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Berlinale 2018

Themen wie Verfolgung, Heimatverlust, Exil und die Auswirkungen solcher Schicksalsschläge auf einzelne Individuen bestimmten das diesjährige Filmfestival in Berlin.

Herausragend zu diesem Thema erwiesen sich vor allem zwei Beiträge: Transit von dem deutschen Regisseur ­Christian ­Petzold und der russische Film Dovlatov von Alexei German Jr.. Diese beiden Berlinale-Beiträge erinnern in gewissem Sinne an den Film Casablanca, der seit seiner Uraufführung im Jahr 1942 zum Kult wie auch zum historischen Ereignis wurde.
Rund um Rick’s Café in der marokkanischen Stadt Casablanca bietet der Film bizarre Verschränkungen zwischen Geschichte und Fiktion, zwischen Politik und Leinwand, zwischen Realität und Film. Humphrey Bogart und Ingrid Bergmann war als Liebespaar in diesem Polit-Flüchtlingsdrama kein Happy End vergönnt. Das legendäre Melodram des österreichisch-ungarischen Regisseurs Michael Curtiz handelt von politisch Verfolgten, die vor den Nazis aus Europa über Französisch-Nordafrika nach Amerika fliehen wollen. Emigranten aus ganz Europa buhlen auf dem Schwarzmarkt und bei korrupten französischen Beamten um Ausreisevisa nach Lissabon.


Eine ähnliche Geschichte erlebte die Schriftstellerin Anna Seghers, die in den 1940er-Jahren auf der Flucht vor den Nazis in Marseille strandete und schließlich nach Mexiko flüchten konnte. Inspiriert von ihren Erlebnissen schrieb sie den Roman Transit. Die Geschichte von Menschen, deren Leben von der Zerrissenheit zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen alter und neuer Heimat, zwischen vergangenen und neuen Lieben bestimmt ist. Den schwebenden Zustand eines Flüchtlingsschicksals zwischen Verfolgung, Angst und Hoffnung nennt sie in ihrem Roman Transitärleben. Seghers stellt darin außerdem Fragen, die uns gerade heute angesichts der internationalen Ratlosigkeit rund um Flüchtlingselend und Asylantenkrise brennend relevant erscheinen: Was ist Heimat? Ein Geburtsort, eine bessere Welt oder einfach nur eine Metapher für beides?


Wie aktuell diese Fragen sind, zeigt nun die Verfilmung von Anna Seghers‘ Roman durch Christian Petzolds Verfilmung. Er hat wesentliche Teile von Transit in unsere Gegenwart übertragen.
Ähnlich aktuell mutet der Film Dovlatov an, der in der Sowjetunion der 1970er Jahre spielt, und ganz ähnliche Fragen ans Heute stellt. Genie und künstlerische Kreativität galten in der UdSSR damals als furchterregend. Zu allem Unglück war der Schriftsteller Sergei Dovlatov fatalerweise auch noch jüdischer Herkunft. So wie sein Kollege Joseph Brodsky, der sich schon vor Dovlatov in die USA absetzte und 1987 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet worden war. Die Texte von Dovlatov sowie auch Brodskys Gedichte sind ironisch, also uneindeutig. Das ist beunruhigend für einen Staat, der seine Künstler gerne unter Kontrolle hat.


Der russische Regisseur Alexei German Jr. hat diesen Dichtern nun einen ganzen Film gewidmet. Er ist indirekt auch ein Gesellschaftsbild der Gegenwart Russlands mit all ihren Maßregelungen und Verboten in Kunstfragen wie zum Beispiel dem Bann der Kinofarce The Death of Stalin.
Die Illustrierte Neue Welt hat bei der Berlinale die Regisseure Christian Petzold und Alexei ­German, Jr. getroffen und zu den künstlerischen wie auch zu den politischen Intentionen ihrer Filme befragt.

