschäft bewähren. Marks & Spencer, als "jüdischer Laden" bekannt, machte sich einen Namen als einer der besten und großzügigsten Arbeitgeber. Anders als bei anderen Firmen bot Simon Marks seinen Angestellten Aufstiegsmöglichkeiten, eine gründliche Lehre und einen angemessenen Lohn, plus Krankenkasse und Sicherheit.
In Universitätskursen, in denen über ethisches Management oder moralisches Personalwesen diskutiert wurde, wurde jeweils ein Vertreter von Marks & Spencer als Gastreferent eingeladen und wenn es um Rechte und Forderungen von Angestellten ging, um Arbeitsbeschaffung oder Sozialhilfe, wusste Marks & Spencer die zukunftsgerechte Lösung.
Die Familie war nicht orthodox–jüdisch, aber bewusst jüdisch, manche Familienmitglieder der Sieffs heirateten solche der Familie Marks, bei jedem jüdischen Anlass waren sie dabei und bis 1965 waren auch alle Direktoren im Verwaltungsrat, wenn nicht Familienmitglieder, so wenigstens jüdischer Abstammung. Das Verhältnis zu Israel war nicht nur philanthropischer Natur.
Unzählige Produkte importierten Marks & Spencer aus Israel, vor allem Baumwollware und Frischprodukte. Marks & Spencer waren die ersten, die erfolgreich Avocados aus Israel einführten.
Doch musste es vielleicht so kommen, wie es gekommen ist. Die Seifenblase ist geplatzt. Der Umsatz ging im letzten Jahre rapide bergab, Management hatte sich mit den Expansionsplänen übernommen und zum ersten Mal sah sich auch M & S gezwungen, Angestellten zu kündigen. Zusehends mehr wird der Firma vorgeworfen, dass sie einfach mit der Zeit nicht Schritt gehalten hat, dass sie die junge Generation nicht anspricht, dass sie zu hohe Erwartungen geschürt habe. Verfügbares Einkommen wird heutzutage für elektronische Artikel ausgegeben und der Modemarkt ist segmentiert. Marks & Spencer habe beide Entwicklungen nicht wahrgenommen. Die Gründe für die Halbierung des Umsatzes können wohl verschiedentlich begründet werden, die Hauptursache für die derzeitige Krise dürfte jedoch darin zu finden sein, meinte ein Mitglied der Familie Marks, dass Marks & Spencer halt nicht mehr ein enger jüdischer Familienbetrieb ist, bei dem der Eigentümer jedem und jeder auf die Finger schaut, gleichzeitig aber auch weder das Wohl der Angestellten noch die Zufriedenheit des Kunden aus den Augen verliert.
Eva Burke
Schwarze Brille, schwarze Daunenjacke, schwarzes Sakko mit Polohemd, eine ebenso schwarze Jeans, mit einer ausgelöschten Zigarre in der Hand, entspannt betritt Doron RABINOVICI das Café Central – ein Bild, das scheinbar Teil des Establishments geworden ist. Vollends konsterniert ist man als er nach der, wie hätte man es anders erwartet, witzig pointierten Sprechprobe ins Diktaphon eine heiße Schokolade mit Schlag, keinen kleinen Braunen oder eine einfache Melange bestellt. Das Bild hat in dem Moment nichts gemein mit dem Foto seines literarischen Debütbands "Papirnik": ein junge Autor mit runder Hornbrille, weißem T-Shirt und leger getragener Lederjacke.
Wer jedoch die Debatte zu dem Chaos nach dem 11. September verfolgt, weiß, dass dem nicht so ist. Doron RABINOVICI erhebt immer und überall seine Stimme, wo es gilt gegen Formen von Rassismus und Diskriminierung aufzutreten, mahnt zur Wachsamkeit oder entreißt die österreichische Vergangenheit jenen, die sie dem Vergessen preisgeben wollen. Er lässt sich kein Statement verbieten, analysiert brillant mit intellektueller Klarheit. Mit seinem neuen Essayband Credo und Credit hat er sich mit Aufsätzen zu Elias Canetti und Leo Perutz, einer "kurzen Anleitung zum jüdischen Witz", Analysen zum Antisemitismus, dem Leben in einer multikulturellen Diaspora oder der Frage nach dem Bilderverbot im Umgang mit der Shoa wieder zu Wort gemeldet.
