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Süchtig nach Liebe

Über die Lebensgeschichten von Dorothea Sternheim und Marlene Dietrich

Ihr Tod vor einem Vierteljahrhundert mag für den Verlag C. H. Beck der äußere Anlass für eine Marlene Dietrich-Biographie gewesen sein. Tatsächlich war es aber längst überfällig, sich mit dem einzigen wahren Weltstar aus Deutschland, Marlene Dietrich, intensiv auseinanderzusetzen. Bücher gab es zwar schon etliche, in denen ihre Filme, ihre Roben, ihre Wohnadressen und Reiseziele und persönliche Abrechnungen wie die ihrer einzigen Tochter im Zentrum standen. Doch für eine umfassende Betrachtung brauchte es schon die Qualitäten einer außergewöhnlich vielseitigen Rechercheurin und Autorin wie Eva Gesine Baur. 

Die promovierte Kunsthistorikerin, die außerdem Gesang in Salzburg und die Regeln der Kochkunst in Paris studierte, ist auch in Literatur- und Musikwissenschaften und Psychologie bewandert. Ihre kulturgeschichtlich angelegten, durchwegs originellen Forschungsansätze zu Mozart und Freud (lokalgeschichtlich), Verdi und Puccini (kulinarisch), Charlotte Schiller und Emanuel Schikaneder (historisch) führen zu höchst lesenswerten Werken. 

Wenn Baur den Bereich der reinen Fakten verlassen muss, um einer Persönlichkeit gerecht zu werden, tut sie das in Form von Romanbiographien und unter dem Namen Lea Singer, der ihren belletristischen Arbeiten vorbehalten ist. Es lohnt wahrlich Wahnsinns Liebe über den Maler Richard Gerstl, ihr Konzert für die linke Hand über den einarmigen Pianisten Paul Wittgenstein, Die Anatomie der Wolken über die Begegnung von Johann Wolfgang von Goethe und Caspar David Friedrich zu lesen.

2017 brachte Baur/Singer das Kunststück fertig gleich zwei Frauenporträts zu veröffentlichen. Die Poesie der Hörigkeit von Lea Singer behandelt das Leben von Mopsa Sternheim, die eigentlich ­Dorothea hieß und die Tochter des höchst erfolgreichen Bühnenautors Carl Sternheim war. Und Einsame Klasse von Eva Gesine Baur behandelt Das Leben der Marlene Dietrich. Beide Frauenschicksale sind geprägt von ihrer Herkunft, ihren Begabungen, ihren Visionen. Von was denn sonst, könnte man da erwidern. 

Wenn sich aber – wie in diesen beiden Fällen – ihre Charakterstärke in dramatischen Zeiten bewährte, wo scheinbar gestandene Persönlichkeiten sich blenden, korrumpieren, einschüchtern ließen oder sich gleich als Rassisten und Antisemiten, Menschenfeinde und Verräter erwiesen, dann wird es um so bedeutungsvoller das Wesen von zwei Frauen wie der Sternheim und der Dietrich auszuloten.

Was lässt einen Menschen zu einer freien, in sich ruhenden Persönlichkeit werden? Und was stört solch eine Entwicklung? Wie entfalten sich unter eigentlich ungünstigsten Vorzeichen Eigenschaften wie Empathie, Einsicht und Anstand? Und wie bewährt man sich in finsteren Zeiten, wie es die Jahre der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft in Europa gewesen sind.

