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„Koschere” Wikipedia

Die Fülle von Informationen im Internet bedroht das Weltbild von Israels Ultra-Orthodoxen. Die bauen deshalb eine koschere Wikipedia, die ihnen streng zensiertes Wissen präsentiert, das ihren Glauben nicht infrage stellt.

An den Wänden in Jakobs Wohnung, in einer Stadt westlich von Jerusalem, sieht man nichts als Bücher. Zig Bände des Talmuds, die mündliche Auslegung der Bibel, in Kunstleder gebunden und mit goldenen Lettern verziert, stehen auf den Regalen, die vom Boden bis zur Decke alle Wände bedecken. Neben ihnen, und auf allen Tischen, Stühlen oder auf Kartons gestapelt finden sich weitere Traktate über jüdisches Brauchtum.
Und dennoch: Der knapp 30 Jahre alte, ultra-orthodoxe Familienvater stellt niemals seine gesamte Bibliothek zur Schau. Konspirativ beugt Jakob sich in seinem Stuhl nach vorn bis seine braunen Schläfenlocken fast die Knie berühren. Dann flüstert er bedeutsam: „Ich habe einen Geheimschrank.“ Darin bewahrt er seine wahren Schätze auf – Bücher die er eigentlich gar nicht besitzen darf, von Schriftstellern wie J. W. Goethe oder dem israelischen Literaturnobelpreisträger Schai Agnon, bis zu seinen Lieblingsautoren Haim Brenner und Klaus Mann. Diese häretischen Werke führten zu so mancher Krise in Jakobs Ehe mit seiner tiefgläubigen Frau. Deswegen weiß selbst sie nicht von seinem „noch viel schlimmeren Geheimnis“: ungefilterter Zugang zum Internet – und somit über Zugriff auf Informationen, die seinen Glauben an die Grundfesten der jüdischen Ultra-Orthodoxie zerstörten.
Aus Sicht der Ultra-Orthodoxen ist ­Jakobs Schicksal eine Tragödie, die auf jeden Fall um jedes weitere, diesbezügliche Schicksal verhindert werden muss. Zu diesem Zweck wurde eine neue Initiative gegründet. Die Organisation Hamichlol stellt eine „koschere“, zensierte Fassung der hebräischen Wikipedia online. Die soll das Wissen für die Haredim bringen und Zweifel ersparen, damit niemand, wie ­Jakob, vom Glauben abfalle.
Dank einer Geburtenrate von 6,9 Kindern pro Familie wächst die Zahl der Ultra-Orthodoxen in Israel schneller als jeder andere Bevölkerungssektor. Jeder achte Israeli ist heute ein Haredi (ein Gottesfürchtiger), wie die Ultra-Orthodoxen sich selber nennen. Laut Hochrechnungen werden sie im Jahr 2065 ein Drittel der Bevölkerung ausmachen.
Diese Entwicklung stellt Israel vor eine gewaltige wirtschaftliche Herausforderung: Die Hälfte der ultra-orthodoxen Männer arbeitet nicht, sondern lebt von Sozialhilfe, weil sie sich ausschließlich dem Studium heiliger Texte widmen wollen. Inzwischen lebt mehr als eine Million Haredim im Land. Israel kann sich deren Lebenswandel aber nicht mehr leisten. Sozialleistungen wurden gekürzt, was viele zwingt, ihre abgeschottete Parallelwelt zu verlassen, um arbeiten zu gehen. So kommen Haredim, wie einst Jakob, mit Ideen und Fakten in Berührung, die ihr Weltbild infrage stellen, vor allem übers Internet, das Haredim am Arbeitsplatz und zunehmend auch daheim mit all seinen Versuchungen und Informationen zur Verfügung steht.
Hamichlol führt seinen Kampf gegen zu viel Wissen von einem Bürogebäude aus, direkt neben der zentralen Busstation von Jerusalem. So groß das Vorhaben der Organisation ist, die rund 225.000 Einträge der hebräischen Wiki zu bearbeiten, so klein ist ihr Hauptquartier.
Josef Kaminer, der Direktor von ­Hamichlol, ist ein schmächtiger, 31 Jahre alter Familienvater. Doch die Glaskabine, die er in einem ultra-orthodoxen High-Tech Hub angemietet hat, ist so klein, dass er dennoch kaum um den Schreibtisch kommt, um sich in seinen Bürostuhl zu zwängen. Haredim, die den ärmsten Sektor der israelischen Bevölkerung bilden, sind genügsam. Aufs Internet wollen sie aber nicht mehr verzichten – trotz der Gefahr.
Laut einer Studie von 2017 surfen 49 Prozent der Haredim allerdings mit Filter, die die meisten Seiten sperren: „Die Rabbiner haben eine weiße Liste erstellt. Webseiten von Banken, Krankenversicherungen, Behörden sind frei zugänglich“, erklärt Kaminer. Alles andere sei Tabu, auch Wikipedia, wegen der „vielen Einträge, die unseren Grundprinzipien widersprechen“, so Kaminer. Sowie die Bibelkritik: „Das ist Häresie, Gott hat die Bibel geschrieben.“ Oder die Paläontologie und Kosmologie, die die Auffassung, die Schöpfung habe laut Bibel vor 5778 Jahren stattgefunden, Lügen strafen. So sei Quantentheorie koscher, der Urknall aber nicht.