INW: Wieso haben Sie sich gerade für den Buchtitel Credo und Credit aus der Essaysammlung entschieden? Ist dieser Aufsatz mit Überlegungen zum Antisemitismus der gewichtigste Essay und gleichzeitig ein politisches Statement? Wie ist der Untertitel "Einmischungen" zu deuten, "credo – ich glaube" quasi als Gegensatz zum anderen Österreich, zu dem, was "er, sie glaubt"?
RABINOVICI: Ich glaube nicht, dass ein Titel schon ein Statement ist, aber es ist natürlich ein Spiel. Ich habe einerseits den Titel gewählt, weil er der Titel des für mich wichtigsten Essays ist. Andererseits weil er auf diese Interpretation verweist, auch Einmischungen, als das, was man glaubt. Aber natürlich ist er wenig aktuell und steht insofern nicht unbedingt im Zentrum eines jeden Lesenden. Die Geschichte mit Credo und Credit ist für mich aber auch deshalb nicht uninteressant, weil Credo eigentlich etwas ist, das die Christen haben. Juden haben solch ein Credo an sich nicht, denn im Judentum ist die Frage, ob man an Gott glaubt, nicht ganz so kardinal. Es gibt andere Fragen, die wichtiger sind. Insofern hat mich dieser Aspekt zusätzlich interessiert.
INW: Die Wahl des Titels ist die Wahl des Historikers in Ihnen. Die ersten beiden Essays in dem Buch beschäftigen sich wiederum mit Literatur, mit Elias Canetti und Leo Perutz. Spiegelt sich darin die Wahl des Schriftstellers wider? Wie gehen Sie mit dem Gleichzeitig-Sein von Historiker und Schriftsteller um? Schließen sie einander aus oder ergänzen sich beide, der Schriftsteller Doron Rabinovici, der Geschichte, den Historiker in ihm, in seinen Werken literarisch umsetzt?
RABINOVICI: Es wäre mein Ideal, am Vormittag zu schreiben und den Nachmittag für Recherche, Redigieren und ähnliches zu verwenden, aber der Tag hat zu wenig Stunden, für uns alle. Deshalb funktioniert es so nicht. Was aber funktioniert ist, dass ich im Affekt schreibe. Letztlich ist es immer Schreiben, ob ich historisch oder literarisch schreibe. Es wird aber immer mehr Schreiben an sich. Ich glaube, dass die historische Arbeit mit Instanzen der Ohnmacht für mich eine Zeit lang abgeschlossen ist. Das Schreiben aber nicht.
Die ersten beiden Essays über Canetti und Perutz haben aber auch etwas mit Credo zu tun. Sie haben insofern etwas damit zu tun, als ich auf die jüdischen Wurzeln der beiden Autoren eingehe und insofern als Perutz auch ein Credo im Zusammenhang mit meinem Roman "Suche" nach M. und meinem eigenen Schreiben darstellt. Mit Canetti habe ich mich im Zuge eines Arbeitsprozesses beschäftigt und mir die Frage gestellt, was im ersten Teil seiner Autobiographie mit seiner jüdischen Familie verwoben erscheint. In gewisser Weise sind beide Texte eine Hommage. An Perutz offen und deklariert eine Hommage, weil man bemerkt wie viel, das schlichtweg erstaunlich ist, an gedanklicher Kraft in "Nachts unter der steinernen Brücke" hineingeflossen ist.
INW: "Das Wiederaufrufen der Erinnerung" bezeichnen Sie als ein konstituierndes Moment im Schreiben von Perutz. Ein Credo in Ihrem eigenen Schreiben?
RABINOVICI: Es ist wichtig im Schreiben schlechthin. Meine größte Angst wäre die Erinnerung zu verlieren, ganz persönlich gesprochen. Es macht mich nervös, wenn mir etwas entfällt. An sich ist das Schreiben von Fiktion nicht das Festhalten von dem was wirklich gewesen ist, aber es bedeutet die Möglichkeit etwas festzuhalten, das der Wirklichkeit näher kommt, als das, was wirklich gewesen ist.
