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Meister der Sprache

Ein Nachruf auf Philip Roth

Das Literatur-Nobelpreiskomitee hat sich vor Kurzem selbst entleibt. Zu den festgestellten finanziellen Unregelmäßigkeiten kam im November 2017 ein weiterer Skandal dazu, der die altehrwürdige Schwedische Akademie in die #MeToo-Debatte hineinschleuderte und sie nun rundum unwürdig dastehen lässt. Ein einheimischer  Verleger, Svante Weyler, soll laut dem Wochenmagazin Der Spiegel vom 14. April 2018 einen Weg aus der Krise gewiesen haben: Wenn die verbliebenen Komitee-Mitglieder „den Preis an Philip Roth vergeben, dann ist all das hier rasch wieder vergessen.“
Inzwischen ist bekannt, dass der Literatur-Nobelpreis 2018 nicht (und in der bisherigen Form vielleicht nie wieder) verliehen wird. Und Philip Roth, der Jahr um Jahr übergangen wurde, zählt ab sofort zu den erlauchten, ungekrönten Häuptern, denen diese Auszeichnung versagt blieb – wie z.B. auch Franz Kafka und Marcel Proust. Denn er schloss am 22. Mai in New York, im Alter von 85 Jahren, seine Augen für immer.
Dabei wäre der Amerikaner in jeder Hinsicht ein würdiger Preisträger gewesen. Denn Philip Roth hat nicht nur jüdische Befindlichkeit, amerikanische Zustände und seine persönlichen Krisen auf eine Weise beschrieben, die sie für eine Leserschaft weltweit als universell begreifbar machten, sondern auch auf meist höchst unterhaltsame Art. Er schrieb über menschliche Sexualität, insbesondere die männliche, mit einer Offenheit, ja Unverfrorenheit, wie sich das die sich puritanisch gebärdenden Vereinigten Staaten – vor und nach der sexuellen Revolution Ende der 1960er Jahre – nie eingestehen wollten. Was für eine Nobelpreisrede hätte er den angeblich so freigeistigen Schweden um die Ohren schlagen können, wenn er die Ehrung noch erlebt und sein sich im Herbst selbst auferlegtes Schreibverbot noch einmal ausgesetzt hätte! An Auszeichnungen hat es in Roths langem Leben nicht gefehlt. 2011 erhielt er den Man Booker International Preis für sein literarisches Gesamtwerk in englischer Orignalsprache. Doch am Anfang stand nicht gleich sichtbar das Wort, das er später so meisterhaft zu führen wusste.
Geboren wurde Philip Milton Roth am 19. März 1933 in Newark/New Jersey als zweiter Sohn von Hermann Roth und seiner Frau Bess. Deren Eltern waren ursprünglich aus der Nähe von Kiew bzw. aus Galizien in das gelobte Land – Amerika – eingewandert. Der Vater von Philip Roth brachte es vom Vertreter immerhin zum Bezirksdirektor einer Versicherung. Die behütete Kindheit in einem assimiliert-jüdischen Milieu wie auch seine Erfahrungen an der heimischen Weequahic Highschool (1946-1950), an der Rutgers University (1951) und ab 1952 an der Bucknell University in Lewisburg flossen in der einen wie anderen Weise in Roths Schreiben ein.
Philip Roth studierte nicht Jura, wie eigentlich vorgesehen war, sondern nun Philosophie und Englische Literatur und gründete die Literaturzeitschrift Et cetera, in der er seine eigenen Arbeiten unterbrachte.1955 beendete er an der University of Chicago sein Studium mit einem Master of Arts. In diesen Lehr- und Wanderjahren muss die Lektüre von Saul Bellows Werk so etwas wie eine Offenbarung geworden sein. Roth gab Schreibkurse und veröffentlichte Kurzgeschichten in so renommierten Literaturzeitschriften wie Commentary und The New Yorker.