 

Christian Petzold und sein Film „Transit“

„Für mich waren die Figuren in Transit keine Gespenster der Vergangenheit, sondern unsere Gegenwart kam mir gespenstisch vor“, meinte Christian Petzold vor der Vorführung seiner Adaption des gleichnamigen Romans von Anna Seghers. Petzold hat die Handlung des Romans, der in Marseille zur Zeit der deutschen Besatzung spielt, in eine nicht näher bestimmte heutige Zeit versetzt. Geflüchtete von damals treffen auf Geflüchtete von heute, womit die Konflikte der deutschen Exilschriftsteller, die verzweifelt versuchen Marseille in Richtung Südamerika zu verlassen, eine neue Bedeutungsebene bekommen. Erzählt wird die Geschichte des jungen Georg – gespielt vom neuen Shooting-Star des deutschen Films Franz Rogowski –, der vor den Nazis in die Hafenstadt Marseille geflüchtet ist und dort die Identität eines toten Schriftstellers annimmt. Mit den Papieren des Toten will er die Flucht nach Mexiko schaffen. Die Ereignisse überschlagen sich, als er die Witwe des Toten trifft, ihr aber seinen rettenden Identitätswechsel nicht anvertrauen will.


INW: Sie haben für Ihre Verfilmung des Seghers-Romans einen sehr spannenden Kunstgriff gewählt: Sie haben den toten Schriftsteller, dessen Identität Ihr Protagonist Georg annimmt, in der Vergangenheit gelassen – wovon unter anderem dessen Pass und seine mechanische Schreibmaschine zeugen – während Georg diese Identität in der Gegenwart verteidigen muss. Was ist dran an dem Gerücht, dass dieser Kunstgriff aus der Not heraus geboren wurde, weil Ihnen angeblich das Geld für Ausstattung und Kostüme der 1940er Jahre fehlte?


Christian Petzold: Ich denke gerade darüber nach, wo dieses Gerücht herkommen mag und ob meine Produzenten wohl auch hier herumlaufen. Die Wahrheit ist: Die wollten es eigentlich gar nicht, dass ich diese Geschichte ins Jetzt verlege. Ich war es, der ihnen gesagt hat, dass der Film dadurch ja viel billiger wird und sie haben herumgejammert und gesagt: Nein, wie sollen wir da Geld akquirieren für so einen ausgefallenen Wunsch. Es war also viel schwieriger an Geld heranzukommen mit dieser Idee. Ich wollte mit der Idee, die Geschichte teilweise in die Jetztzeit zu verlegen, das Museale vermeiden, das solchen Literaturverfilmungen oft anhaftet.


INW: Lehnen Sie Historienfilme grundsätzlich ab?


CP: Es gibt Filme wie Barry Lyndon, die aus dem historischen Ambiente einen ganz eigenen ästhetischen Zugang gewinnen – wie etwa, dass dieser Film ausschließlich mit Kerzenlicht gedreht wurde. Aber dann sieht man die Zoom-Einstellungen, die den historischen Zauber wieder brechen. Das habe ich auch meinen Produzenten so erklärt. Bei anderen Verfilmungen, wie etwa Jules et Jim – da merke ich bei jeder Einstellung das Studio-Ambiente. Der Wind, das Licht, die Sonne, die Schauspielern ins Gesicht scheint. All das wirkt künstlich und mit Ventilatoren und Scheinwerfern hergestellt und das merkt man.


INW: Und wie gehen Sie mit dem politischen Hintergrund Ihres Filmes um?


CP: Bei Filmen mit politischen Inhalten finde ich sowieso, dass man sie in einen zeitgenössischen Kontext bringen muss. Ich möchte nicht in die Vergangenheit schauen und mit dem Finger darauf zeigen, was die damals falsch gemacht haben, sondern ich möchte, dass die Vergangenheit uns zeigt, was wir in der Gegenwart falsch machen. Die Auswirkungen der Vergangenheit, von der wir in Transit erzählen – von Faschismus, Antisemitismus und Fremdenhass – das alles ist ja leider nicht vorbei. Daher können wir die Gegenwart bei diesem Thema gar nicht ausklammern.