INW: In dem Essay zur Shoa "Das Verbot der Bilder" beschreiben Sie Ihre Arbeit in der Israelitischen Kultusgemeinde. In der Geschwindigkeit, mit der Sie die Daten zur Erfassung der Ermordeten und Vertriebenen eingeben, verbirgt sich ein gewisses Maß an Schamgefühl. Gleichzeitig machen Sie sich ein Bild von der Schönheit jener jungen Frau. Gerade dadurch hebt man die Opfer aber einen Augenblick aus der Anonymität der Bilder des Massenmordes, lässt sie für einen Bruchteil wieder aufleben und trauert gleichzeitig um sie.
RABINOVICI: Das ist sogar absolut notwendig. Das Problem ist folgendes. Es gibt ein Wechselspiel zwischen Erinnerung und Vergessen. Es gibt nur ein paar Leute, die nichts begriffen haben. Wer die Parole ausgibt, Die Erinnerung bringt nichts, lasst uns vergessen, hat anscheinend überhaupt nicht verstanden, was Erinnerung ist und nicht was Vergessen ist. Die Opfer und die Ermordeten haben einerseits das Recht, in ihrem Leid nicht zur Schau gestellt zu werden, was wir aber durchaus tun. Andererseits haben sie das Recht nicht bloße Zahlen zu sein, sondern in ihrem menschlichen Leid wahrgenommen zu werden. Man kommt nicht darum herum, dass man sich hier immer in Fallen begeben wird.
Es gibt das Gedächtnis und es gibt das Vergessen. Um weiterleben zu können, kann nicht immer alles präsent sein, man muss ordnen. Dann gibt es die Erinnerung, die Sachen immer wieder aus dem Vergessen herausholt. Dieser Prozess ist absolute Arbeit, ein zum Teil bewusster Prozess. Es ist aber auf keinen Fall ein zufälliger, was erinnert wird.
INW: In dem Essay zur Bibliothek der Eltern erwähnen Sie die Prägung der frühen Phase des Lesens und Entdeckens. Heute wie damals sehen Sie sich als der "kleine Junge vor den Büchern der Eltern". Wie ist das zu verstehen?
RABINOVICI: Ich habe es so gesagt. Ich glaube, dass mich ein gutes Buch dort erreicht, wo ich ein Kind bin. Das ist nicht nur ein Mythos sondern eine Bloßlegung, weil ich bei einem guten Roman etwas von mir vergesse. Ich erinnere mich dann an meine Kindheitslektüren.
INW: Sie bezeichnen Ihre Sprache als "Adoptivdeutsch", ein Understatement oder Ausdruck für dieses zwischen den "Sprachen" sitzen, diese Distanz zu beiden, die einem als Schriftsteller einen klaren Blick von "außerhalb" ermöglicht?
RABINOVICI: Ich sage dazu bewusst Adoptivsprache, um diese Fremdheit und einen bestimmten Zugang zur Sprache zu schildern, wobei Muttersprache für Hebräisch auch nur bedingt richtig ist, denn die Muttersprache meiner Mutter ist eigentlich Jiddisch. Wenn ich mir in diesem Zusammenhang die Situation von Migrantenkindern anschaue, dann fällt Folgendes auf: Erstens, alles woher sie kamen, ist dort, wo sie jetzt sind, entwertet und alles aber, das sie in der Schule hier lernen, ist zu Hause entwertet. Das bedeutet, dass man tatsächlich in einer gewissen Ambivalenz lebt.
Ich habe einerseits eine große Hochachtung von meinen Eltern vor den deutschen Dichtern vermittelt bekommen. Mir erschien von Anfang an Deutsch so klar, ich weiß nicht ob das stimmt, aber so erschien es mir. In diesem Zusammenhang wird auch meine frühe Beziehung zu Brecht angesprochen. Er ist ja keiner, der damit spekuliert einem alles vergessen zu machen, sondern ganz im Gegenteil, der einen immer wieder eine Klarheit vorsetzt, der einen fordert und von den Zuschauern Entscheidungen abverlangt.
INW: Im Essay "Im Widerschein Israels" wird das Nachrichtenhören, das sich vor dem Radio versammeln, als eine Facette des Hellhörigseins, des auf der Hut seins in Israel wie in der Diaspora, festgehalten. Was sind anderen Facetten dieses Wachsambleibens?
