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Trügerische Morgenröte

Franziska (Fanny) Itzig (1758-1818), verehelichte Freifrau von Arnstein, und Rahel Levin (1771-1833), verehelichte Varnhagen von Ense, waren zwei Berliner Jüdinnen aus den besten Kreisen, die ungleicher nicht sein konnten.

Fanny, deren Vater nicht nur einer der reichsten Bankiers von Preußen, sondern auch einer der einflussstärksten Männer des Königsreichs war, war eines von 16 Geschwistern. Schon als Kind überragte sie diese ganze Schar, in Aussehen, Bildung und Intelligenz. Die etwa 13 Jahre jüngere Rahel Levin kam aus gutem jüdischem Haus und wuchs als belesene, philosophierende Romantikerin auf. Fanny war eine bekennende, stolze Jüdin. Rahel wegen ihrer Herkunft zutiefst unglücklich. Sie fühlte sich als Jüdin wie eine Paria, ihren Zustand beschrieb sie unter anderem als eine ständige „Verblutung“. Aber die ersten Sonnenstrahlen waren über das Judentum ab dem Beginn der Epoche der Aufklärung und Emanzipation aufgegangen, und besonders die Juden der Oberschicht genossen einen Schimmer von Freiheit und Akzeptanz, die ihr Leben positiv veränderten. In Berlin war der Salon der „schönen Hebräerinnen“, wie die Itzig-Schwestern genannt wurden, ein begehrter Treffpunkt für den Adel, Mitglieder der Königsfamilie und engagierte Intellektuelle. Auch Rahel wuchs im Salonambiente auf. Sie blieb ihr Leben lang in Berlin sesshaft, während Fanny sehr jung mit einer ihrer Schwestern nach Wien zog, weil sie dort zwei reiche Bankiers heirateten: Fanny den Freiherrn Natan von Arnstein, ihre Schwester seinen Compagnon Bernhard Freiherr von Eskeles. Sie brachten viel Berliner Luft mit in den Kreis ihrer angeheirateten Familien und ihrer neu erworbenen Freunde. Bald war Fannys Salon Mittelpunkt der Wiener Gesellschaft und Treffpunkt der wichtigsten Persönlichkeiten des Kaiserreichs. Zur Zeit des Wiener Kongresses uferte er zum Mittelpunkt von ganz Europa aus. 1814, als der Wiener Kongress schon begonnen hatte und Wien sich anschickte, die „Hauptstadt der Welt“ zu werden, stellte Fanny in ihrem Palais das erste Mal einen Weihnachtsbaum auf, in Erinnerung an eine Tradition ihrer Berliner Heimat. Es passte – denn die Welt schien dabei, ein ganz neues Kapitel aufzuschlagen, in dem sich die Juden total integriert wähnten. Da kehrte plötzlich Napoleon aus seiner Verbannung auf Elba heimlich nach Frankreich zurück, wo er eine Armee aufstellte, um seinen Thron zurückzuerobern.

1815 – unser 200-jähriges Jubiläum des Wiener Kongresses. Am 18. Juni wurde Napoleon endgültig in der Schlacht von Waterloo besiegt und der verdutzte Kongress konnte fröhlich in Wien weitertanzen und Europa neu ordnen. Der Schwiegervater des französischen Imperators, der Österreich laufend besiegt und gedemütigt hatte, Kaiser Franz I., war Gastgeber der höchsten Vertreter von 200 Staaten, die eigentlich nur Statisten waren, denn die Zukunft wurde nunmehr furchtlos von Österreich, Russland, Preußen, Frankreich und England in allen Einzelheiten diktiert und festgelegt. Wien war von etwa 100.000 Gästen überflutet. Hochadel, Politiker, Persönlichkeiten aus allen Bereichen der Kunst und Kultur machten die Donaumetropole zum Mittelpunkt des Weltgeschehens, wo man laufend in Fannys Salon zusammenkam.

Fanny war bereits 57 Jahre alt geworden, und ihre Prominenz ungebrochen. Im Gegenteil. Berühmt war sie nicht nur durch ihren Salon, wo sich schon vor dem Kongress die Asse der Macht und des Geistes freundschaftlich getroffen hatten. Ihr politischer Einsatz, ihre im besten Sinne jüdische Überzeugung, ihr humanitäres Engagement, die Förderung der Künste sowie ihr Streben nach Freiheit und Gerechtigkeit trugen zu ihrer Verehrung und Beliebtheit bei. Sie nutzte ihre hohe Position und alle ihre Mittel für die Besserung der Conditio humana auf allen Ebenen, war Mitbegründerin der Gesellschaft der Musikfreunde – ihre Tochter Henriette war Pianistin und ihr Großneffe: Felix Mendelsohn-Bartholdi. Auch eine ihrer zahlreichen Schwestern, Sara Levi, war eng mit der Welt der klassischen Musik verbunden.

