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70 Jahre Israel

An seinem 70. Geburtstag ringt Israel weiterhin mit immensen innen- wie außenpolitischen Problemen.

70 Jahre, nachdem Israel gegründet wurde, um Juden in aller Welt Hoffnung zu geben, haben Pessimisten es hier sehr gut. Sie müssen sich kaum anstrengen, um Anlass zur Sorge oder zum Krächzen zu finden. Es fängt schon mit der Geographie an. Wenn er schon 40 Jahre unterwegs war – warum musste Moses sein Volk beim Exodus dann ausgerechnet in dieses Land führen? In einen Landstrich, in dem es mehr Sand als Süßwasser gibt? Der von Islamisten und kollabierenden Staaten umgeben ist, deren wichtigste Exportgüter derzeit Erdöl, Terror, Flüchtlinge und radikale Ideologien sind? Ganz zu schweigen von feindlichen Nachbarn, wie dem Iran, der jährlich Milliarden investiert, um den jüdischen Staat zu vernichten, obwohl er gar keine Interessenskonflikte mit Israel hat?
Schwarzseher werden hier richtig verwöhnt. Sie müssen nicht einmal den Blick heben, um zu verzweifeln. Sie müssen nur innenpolitische Ereignisse verfolgen. Benjamin Netanjahu könnte bald zum zweiten Premierminister in Israels Geschichte werden, der sein Amt wegen Korruption niederlegen und aus seiner Residenz in eine Gefängniszelle umziehen muss. Er wäre kein Einzelfall: Ein Präsident, ein Oberrabbiner, gleich mehrere Minister, sowie hochrangige Beamte und Militärs wurden in vergangenen Jahren für schuldig befunden, ihre Machtposition kriminell missbraucht zu haben – auf Kosten ihrer Umgebung oder der Öffentlichkeit. Die meisten von ihnen – Netanjahu eingeschlossen – schämen sich dafür nicht einmal. Stattdessen greifen sie Israels Justiz schamlos an. Sie operieren mit dem Schlachtruf „divide et impera!“: Vor den Wahlen scheute der Premier nicht einmal vor blanken Lügen zurück, indem er seine Wähler anspornte, zu den Urnen zu hasten, weil die „Linke“ Araber in „Massen“ mit Bussen zu den Wahllokalen karre, um ihn abzuwählen.


Längst werden nicht mehr nur Israels arabische Staatsbürger kollektiv verunglimpft. Menschenrechtsorganisationen werden als „linke Extremisten“ oder gar als „Verräter“ gebrandmarkt. Journalisten werden öffentlich angegriffen, selbst Richter, Beamte, Polizisten und gar der Staatspräsident sind vor dem selbstgerechten Eifer des regierenden rechten Lagers nicht mehr immun. Zu diesem offiziellen Verhalten gesellt sich eine Reihe von Gesetzesinitiativen, die berechtigte Zweifel am Demokratieverständnis der Regierung wecken. Hinweise dafür, dass Netanjahu illegale Praktiken anwendet, um die Medienlandschaft und die freie Berichterstattung in seinem Sinne einzuschränken, kommen hinzu. All das schwächt die Zivilgesellschaft. Nicht, dass Netanjahu diese in anderen Hinsichten stärkte. Nach knapp zehn Jahren im Amt hat er seinem Land einen traurigen Rekord beschert:
Nirgends in der OECD gibt es anteilmäßig mehr Armut als hier. Insgesamt 1,8 Millionen Israelis, davon 842.300 Kinder – das sind 22 Prozent der Bevölkerung und 31,2 Prozent aller Kinder –, lebten 2016 unter der Armutsgrenze. Die meisten von ihnen stammen aus den Sektoren der Ultra-Orthodoxen oder der muslimischen Araber. Es sind die ärmsten Bevölkerungsschichten, die zugleich am schnellsten wachsen. Das könnte für Israel zu einem existenziellen Problem werden: Wenn es nicht gelingt, diese beiden Segmente in die Gesellschaft zu integrieren, wird Israel kollektiv verarmen.