RABINOVICI: Ein Punkt, für mich zumindest ist, dort wachsam zu sein, wo Ressentiments, wo Rassismus, wo Diskriminierung vorherrschen. Dies macht mich immer nervös. Schreiben ist in einem solchen Moment eine Notwendigkeit. Mit der Zeit ziehe ich das Schreiben aber immer mehr dem Reden vor. Es bietet die Möglichkeit der Konzentration und Verdichtung, wobei mir das fiktionale Schreiben viel wichtiger ist. Das historische Schreiben glaubt zu zeigen wie es gewesen ist. Das literarische Schreiben zeigt an, wie es gewesen sein könnte. Es gibt viel mehr wieder, weil zu dem wie es war gehört ja, dass es aus der Sicht der Damaligen auch anders hätte sein können.
INW: In Ihrem letzten Essay "Tracht und Zwietracht" bezeichnen Sie Antirassismus als "kein geschlossenes Weltbild [...] sondern allenfalls ein Bemühen um eine Haltung, eine tägliche Anstrengung." Das klingt wie ein "Pflichtprogramm", für eine Einstellung, die es eigentlich nicht sein sollte.
RABINOVICI: Antirassistisch zu sein bedeutet gegen Rassismus zu sein, das heißt noch nicht selber nicht rassistisch zu sein. Es bedeutet vielmehr, dass man gegen die Formen von Rassismus auftritt und die Formen wechseln. Das ist das Problem. Antirassismus ist deswegen so anstrengend, weil er situativ ist und nach immer neuen Gegenstrategien verlangt. Wir können nicht sagen, wir wissen immer wie die Koordinaten ausschlagen, sondern müssen jedes Mal von neuem überlegen, weil sich die Bedingungen der Diskriminierung immer wieder ändern.
Die heiße Schokolade an diesem trüben Novembernachmittag hat wahrscheinlich nur einem allgemein menschlichen Empfinden entsprochen, dem herannahenden Winter ein Schnippchen zu schlagen.
Doron RABINOVICI: Credo und Credit. Suhrkamp, 2001 circa € 9,40
Die 1887 gegründete Clark University in Worcester, Massachusetts ist seit langem für unverwechselbares Engagement, visionäre Initiativen und bahnbrechende wissenschaftliche Leistungen bekannt. Heute hat die Clark University mit der Gründung des "Center für Holocaust Studies" wieder einmal wissenschaftliche, sozialpädagogische und allgemein gesellschaftliche Pionier– und Aufklärungsarbeit geleistet.
Nach Deborah Dwork, der vom Child Study Center der Yale University kommenden, international bekannten Sozialhistorikerin und Direktorin des Instituts, waren die entscheidenden Promotoren des Projekts Sidney und Ralph Rose und Richard P. Traina, der frühere Präsident der Universität. Der Rose–Lehrstuhl in "Holocaust Studies and Modern Jewish History and Culture", den Professor Dwork innehat, wurde von dieser aus Polen stammenden Familie gestiftet, die viele Angehörige durch den Holocaust verlor. Präsident Traina, der Bergen–Belsen besuchte, um ein realistischeres Verständnis dieser Zeit zu bekommen, war einer der wichtigsten Förderer des Zentrums seit den ersten Tagen. Ein anderer Hauptdonator ist die Strassler Familie, die den "Strassler Family Chair for the Study of Holocaust History" schenkte.
Dieses Zentrum ist das erste und einzige seiner Art in der Welt, das ein Doktoratsstudium der Geschichte des Holocaust und ein interdisziplinäres Undergraduate Studium im besonderen dieses Völkermords und anderer Genozide anbietet.
Obwohl das Studienzentrum erst seit drei Jahren besteht, hat es bereits großes Interesse und eine breite Aufmerksamkeit auf sich gezogen und viele bekannte Forscher und religiöse Autoritäten aus den USA, Europa und Israel als Gäste beherbergt.
"Der Holocaust wird nicht vergessen werden können, solange es noch Tausende von Überlebenden gibt. Machen wir aber nicht eine besondere und aussergewöhnliche Anstrengung, wird der Holocaust nach und nach aus dem menschlichen Bewußtsein verschwinden und ein mehr oder weniger vergessenes historisches Ereignis werden. Aufgabe und Mission dieses Zentrums ist es deshalb, zu verhindern, dass solches geschieht."