INW: Ist die Hafenstadt Marseille auch in der heutigen Zeit ein geeigneter Ort, um Ihre „Transit“-Geschichte zu erzählen?


CP: Hafenstädte sind Orte der Zuflucht während einer Flucht, geschützte Transiträume für Gestrandete. Doch solche Orte gibt es immer weniger. Diese Transitbereiche verschwinden. Wir verstecken heute Flüchtlinge in den Wäldern, in alten, ausrangierten Kasernen. Wenn sie sich einmal irgendwo in Fußgängerzonen zeigen, wirken sie für uns geradezu gefährlich. Wir wollen sie nicht sehen. Und wenn wir sie sehen, sind sie uns unangenehm. Diese Existenz des Flüchtlings wollte ich mit Anna Seghers in Beziehung bringen. Unsere ganze Asylgesetzgebung basiert auf Erfahrungen, die Menschen wie Anna Seghers gemacht haben. Sie hat sehr, sehr klar geschildert, was es bedeutet, dass keiner dich mehr will. Deshalb haben wir den Asylparagraphen im Grundgesetz. Und jeder der den Asylparagrafen angreift, greift die Erfahrungen dieser Menschen an.


INW: Im zeitgenössischen Kontext Ihres Films wird die grausame Absurdität des Antisemitismus besonders deutlich. Man sieht in manchen Hafeneinstellungen heutige Flüchtlinge, die meist aus den kriegführenden Ländern im Nahen Osten kommen und die in Europa mit der Ausrede abgelehnt werden, dass man sich vor dem „Fremden“ fürchte – und gleichzeitig werden deutsche und österreichische Juden verfolgt, die bis dahin ein wesentlicher Bestandteil der deutschen und österreichischen Kultur waren. War das die Absicht Ihrer „Modernisierung“ von Anna Seghers Roman?


CP: Irgendwie war das im Roman schon vorgegeben. Denn Anna Seghers Sprache ist darin ja sehr expressionistisch und man hat das Gefühl, dass die Sprache selbst Deutschland verlässt und auf eine Reise ins Ungewisse geht. Seghers nimmt in „Transit“ schon die Sprache der amerikanischen Erzähler wie Faulkner oder Hemingway vorweg.  


INW: Sie haben zwei sehr junge Schauspieler mit den Hauptrollen Ihres Films betraut – Paula Beer und Franz Rogowski – wie sind Sie auf die beiden gekommen?


CP: Ich wollte einmal mit neuen Gesichtern arbeiten und dann ging es mir auch darum, die Geschichte von Leuten zu erzählen, deren Jugend durch eine grausame Politik quasi gestohlen wird. Die beiden, die irgendwie noch gar nicht zu Ende geboren sind – die beiden erleben in dieser Ausnahmesituation des Transit-Raums Marseille, wie sie zu Menschen werden, die schon alles gesehen haben. Und zu dieser Menschwerdung gehört auch, dass man andere liebt – nicht nur sich selbst –, dass man Schuld empfinden kann, dass man Fehler wiedergutmachen will und dass man Verantwortung übernimmt. Und dazu kommt, dass sie gar keine eigene Identität haben, weil sie sich eine andere angeeignet haben. Dieser Tanz um Identität und Menschwerdung hat mich an diesem Stoff interessiert.

 

Alexei German jr. und „Dovlatov“

Sergei Dovlatov, heute einer der meistgelesenen Schriftsteller, hat seinen späten Ruhm nicht mehr erlebt. Er starb 1990 im New Yorker Exil. Germans Film zeigt, wie Dovlatov und Joseph Brodsky als grundverdächtige Mitglieder der schreibenden Zunft vom KGB unter Beobachtung gehalten werden. „Verdächtig“ waren die beiden dazu noch durch ihre jüdische Herkunft. Brodsky, der russische Literatur-Nobelpreisträger von 1987, war 1964 als „arbeitsscheues Element“ zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden. Auch danach drohten ihm und Dovlatov ständig Gefangenschaft und Arbeitslager. 1972 wurde er aus seiner Heimat ausgebürgert und lebte bis zu seinem Tod im Jahr 1996 im amerikanischen Exil. Als 1940 Geborener gehörte er einer Generation an, die sich Illusionen über das Volk oder die Massen wahrlich nicht mehr machen konnte – und eigentlich auch keine Illusionen mehr über die wahre Natur des Menschen. Germans Film bietet ein überzeugendes Bild dieser bleiernen Zeit. Gleichzeitig wirkt er so aktuell, dass man sich unwillkürlich fragt, ob der Regisseur mit einer etwaigen Zensur im heutigen Russland zu kämpfen hatte.