Dieser Tunnelblick hat verheerende Folgen: „Haredim kommen im Alltag nicht zurecht, weil sie nirgends an Informationen kommen“, sagt Jakob. Im Gegensatz zu den Mädchen, von denen die Hälfte Abitur macht, haben nur 13 Prozent der Männer einen Schulabschluss.
„Bis zum sechsten Schuljahr lernte ich ein bisschen Englisch, also nur die Buchstaben“, erzählt Jakob. In Mathematik habe der Lehrer nach Brüchen und Dreisatz aufgehört. „Von Quadratzahlen habe ich keine Ahnung. Wir lernten ein wenig Geographie, damit wir uns in Israel auskennen. Ab dem 13. Lebensjahr lernte ich nur die Heiligen Schriften.“ Biologie, Physik, Chemie, Geschichte? „Nie gelernt.“ Haredim befänden sich „nur physisch im Israel des 21. Jahrhunderts.“ Geistig indes stecke diese Gesellschaft „im Osteuropa des 16. Jahrhunderts fest.“ Das Internet aber „durchdringt die hohe Wand, hinter der wir uns so lang versteckten.“
„Als ich begann, Wikipedia, zu lesen, verstand ich plötzlich, was für ein unbedeutendes Leben wir führen“, sagt Jakob. Die großen Opfer, die er für seinen Glauben erbrachte, erschienen ihm widersinnig. Pornographie weckte Bedürfnisse, die ein Leben lang unterdrückt worden waren. Nur zwei Mal im Monat darf Jakob sich zu seiner Ehefrau legen, und selbst dann darf er sie nicht mit Vornamen ansprechen – zärtliche Berührungen sind verboten.
Von Lust und Frust getrieben erwog er, die schwarze Kutane abzulegen, den Bart zu rasieren und säkular zu werden. Doch mit 23 war er längst verheiratet, Vater von Kindern: „Ich kann diese Welt nicht mehr verlassen.“ Ein ultra-orthodoxer Psychiater verschrieb ihm Anti-Depressiva, ein säkularer Psychologe half, seine Krise zu überwinden.
Josef Kaminers Initiative ist für ihn ein Lichtblick. Vor wenigen Monaten wurde er einer der zig Freiwilligen, die fleißig die säkulare Wikipedia für andere Haredim umschreiben. „Die Redakteure suchen sich selber einen Eintrag in Wikipedia aus, um ihn bei uns einzuordnen“, erklärt Kaminer. „Um unseren Nutzern den koscheren Charakter unserer Webseite deutlich zu machen, haben wir uns aber anfangs auf heilige Begriffe konzentriert.“
Rund 70 Prozent der Artikel werden nur kopiert. Ein Eintrag aber, der eines der zahlreichen Ausschlusskriterien verletzt, kommt in „Quarantäne“ indem der Redakteur eine von vielen Boxen anklickt, die mögliche Problematiken beschreiben. Es gibt Kästchen für „Datierung vor der Schöpfung“, für „Gewalt“, für „unjüdische Formulierung“ oder „philosophische Debatte“, und natürlich für „unkeusch“. Dann wird der Eintrag für andere unsichtbar. Langfristig wolle er Informationen nicht zensieren, sondern „anpassen“, gelobt Kaminer. Er träumt von dem Tag, an dem es ein koscheres Pendant zu jedem Eintrag in Wikipedia gibt, aber erst „nachdem wir uns mit den Rabbinern einigen, wie man heikle Einträge richtig umschreibt.“
Bis dahin werden ganze Themenkomplexe ausradiert: Bibelkritik, Evolution, Philosophie, den Begriff „säkular“ und Biographien schwuler Berühmtheiten sucht man im „koscheren“ Wikipedia vergebens. Ebenso Bilder von Frauen, selbst von Ministerinnen in Israels Kabinett. Dennoch gibt es bei Hamichlol, ein Jahr nach Gründung, bereits rund 57.000 Einträge. „Wir wollen modernes Wissen, ohne unseren Glauben zu gefährden“, sagt Kaminer. Damit will er vor allem Hardliner in seinem Lager beschwichtigen. Die argwöhnen, die Akzeptanz selbst kleinster Änderungen bereite der Assimilation den Weg.
„Nach dem Holocaust sind wir traumatisiert“, sagt Jakob. Er hält Anpassung inzwischen für gut und wichtig: „Unsere Gesellschaft braucht Wissen, um in der Moderne Erfolg zu haben. Ein bisschen Aufklärung wird uns nicht schaden.“
Eine neue israelische Studie belegt, dass scheinbar immer mehr Haredim so denken. Rund 15 Prozent der Religiösen verlassen ihre Welt und schicken ihre Kinder auf säkulare Schulen, um ihnen eine bessere Zukunft zu sichern. Am meisten motiviert Jakob indes die Sorge um seine Familie: „Ich schreibe die Wikipedia um, um meinen Kinder die Krise zu ersparen, die ich durchlebte.“

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