Den vollständigen Artikel von Franz Schwediauer finden Sie in der aktuellen Ausgabe der INW 12–1/2000–2001
Center for Holocaust Studies Clark University, 950 Main Strett Worcester, MA01610–1477 Telefon: 508 793 8897
http://www.clarku.edu/depratmnet/holocaust
Das Palmach-Museum liegt gleich neben dem Eretz Israel Museum zu Beginn des
Akademischen Terrains am Fuße des Hügels, der zur Tel Aviver Universität
hinaufführt.
Das Gebäude konzipierte 1992 der Architekt Zvi Hecker, der in Deutschland
durch den Bau der jüdischen Grundschule in Berlin/ Charlottenburg und
das jüdische Gemeindezentrum in Duisburg bekannt wurde. sieben Jahre vergingen,
bis diese Einrichtung zur Pflege des kulturellen Erbes der Eliteeinheiten der
zionistischen Pioniere, der Palmach, übersetzt „der Vorstoßtruppen",
eröffnet wurde. Zvi Hecker hat das Museum in der Landschaft verwurzelt,
und es wirkt ganz dem Sandstein entwachsen, aus dem die Hügel dort bestehen.
Mit den Worten des israelischen Bildhauers Michi Ullmann glaubt man, es seien „zwei
Berge mit Bäumen dazwischen". Seine architektonische Form, zwei Gebäude,
die wie zwei flache, spitzwinkelige Keile ineinander verhakt an Höhe gewinnen
und so die natürliche Sandsteinformation beibehalten, die ursprünglich
die Topographie des Küstenstreifen im nördlichen Tel Aviv ausmachte – vor
der Urbanisierung, diese in sich verschobenen, dünenartigen Sandsteinhügel
hat Zwi Hecker nachbauen lassen, indem er kantige Sandsteinplatten diagonal
in sandigen Mörtel geschichtet hat. Hieraus ergibt sich eine sehr rohe
und scharfkantige Oberfläche, die durch die Verwendung unbearbeiteter
Betonschichten und glänzender weißer hervorstechender Quader noch
stärker wirkt. Im höchsten dieser weiß gleißenden Quader
ist das Symbol des Palmach eingemeisselt und es erklärt sich an dieser
exponierten Stelle fast von selbst: zwei Getreideähren, die von einem
diagonal vorgelegten Schwert geschützt werden. Das Symbol deklariert die
Ziele des Palmach: zur Urbarmachung des Landes und als nationale Heimat für
alle Juden wird jeder Pionier kämpfen und sei es mit dem Schwert.
Die beiden Gebäudeteile stehen wie zwei Dreiecke gegeneinander versetzt. Zwischen sie ist wie ein Tal der Innenhof mit alten Bäumen spitzwinkelig eingebettet. Die lange Rampe, die den Besucher zum Eingang führt, verstärkt den Eindruck des serpentinenhaften Aufstiegs. Ihr Hin und Her spiegelt die Wirren jener Gründungsjahre, in denen der Palmach so wichtig war, also die Jahre zwischen 1941 bis zur Staatsgründung 1948.
Im Innern des Museums, besser Memorial genannt, gelangt man, ebenfalls auf schrägen Rampen, zur ersten Ausstellungsebene. Hier werden einige Gemälde von dem Maler Leonard Blum ausgestellt. Er war durch seine künstlerische Begabung ein Palmachkämpfer, der die Zeit zwischen seinen Einsätzen nutzte, um die Atmosphäre unter den jungen Zionisten in den umkämpften Kibbuzim jener Tage bildlich umzusetzen und so atmosphärisch zu dokumentieren.
Abgesehen von diesem Raum gibt es im Museum keine Vitrinen, keine ausgestellten Dokumente oder historischen Reliquien. Vom Eingang gelangt man, wieder über Rampen, in den Innenhof, in dem ein paar vereinzelte Bäume an ein karges Wäldchen erinnern, und von dort zum zweiten Gebäudetrakt, der das umfangreiche Fotoarchiv ausstellt. Dieses Archiv wird von ehemaligen Palmachnikim betreut und so trifft der Besucher dort kompetente Zeitzeugen, die anhand des beeindruckenden und minutiös dokumentierten Bildmaterials die Geschichte lebendig werden lassen.