INW: Warum wollten Sie die Geschichten von Sergej Dovlatov und Joseph Brodsky gerade jetzt erzählen? Ist sein Schicksal heute wieder aktuell?


Alexei German JR.: Zuerst einmal muss ich sagen, dass ich ein großer Fan von ­Dovlatov und Brodsky bin. Außerdem wollte ich erzählen, wie es den Schriftstellern in dieser Zeit ergangen ist, wenn sie sich nicht zu einer Form von Propaganda missbrauchen ließen. Ein nicht unwesentlicher Grund ist auch, dass meine Eltern die 1970er Jahre miterlebt haben und ich einmal in diese Zeit eintauchen wollte, um sie besser zu verstehen. Ich bin in Leningrad aufgewachsen – genau in jener Gegend, in der auch Dovlatov gelebt hat.


INW: Gab es bei diesem Film irgendeine Form von Einmischung oder gar Zensur?


AG: Die Zensur ist heute in Russland bei weitem nicht so drastisch, wie zu Dovlatovs Zeiten. Oder sie ist inzwischen so subtil geworden, dass wir sie nicht mehr so leicht bemerken (lacht). Auf jeden Fall hat man uns nicht daran gehindert, den Film ins Kino zu bringen. Insgesamt 500 Kopien davon werden nach der Berlinale in ganz Russland gezeigt. Aber das heißt nicht, dass sich die Situation in den nächsten fünf bis zehn Jahren nicht drastisch verändern könnte. Es gibt Anzeichen dafür, dass es für die künstlerische und journalistische Freiheit in unserem Land langsam enger wird.


INW: Würden Sie dann – so wie Brodsky und Dovlatov – in ein anderes Land auswandern? In die USA vielleicht?


AG: Damals war es für Schriftsteller leichter in ein anderes Land auszuwandern. Denn in der Zeit des Kalten Krieges war man im Westen neugierig auf Künstler und Dissidenten aus der Sowjetunion. Man wollte hören, was sie zu erzählen hatten. Aber ich wüsste nicht, ob ich den Menschen anderer Länder etwas zu sagen hätte, was sie auch interessiert. Es sei denn ich mache einen Film über die Machenschaften der russischen Mafia (lacht). Außerdem brauche ich die russische Kultur, um kreativ sein zu können.


INW: Gilt das auch, wenn Sie kein Geld mehr für Ihre Filme bekommen? Und wie schwer war es eigentlich, diesen Film zu finanzieren?


AG: Es hat mich selbst erstaunt wie leicht es war. Wir haben eine staatliche Förderung bekommen und sogar das Staatsfernsehen hat sich an den Kosten beteiligt. Daher habe ich auch keinen Grund, mich über die Regierung zu beschweren. Niemand wollte vorher das Drehbuch sehen, und auch nach der Fertigstellung des Films gab es keine offizielle Abnahme.


INW: Für die internationale Presse waren Sie ein Favorit für den Goldenen oder Silbernen Bären. Hätte es Ihnen für die Finanzierung künftiger Filme geholfen, wenn Sie einen Preis gewonnen hätten?


AG: Wer weiß, was sein wird, nachdem der Film überall in Russland gezeigt wurde. Vielleicht findet man mich dann an einem Baum hängend. Mit einem Bären in der Tasche wäre ich nur noch schwerer, als ich jetzt schon bin (lacht).   

 

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