Die Lektüre der Lebensgeschichten von Dorothea „Mopsa“ Sternheim (1905-1954) und Marlene Dietrich (1901-1992) lässt einen dies erkunden und begreifen. Fangen wir bei einer magischen, fiktiven Schnittstelle an: Jeder, der den Blauen Engel mit Marlene Dietrich kennt, weiß um die Hörigkeit des Professor Unrat, eines älteren Mannes, der einer jungen Frau verfällt. Im wahren Leben der Dorothea Sternheim lief dies genau andersherum: Die junge Frau verfiel einem älteren Mann. 1917 erlebte die von allen „Mopsa“ Genannte als 12-jährige, wie ein Fremder ihre Mutter Thea in seinen Bann schlägt, „ein Arzt, der Gedichte schreibt“. Sein Name ist Gottfried Benn und er wird sich eines nicht allzu fernen Tages mit den Nazis bestens arrangieren. Genau genommen ist er Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten. Mopsas Vater, der gefeierte Autor Carl Sternheim, muss sich an der Nase seiner Tochter gestört haben. „Du hast eine zu gute Nase, hatte der Vater gesagt, als sie auf seinem Schoß gesessen war und fragte, warum er genauso rieche wie ihre Klavierlehrerin“, heißt es bei Lea Singer. Nur in Romanform wollte sich die Autorin dieser verstörenden Familienkonstellation nähern: ein renommierter jüdischer Bühnenautor, der mit einer reichen nichtjüdischen Erbin eine Familie gründet, ihr aber keinen Tag treu ist. Eine Tochter, die mit großer Beobachtungsgabe ihre gestörten Eltern wahrnimmt, entwickelt ihre eigene Hörigkeit. „Die abnorme Abhängigkeit von einer anderen Person“, ist ein junger Begriff, der erst seit 1886 in der Psychopathologie einen Namen hat, aber im wahren Leben schon immer vorkommt. Mutter Thea, schwärmerisch, voller Sehnsucht nach dem ganz großen Gefühl, schreibt selbst und verfällt dem eigentümlichen Charme von Benn, der an die Magie von Worten glaubt durch die Treffsicherheit seiner Sprache, nicht aber durch Weltläufigkeit. Gottfried Benn gelingt es, sowohl Mutter als auch Tochter für sich einzunehmen, die sich geradezu von ihm besessen fühlt, wie bei einer „Gehirnvergiftung“.  Die junge Sternheim, die im Luxus aufwuchs und im Umfeld ihrer Freunde Klaus und Erika Mann mit Drogen experimentierte, kam als Bühnenbilderin übrigens auch nach Wien, erlebte später den tiefen Fall einer Exilexistenz in Paris. Sie engagierte sich im Widerstand, was ihre Verhaftung und Deportation ins KZ Ravensbrück nach sich zog. Dorothea Sternheim überlebt und nimmt sich, von einer Unterleibserkrankung der Vorkriegszeit unheilbar eingeholt, das Leben. 

Baur/Singer war beeindruckt von dieser „unglaublich intelligenten, analytisch denkenden und betörend schönen Frau“, die ein in jeder Hinsicht extremes Leben geführt hat. Die Autorin resümierte in einem Interview: „Mich faszinierte die Fallhöhe, von ganz oben nach ganz unten“.

Diese Bewertung könnte auch auf Marlene Dietrich passen. In einer sechzehn Kapitel umfassenden Lebensbilanz lässt Eva Gesine Baur das Werden und Vergehen von Marie Magdalene Dietrich Revue passieren. Sie war und blieb eine Außenseiterin (so die Überschrift des ersten Kapitels), wuchs unter der Kuratel einer strengen Mutter auf und imaginierte Versatzstücke eines väterlichen Idealbildes, bestehend aus ihrem leiblichen Vater (der wie Sternheim an Syphilis erkrankte und starb) und dem Stiefvater, einem promovierten Lehrer. Sie sollte sich „einen isolierten Platz geben lassen“, nur ja nicht mit jüdischen Schülern zusammen sitzen. Diese Anweisung ihrer Mutter missachtete Marlene Dietrich später konsequent und pflegte mit Juden lebenslang berufliche wie freundschaftliche Beziehungen: z.B. mit Josef von Sternberg, Ernst Lubitsch oder Billy Wilder, aber auch mit Friedrich Hollaender und Max Colpet, Friedrich Torberg und Teddy Kollek.

Von ihrer Mutter 1920 in ein Töchterwohnheim nach Weimar verfrachtet, legte Marlene ­Dietrich es darauf an, die Witwe von Gustav ­Mahler kennen zu lernen. Alma Mahler-Gropius bemerkte: „Was das Kind für Augen hat!“. Die Dietrich, die später bei Max Reinhardt durchfiel, hielt trotzdem an ihrem Plan unbeirrbar fest, die Bretter, die die Welt bedeuten, zu erobern. Ihre Tage und vor allem Nächte waren von rastlosem Hin und Her geprägt, denn oft trat sie an einem Abend an zwei bis drei Aufführungsorten auf. Kein Weg war ihr zu weit, kein Auftritt zu klein, um ihn anzunehmen. Ihre Disziplin wie ihr Geigenunterricht zahlten sich aus. 