Authentizität, Glaubwürdigkeit, das Wiedererkennen von Unzulänglichkeiten bei sich selbst, nicht nur im Gegenüber, den Figuren, die der Schriftsteller zum Leben erweckte, wurde der Schlüssel seines Erfolgs. Roth kannte seine Milieus, angefangen von der Schlafstadtenge Newarks über die Dynamiken am Campus zwischen Dozenten und Studenten und vor allem Studentinnen bis zur Einsamkeit des Autors vor dem leeren Blatt. Der Kurzroman Goodbye, Columbus, Titelerzählung von Roths erstem Buch, wurde 1960 mit dem National Book Award ausgezeichnet. Den Grundstein seines Weltruhms legte er dann 1969 mit Portnoys Complaint (Portnoys Beschwerden). Während die einen den Monolog eines bekennenden masturbierenden jungen jüdischen Mannes als hellsichtige Analyse der Beziehung von Sexualität und Schuldkomplex begriffen, warfen andere dem Autor vor, dem Antisemitismus Vorschub zu leisten. Später sollten Roth noch allerlei andere „-ismen“ um die Ohren fliegen wie Antiamerikanismus und Frauenfeindlichkeit.
Reisen, politische Entwicklungen und Begegnungen flossen – wenn wundert’s – beständig in sein Werk. 1963 war Philip Roth zum ersten Mal in Israel, 1972 auf den Spuren Franz Kafkas zum ersten Mal in Prag, ab 1975 seiner Lebensgefährtin, der Schauspielerin Claire Bloom, zuliebe sogar im Winter in London.
Die McCarthy-Ära einerseits wie später das Amerika unter Richard Nixon andererseits, aber auch das Los tschechischer Literaten, wie jenes von Ivan Klima oder Milan Kundera, beeindruckten Roth. Die nötige Distanz schuf er sich im Kontext einer Trilogie (1979/ 1981/1983) mit der Schöpfung eines Alter Egos namens Nathan Zuckerman, der 2007 in Exist Ghost zum letzten Mal auferstand.
Philip Roths Mutter starb 1981. Dem Vater, der 1989 starb, setzte er mit dem Buch Mein Leben als Sohn. Eine wahre Geschichte ein literarisches Denkmal, das für mich zum bewegendsten, heitersten, traurigsten und klügsten zählt, was ich je gelesen habe. „Er war nicht irgendein Vater, mit allem, was es an einem Vater zu hassen gibt und allem, was es an einem Vater zu lieben gibt“, schreibt Philip Roth über seinen Vater Herman, dem er in dessen Sturheit und Jähzorn offensichtlich sehr ähnlich gewesen sein muss. Seine depressiven Schübe, die Rückkehr nach New York, das Scheitern seiner zweiten Ehe, nichts konnte seinen literarischen Erfolg bremsen. Jede Erfahrung, und sei sie noch so traumatisch, mündete in ein weiteres Werk, das Momentaufnahmen amerikanischer und/oder amerikanisch-jüdischer Geschichte festhält: Operation Shylock (1993), Sabbath’s Theater (1995 mit dem National Book Award ausgezeichnet), Amerikanisches Idyll (1998 mit dem Pulitzer-Preis gewürdigt), Der menschliche Makel (2000) und Verschwörung gegen Amerika (2004), um nur einige von über dreißig Werken zu nennen.
2010 erschien der Roman Nemesis, ein Jahr nach dem Tod seines sechs Jahre älteren Bruders, in dem die, seiner Erfahrung nun gemäßen, Themen wie Alter und Vergänglichkeit, noch einmal in Worte gefasst werden. Zwei Jahre später verkündete Philip Roth öffentlich, nichts mehr in Wort und Schrift verlauten zu lassen. Seine letzte Ruhstätte fand er, den Marcel Reich-Ranicki als „einen der größten Schriftsteller seiner Zeit“ bezeichnete, am Friedhof des Bard College in New York, wo auch Hannah Arendt begraben ist.

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