Der Palmach wurde in der Mandatszeit 1941 auf Anfrage Großbritanniens von der Hagannah gegründet, um einen möglichen Überfall Deutschlands abwehren zu helfen.
Die zwiespältige Rolle des Palmach im Unabhängigkeitskrieg wird heute von israelischen Historikern untersucht. Diese beginnende Revision des kollektiven Ursprungsmythos ist schmerzhaft und die Zukunft wird zeigen, inwieweit dieser Diskurs auch hierher ins Museum getragen wird.
Den gesamten Aritkel von Barbara Kempinski finden Sie in der Neujahrsausgabe (8/9) 2009 der INW.
Palmach
Museum, Haim-Levanon-Str.10, Ramat-Aviv, Tel Aviv
Für einen Museumsbesuch ist eine Reservierung notwendig.
Nach langen Debatten in einer Privatwohnung in der Rembrandstraße, erinnerte sich Gründungsmitglied und erster Mannschaftskapitän Eugen Eisleanlässlich des 25. Bestandjubiläums, wurde 1909 der jüdische Fußballklub Hakoah (hebräisch: Kraft) gegründet.
Gleich nach der Gründung standen wir schon vor der Auflösung, denn wir hatten unser erstes Wettspiel gegen irgendeinen kleinen Verein aus Favoriten 1:10 verloren. Mit dem zweiten Spiel lief es schon besser, und der Hakoah konnte ein 2:2 Unentschieden erreichen. Sportliche Erfolge gleich zu Beginn waren Voraussetzung für den weiteren Bestand: groß war die Skepsis gegenüber dem "jüdischen Verein", der offensiv in der Öffentlichkeit auftrat, groß war die Erwartungshaltung sowohl von Juden wie Nichtjuden. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen trafen sich die Mitglieder jeden Sonn- und Feiertag, zumeist ab 8 Uhr früh und trainierten bis spät abends. Bald wurde ein eigenes Klubkaffee eingerichtet und der sog. "Birner Platz" an der Alten Donau angemietet. Erste – erfolgreiche – Tourneen führten nach Bielitz und Troppau. Die blau-weiße Klubfahne wurde mit berechtigtem Stolz hochgehalten. Die Klubzeitung wurde zum wichtigen Kommunikationsmittel für die im ersten Weltkrieg eingerückten Vereinsmitglieder. Zahlreiche Sektionen entstanden und konnten in kurzer Zeit grossartige Erfolge erringen: österreichische Meister wurden "Hakoahner" beim Fussball, beim Wasserball und beim Landhockey. Der Verein brachte es in den ersten 29 Jahren seiner Existenz zu einer großen Zahl österreichischer Titel und Teilnahmen an internationalen Bewerben in allen möglichen Sportarten. Legendär wurden die Erfolge der unter dem Dachverband der Hakoah antretenden Schwimmer und Leichtathleten. Auch die Skimannschaft errang beachtliche Siege. Bereits wenige Jahre nach der Gründung war Hakoah mit 2000 Mitgliedern der größte jüdische Sportverein Europas. Im Jahre 1923 eröffnete der Verein eine eigene, mehr als 20.000 Zuschauer fassende Sportanlage in der Krieau, unmittelbar neben dem heutigen Wiener Stadion. Wie zur Feier der neuen Anlage wurde Hakoah in der Saison 1924/25 österreichischer Fußballmeister. Der Fussballmannschaft gelang 1923 als erster österreichischer Mannschaft ein Auswärts–Sieg gegen ein englisches Team (Westham United). Die Hakoah-Ringer stellten zehn Jahre hindurch die österreichischen Meister, 1932 errang Hakoah–Ringer Micki Hirschl bei den Olympischen Spielen in Los Angeles zwei Bronzemedaillen. Hakoah war wie die anderen jüdischen Sportvereine Bar Kochba und der bereits 1897 als "Erster Jüdischer Turnverein" gegründete "Maccabi" jüdischnational aufgebaut und schreckten einige Juden ab, die sich in gemischten Vereinen betätigten. Es offenbarte sich, wie ein Zeitzeuge resümierte, der Gegensatz zwischen jüdischem Nationalismus und bodenständigem Judentum. Wichtiger als die Organisierung in jüdischen Vereinen wäre, dass die jüdische Jugend – gerade ohne Rücksicht auf die Welt – ihren Sport betreibt, dass sie körperlich und damit auch seelisch stark wird, um den Kämpfen gewachsen zu sein. Den Kämpfen, die Juden ihr Leben lang bestreiten müssen. Nicht gerade nur auf den Sportplätzen, nicht gerade nur nach den internationalen Regeln der Fairness ...