Am 17. Mai 1923 heiratete Marlene Dietrich Rudi Sieber, am 13. Dezember 1924 gebar sie Tochter Maria Elisabeth. Kurz danach war die Ehe zu Ende und beide gingen getrennte Wege. Immerhin erlebten sie ihre „Goldene Hochzeit“, wenn auch auf zwei verschiedenen Kontinenten. 

Im Sommer 1927 wurde die Dietrich von Franz Wenzler, Direktor der Wiener Kammerspiele, für die Revue Broadway, ein Amerikanisches Zeitbild in drei Akten angeworben. Mit Willi Forst lernte sie Wien kennen, entdeckte die Schriften des acht Jahre zuvor verstorbenen Schriftstellers Peter Altenberg, der ihr „den Mut“ vermittelte, für ihre „Überzeugungen einzustehen“. 

„Verglichen mit Berlin“, wohin sie 1928 zurückkehren sollte, „war das Leben in Wien in Zeitlupe verlaufen“, konstatiert Eva Gesine Baur. Minutiös verfolgt die Autorin die Karriere und Krisen, die Begegnungen und Beziehungen, ihren Aufbruch nach Hollywood 1930 und ihre großen Filmerfolge und den ersten Karriereknick, als Hollywood mit ­Hitler-Deutschland einen Pakt des Teufels versucht, um den deutschen Markt nicht zu verlieren. Die Dietrich ließ sich nicht nur nicht von Goebbels zur Rückkehr nach Deutschland verführen, sondern setzte, ganz im Gegenteil, in den 1940er Jahren all ihren Glamour für die US-Truppenbetreuung und damit die Motivierung der amerikanischen Soldaten im Kampf gegen die NS-Diktatur ein. Das trug ihr noch 1960, bei ihrer ersten Deutschlandtournee und zweiten Karriere als Chansonsängerin, übelste Beschimpfungen ein. Ganz anders erging es ihr 1966 während einer zweiwöchigen Israel-Tournee, hier „wird sie angenommen, egal wie alt sie ist, vom Publikum, von den Menschen auf der Straße. […] Ihrer Haltung, nicht ihrer Schönheit wegen“, so Eva Gesine Baur. 

Die Biographin trug unendlich Vieles zusammen, beschrieb die deutschen Tugenden, welche die Dietrich nie vergessen hatte. Gab es Probleme, dann putzte sie das Haus, brauchte jemand Fürsorge, kochte sie Hausmannskost, kam jemand nicht über die Runden, so half sie finanziell. Das, was sie am meisten suchte, die rückhaltlose Zuneigung ihrer Tochter, blieb ihr versagt. Die unerbittliche Perfektionistin, die vor Auftritten den Boden noch nach herausstehenden Nägeln absuchte, stürzte am 29. September 1975, „als sie angetrunken die Bühne betreten will“. 

Bald danach, im Jahr 1976, starben gleich drei wichtige Weggefährten: Friedrich ­Hollaender, Ehemann Rudi Sieber und Jean Gabin. Die Hinterbliebene fühlte sich als „zweifache Witwe“ und eine Frage quälte sie: „Diese Einsamkeit. Wie viele Jahre kann das noch dauern?“ 

Am 6. Mai 1992 starb Marlene Dietrich verarmt und seit Jahren völlig zurückgezogen in ihrer Pariser Wohnung. Beerdigt wurde sie am 16. Mai in Berlin, neben ihrer Mutter, obwohl „sie in der Nähe eines sehr guten Restaurants bestattet werden wollte, auf einem französischen Provinzfriedhof, von Paris aus gut zu erreichen“. So heißt es in der kenntnisgesättigten, gut geschriebenen berührenden Biographie über eine Frau von einsamer Klasse in jeder Hinsicht des Wortes. 

Lea Singer: Die Poesie der Hörigkeit. Roman, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2017, 221 Seiten , 20,60 Euro.

Eva Gesine Baur: Einsame Klasse. Das Leben der Marlene Dietrich, Verlag C. H. Beck, München 2017, 576 Seiten, 24,95 Euro.

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