Die Emanzipation und Gleichstellung der Juden hatte in Fannys preußischer Heimat offener und früher begonnen als bei uns, aber dank der Aura von Fanny und ihrer unermüdlichen Tätigkeiten und Meriten konnte man auch in Wien für kurze Zeit jüdischerseits den Hauch der Morgenröte empfinden. Im Leben der Freifrau von Arnstein ist kaum eine Spur von Diskriminierung auszumachen. Ihr Mann Natan stand immer aktiv an ihrer Seite. Er hatte öffentliche Ehrenpositionen in der Wiener jüdischen Gemeinde und die Errichtung unserer ersten und bis heute bedeutendsten Synagoge in der Seitenstettengasse ist größtenteils ihm zu verdanken.

Im Lauf der Jahre wurde die Epoche der Aufklärung für die Juden zur unbewältigten Emanzipation. Der jüdische Kreis, den Fanny um sich sowohl in ihrer Jugend in Berlin als auch später in all den Jahren in Wien mit großer Liebe gepflegt hatte, ging neue, für Fanny inakzeptable Wege. Sie führten in den Abfall vom Judentum und in die Taufe aus Angst vor künftiger Ausgrenzung und Diskriminierung. Die meisten ihrer Jugendfreundinnen und die ihr nahe anverwandten Kinder und Enkel von Moses Mendelsohn in Deutschland, ja selbst ihre Tochter Henriette von Pereira mit ihrem Mann hier in Wien, verließen das von Fanny so heiß geliebte und verehrte Judentum, um sich der Kirche anzuschließen. Für Fanny, die 1818 mit nur 60 Jahren starb, war diese Entwicklung ein tiefer Schmerz, eine blutende Wunde in ihrem sonst so glamourösen und erfolgreichen Leben.

Die eindeutig im „Code Napoléon“ festgelegten Gesetze über die völlige Freiheit und Gleichheit der Juden in der Nation, wie sie in Frankreich galten, die so viel Hoffnung in den Herzen der Juden in ganz Europa hervorgerufen hatten, begannen sich in der Realität der einzelnen Staaten zu verflüchtigen und zu verwässern. Juden, die noch dazu in ihrer Identität geschwächt und unsicher waren wie Rahel Levin, waren von noch stärkerer Angst und Düsternis belastet. Rahel selbst litt seit ihrer Kindheit Höllenqualen, weil sie Jüdin war, obwohl sie eigentlich ein gesichertes Leben hatte. Ihre Familie war angesehen und wohlhabend und sie war in Berlin sehr bekannt, geschätzt und beliebt. In ihrem Salon fand sich die Prominenz Preußens ein. Sie pflegte viele Freundschaften von Genz bis Heine und hatte auch Goethe kennengelernt. Mit Politik befasste sie sich nie, und für die Ausübung von Wohltätigkeit hatte sie nicht genug Mittel. Sie führte intensive Korrespondenzen, denn sie war wie gesagt im Grunde eine philosophierende Romantikerin und ein Symbol der Zeit der Gedankenfreiheit. Nach mehreren Liebesaffären heiratete sie, als sie schon über 40 Jahre alt war, den um 14 Jahren jüngeren Publizisten und angehenden Diplomaten August Varnhagen von Ense und ließ sich taufen. Sie ging mit ihrem Mann auf Reisen und machte sich einen Namen als Schriftstellerin und Denkerin. Endlich hatte sie sich, wie sie glaubte, vom Judentum befreit. Die Last war von ihr abgefallen. Nach längerer Zeit wurde sie aber ganz unerwartet innerlich von der Religion ihres Stammes eingeholt. Man kann nicht sagen, sie kehrte zu ihrem Ursprung zurück, denn sie hatte ja das Judentum gehasst, abgelehnt und im Geiste gemieden. In ihren letzten Jahren erkannte sie reuig ihre Verirrung. Das ging so weit, dass sie mit dem einen Bruder, der ihr noch verblieben war, auf alte jüdische Art in deutscher Sprache, aber mit hebräischen Buchstaben korrespondierte und den Wert und erlesenen Sinn ihrer angestammten Religion zu verstehen, ehren und schätzen begann. Sie fühlte sich befreit, erleichtert und heimgekehrt. War das eine Vorahnung des Verhältnisses der Deutschen zu Rahels Volk, wie es dann in den Gaskammern der Judenvernichtung endete?

Glückliches Schicksal für Fanny, die als ewig treue Jüdin lebte, und für Rahel, die endlich Ruhe und Geborgenheit im Schoße des Juden

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