Die Bedeutung der Hakoah illustriert Robert Stricker in einem Beitrag der von ihm geleiteten Neuen Welt 1928: In jüdischen Kreisen, weit über Wien hinaus, herrschen Bestürzung und Aufregung ... Der jüdische Sportklub Hakoah hat in der heurigen Fußballsaison viele Spiele verloren und ist aus der Meisterklasse gestrichen worden. Und wie seinerzeit der Aufstieg dieses Klubs als ein großer jüdischer Sieg gefeiert wurde, wird heute sein Abstieg als eine jüdische Niederlage beklagt. Stricker selbst sah aufgrund der Niederlage(n) der Hakoah Anzeichen einer schweren Krise der jüdischnationalen Idee", ja sogar einer "Verfallserscheinung im zionistischen Leben Ab den Dreissiger Jahren war es mit der Fairness allerdings vorbei: Als sich die Hakoahnerinnen Ruth Langer, Judith Deutsch und Lucie Goldner weigerten, an der Olympiade 1936 in Berlin unter dem Hakenkreuz teilzunehmen, wurden sie vom österreichischen Schwimmverband lebenslang gesperrt – und das Urteil wurde nach 1945 nicht revidiert. Bereits Anfang April 1938 wurde der Verein aufgelöst, die Sportanlage beschlagnahmt, zwei zufällig anwesende Funktionäre ins KZ–Dachau verschleppt. Mindestens 37 wurden in den KZ ermordet. Im "Brit Hakoah 1909" haben sich die 1938 aus Wien vertriebenen Hakoahner zu einer Auslands-Organisation zusammengeschlossen. In Österreich wurde Hakoah 1945 wiedergegründet.
(Mag. Anton Legerer in der Sondernummer "Das jüdische Wien", Oktober/November 2000)
Mit 24. Februar 1893 ist die erste Eintragung im Inventarbuch datiert. Erstes eingetragenes Objekt ist das Buch "Die alten jüdischen Heiligthümer, Gottesdienste und Gewohnheiten" von Johannes Lundius, 1722 in Hamburg erschienen und gestiftet vom Wiener Kinderarzt Dr. Emanuel Kolisch. Formell erfolgt die Gründung der Gesellschaft für Sammlung und Konservierung von Kunst- und historischen Denkmälern des Judentums unter der Federführung von Kultusvorsteher und Gemeinderat, Baurat Wilhelm Stiassny (1842–1910) erst im darauffolgenden Jahr. Bereits am 1. November 1895 wird schliesslich das weltweit erste jüdische Museum in Wien I., Rathausstraße 13 eröffnet. Die Öffnungszeiten sind mit fünf Stunden pro Woche (Samstag 10 bis 13 Uhr, Sonntag für Gruppen 11 – 13 Uhr) sehr restriktiv angesetzt. Das Wiener Museum entsprang einer in mehreren Teilen Europas fast zeitgleich aufflammenden Musealisierungsdiskussion und war Vorreiter einer Reihe von jüdischer Museen bzw. jüdischer Abteilungen in historischen Museen, die in der Folge um die Jahrhundertwende in Warschau, Prag, Leningrad, London, München, Würzburg, Straßburg, Mainz, Kassel, Breslau und Köln eingerichtet wurden. Der große Zuspruch der Wiener Einrichtung lässt sich daraus ermessen, dass die Träger-Gesellschaft des Museums 1897 bereits 123 ordentliche und neun stiftende Mitglieder zählt. Der Fundus enthält zu dieser Zeit 526 Objekte, zumeist Schenkungen, innerhalb eines Jahres findet fast eine Verdoppelung der Objekte auf "beinahe 1000" Objekte per Ende 1898 statt. In einem 1907 publizierten Bericht des Wien–Besuchers Samuel Weissenberg ist ein Stand von 3000 Objekten per 1905 angeführt, 1925 ist von 5000 Objekten die Rede. In zeitgenössischen Zeitschriften ist von einer großen und mannigfaltigen Fülle der Schätze des Sammelorts für jüdische