Als wäre all das nicht genug Stoff zum Nachdenken, bleibt das alte Palästinenserproblem nicht nur nicht gelöst, es eitert wie eine schwärende Wunde weiter. Der Friedensprozess ist tot. Die Ruhe im Westjordanland ist oberflächlich. Ein Ende der Ära des Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas ist deutlich abzusehen. Angesichts maroder Herrschaftsstrukturen ist es sehr wahrscheinlich, dass seine gewaltlose Strategie der engen Sicherheitskooperation mit Israel durch Chaos und Terror ersetzt werden wird. Zugleich steht der Gazastreifen vor dem totalen Kollaps, wirtschaftlich, politisch, gesellschaftlich und vor allem ökologisch. Die einzige Antwort, die Israels Regierung bislang auf diese besorgniserregenden Trends fand, waren Investments zur Verstärkung des Siedlungsbaus, der die Beziehungen zu den traditionellen Verbündeten in Europa schwer belastet. All das mag all jenen, die auf Israels 70. Geburtstag anstoßen wollen, den Schampus vergällen.


Nichtsdestotrotz sind in Israel auch die Gläser der Optimisten mindestens halb voll. Neben diesen negativen Trends gibt es nämlich auch zahlreiche positive Entwicklungen. Israels Wirtschaft erweist sich als erstaunlich stabil. Die Arbeitslosigkeit hat ein Rekordtief erreicht, weil die Regierung bislang ausgeschlossene Sektoren der Gesellschaft in den Arbeitsmarkt integriert. Immer mehr ultra-orthodoxe Männer und arabische Frauen gehen nun zur Arbeit. Die Unterschiede zwischen den sogenannten Misrahim (Juden, deren Eltern aus arabischen Staaten einwanderten und die bislang zur Unterschicht zählten) und der Elite der Aschkenasim nehmen ab. Der Lebensstandard der armen Bevölkerung steigt ständig, weil generell die israelischen Haushaltseinkommen seit 2012 um mindestens zehn Prozent anstiegen.


Benjamin Netanjahu kann sich also zu Recht mit einem ständig schrumpfenden Haushaltsdefizit und einer schnell wachsenden Wirtschaft brüsten. Dies erlaubte ihm sogar die Sozialhilfe anzuheben und die Zahl armer Rentner zu reduzieren. Statt der Armee, in der weiterhin hauptsächlich säkulare, jüdische Israelis dienen, wird nun die freie Marktwirtschaft zum Schmelztiegel der israelischen Gesellschaft.
70 Jahre später also, nachdem der Staat sein Überleben in einem blutigen Krieg verteidigen musste, ist das ein erfrischender Hauch Normalität. Außerdem baut Israel heute seinen technologischen Vorsprung gegenüber der arabischen Welt weiter aus. Israel erfreut sich aber nicht nur einer innen- sondern auch einer außenpolitischen Blüte, trotz aller Probleme.


Der Palästinenserkonflikt mag noch Jahre ungelöst bleiben. Dem diplomatischen Ansehen des Landes scheint das indes kaum noch zu schaden. Netanjahu ist es gelungen, alte Bündnisse mit afrikanischen Staaten wiederzubeleben und neue in Asien zu schließen – allen voran der angehenden Supermacht Indien.


Manche wähnen im Aufstieg rechtspopulistischer, islamfeindlicher Bewegungen in Europa trotz deren antisemitischer Vergangenheit ein potenzielles Gegengewicht zur traditionell Israel-feindlichen Haltung linksliberaler Kreise auf dem alten Kontinent. Und selbst in der arabischen Welt konvergierten verschiedene Entwicklungen auf einen kritischen Punkt, der arabische Regime dazu brachte, Israel nicht mehr als Feind, sondern als wichtigen Verbündeten zu betrachten – und zu behandeln. Nie waren die Beziehungen zu Ägypten und Jordanien enger als heute, und der Interessensausgleich mit anderen sunnitischen Staatschefs größer.


Ungeachtet aller berechtigten Kritik sollte es deshalb nicht überraschen, dass Israelis im Durchschnitt mit ihrem Leben zufriedener sind, als Bürger anderer OECD-Staaten. Das gilt übrigens nicht nur für Juden: Satte 62 Prozent der arabischen Staatsbürger in Israel sagen, das Leben dort sei gut und sie wollten das Land deshalb auch unter keinen Umständen verlassen.
An seinem 70. Geburtstag zeigt das Land keine Spur von Gesetztheit. Es ist so jung, energetisch, streitfreudig, widersprüchlich und keck wie eh und je. Denn eines kann es mit Sicherheit sagen: Trotz aller Gefahren und Herausforderungen war Israel noch nie so sicher, stabil, wohlhabend und zukunftsträchtig wie heute.

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