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Ende des alten Nahen Ostens

Auf den Bildern waren nur simple Erdarbeiten zu sehen – doch eigentlich zeigten sie ein historisches und politisches Erdbeben. Die Islamisten wollen in ganz Nahost neue Grenzen ziehen. Ihre Beweggründe sind dabei nicht mal ganz von der Hand zu weisen.

Bärtige Männer jubeln mit ihren Maschinenpistolen einem gelben Bulldozer zu, während der einen mannshohen Erdwall abträgt. Neben ihnen flattern die schwarzen Flaggen von ISIS – dem „Islamischen Staat im Irak und Syrien“ – im heißen Wüstenwind. Kurz darauf fahren die ersten Lastwagen durch die Bresche. Die Grenze zwischen Irak und Syrien ist nicht mehr, behaupteten zumindest die Sprecher von ISIS, die die Bilder veröffentlichten, deren Authentizität nicht unabhängig bestätigt werden kann: „Wir durchbrechen die Grenzen von Sykes-Picot“, betitelten die Extremisten ihre Siegesfotos auf Twitter, mit sichtlicher Genugtuung. Denn wohl kaum ein Namenspaar ist in Nahost mehr verachtet als das des britischen Kolonialbeamten Sir Mark Sykes und seines französischen Kollegen Francois Georges-Picot. Sie schufen 1916 während des Ersten Weltkriegs insgeheim die politische Landkarte des heutigen Nahen Ostens. Die Bresche im Grenzwall ist nichts anderes als ein weiterer arabischer Versuch, die bestehende Weltordnung im Nahen Osten aufzulösen, um die Hinterlassenschaften westlicher Kolonialisierung endlich vergessen zu machen.

Neue Staaten zu erfinden war nach dem Ersten Weltkrieg nichts Ungewöhnliches. Eigentlich wollte der damalige Kolonialminister Winston Churchill die neuen Eroberungen Großbritanniens direkt verwalten, doch er musste sparen. Also sah er sich gezwungen, Lakaien in quasi unabhängigen Staaten einzusetzen, um sie indirekt zu beherrschen: „Ich habe Transjordanien an einem Sonntagnachmittag in Kairo mit einem Federstrich erschaffen“, vermerkte Churchill in seinem Tagebuch. Anders verlief es genau so: Die Franzosen erfanden den Libanon und Syrien, die Italiener Libyen, und eine britische Beamtin namens Gertrud Bell skizzierte über einem Atlas auf einem Pauspapier ein neues Gebilde quer durch ein Gebiet, dass bis dahin nur unter dem Namen „Mesopotamien“ bekannt war. Sie taufte es „Irak“, Sykes erfand dazu gleich die Nationalflagge, die später von vielen Ex-Kolonien kopiert wurde.

Beamte wie Sykes und Bell hatten dabei nicht unbedingt die Interessen der Bewohner der Region im Sinn. Es ging ihnen eher darum, den Einfluss der Kolonialmächte zu bewahren. Und so zwängten sie Kurden, Schiiten und Sunniten in denselben, erfundenen Staat, obschon sie sich völlig darüber im Klaren waren, dass diese verschiedenen Volksgruppen nicht miteinander leben wollten. Den Kurden enthielten sie die Unabhängigkeit vor, um sich den Zugang zu den Ölfeldern im Norden zu sichern. Den Schiiten traute Gertrud Bell nicht über den Weg: „In Wahrheit werde ich langsam selber Sunnitin“, schrieb Bell ihrem Vater in einem Brief: „Bei denen weiß was man, woran man ist, sie werden von Vernunft geleitet. Bei den Schiiten hingegen, so gutgewillt sie sein mögen, kann ein dummer, fanatischer Gelehrter vorschreiben, was sie denken sollen“, schrieb Bell. Und so zwang sie die schiitische Bevölkerungsmehrheit, fortan unter dem Joch der Sunniten zu leben, unter der Herrschaft eines von Großbritannien eingesetzten, ausländischen Königs.

Wenn nun Syrien und der Irak explodieren, und der Libanon und Jordanien ins Wanken kommen, dann hat das maßgeblich damit zu tun, dass die Grenzen, die vor 90 Jahren gezogen wurden, genau eine solche Instabilität beabsichtigten: Die Regierungen der neuen Staatsgebilde sollten auf die Unterstützung der Kolonialmächte angewiesen bleiben. Sobald die Hilfe von außen und die eiserne Hand von innen ausblieben, sollten diese Staaten zerfallen.

Was sie nun tun. Doch noch ist es zu früh, ISIS zum Sieger im irakischen Bürgerkrieg zu erklären. Denn je erfolgreicher die Organisation sein wird, desto mehr werden sich besorgte Nachbarn einmischen, um zu verhindern, dass dieser radikalen Ableger von Al Qaeda das ganze Land in seine Gewalt bringt. Sie wissen, dass es um weit mehr geht als nur darum, den niedrigen Erdwall zwischen Irak und Syrien zu beseitigen: Die Islamisten betrachten alle Staaten in Nahost als künstliche Gebilde, die der Westen schuf, um die Araber zu unterdrücken – nicht ganz zu Unrecht. Doch ein Sieg von ISIS bedeutet gerade deshalb Probleme für alle bereits existierenden Regierungen. Als Rückzugsgebiet für syrische Rebellen könnten sie die Lage in Syrien weiter destabilisieren und iranische Interessen gefährden. Die Kurden könnten auf Druck der Islamisten mit der Verkündung ihrer Unabhängigkeit reagieren, und so die Türkei auf den Plan rufen. Ein Massaker an Schiiten oder Sunniten würde Saudi Arabien oder den Iran zwingen, sich einzumischen. Flüchtlingsströme würden Jordanien weiter destabilisieren. Jihadisten könnten versuchen, Lehren aus dem Irak auch im Libanon, Ägypten, Saudi Arabien und andernorts anzuwenden. Und zu guter Letzt bedroht andauernder Krieg hier den Ölpreis, also auch die Weltwirtschaft, und könnte die USA zwingen, einzugreifen. Das Ende der alten Ordnung droht so der Beginn einer neuen Unordnung zu werden.

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