Volkskunde die Rede. Der Chronist beschreibt den Fundus des Museums so: Geldmünzen aus der Zeit jüdischer und nichtjüdischer Herrscher, römischer Kaiser und Simon bar Kochbas, alte handgeschriebene Gebetbücher und Thorarollen, eine Herzl–Ecke mit Originalbildern, die Herzl als Kind, Herzl und seine Schwester und Herzls Eltern zeigen, Briefe berühmter Männer und Frauen (von Herzl, Nordau, Pinsker, Mendelsohn, Henriette Herz, von Dichtern, Talmudisten und Schauspielern), Photographien, die das moderne Palästina und die Geschichte des Zionismus darstellen, zahlreiche Leuchter und Menorah, Bilder und Gegenstände aus Russland, Grabsteine, prachtvolle synagogale und rituelle Gegenstände, historische und folkloristische Sehenswürdigkeiten, prachtvolle Gobelins, Holzschnitzereien, historische Dokumente und eine vom Maler Isidor Kaufmann 1898/99 eingerichtete "Gute Stube am Sabbath". Durch die große Fülle der Objekte, Bilder und Denkmäler, zum Teil von hohem künstlerischen, vor allem geschichtlichen und kulturhistorischen Wert zur Kenntnis der Geschichte der Juden im allgemeinen und der Wiener Juden im besonderen, würde das Wiener Museum als erstrangig unter den gleichen Institutionen des Auslandes gewertet werden, so Chronisten aus den 30er Jahren. Ein Publizist aus den 30er Jahren beschrieb die beengte Raumsituation: Links der Eingang zum Bethaus, rechts zur jüdischen Volksschule. Lärmende Kinder. Der Lehrer lehrt und die Schüler lernen jüdische Geschichte. Und geschichtliche Gegenstände und Denkwürdigkeiten befinden sich gleichsam auf dem Boden, im dritten Stock. In engen, kleinen, dumpfen Räumen haust das jüdische Museum .... Er monierte die Vernachlässigung des Museums durch die jüdische Gemeinde, dabei handelt sich nicht um die Errichtung eines Palastes oder eines Louvresund Belvederes, vielmehr um die Unterbringung der Schätze in geeigneten Räumen. Das jüdische Museum, so argumentiert er, gehört zum Wirkungskreis der Kultusgemeinde. Wenn ein geeigneter Ort dafür gefunden wird, dann werden nicht allein die Kunstgegenstände, sondern auch die jüdischen Künstler ein Heim finden, welches gleichzeitig zur Schaustellung jüdischer Werke und Werte dienen könnte. Die Besucherstruktur wird sowohl in Quellen aus den 20er Jahren als auch aus den 30er Jahren als sehr heterogen beschrieben: Einzelne Besucher, Vereine und Schulen: Besucher, unter denen sich auch Nichtjuden, Laien und Fachmänner, auch zahlreiche Besucher aus dem Auslande, befinden, einzelne Besucher sind skizziert als polnischer Rabbiner, Lehrer, Kinder, ein jüdischer Abgeordneter aus Rumänien, eine Autorin aus dem Kaukasus, ein alter Jude aus Wien. 1925 ist von 2000 Besuchern jährlich die Rede. Das Jüdische Museum wurde 1938 unmittelbar nach dem Anschluss von den Nationalsozialisten geschlossen und die Sammlung beschlagnahmt, ein Teil der Objekte überdauerte die Nationalsozialistische Herrschaft und die Kriegshandlungen in den Kellern des Kunsthistorischen Museums und ist wieder Teil der Sammlung des heutigen Jüdischen Museums der Stadt Wien.
Gekürzte Fassung aus der Sondernummer "Das jüdische Wien", Oktober 2000 von Anton Legerer
Letzte Änderung: 10.11.2012
Webmeisterin+Redaktion: Mag. Ditta Rudle
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