AUS DEM INHALT DER SONDERNUMMER
entstanden gemeinsam mit den Wiener Vorlesungen
Mag. Daniela Davidovits
Mag. Anton Legerer
Dr. Joanna Nittenberg
Mag. Fanz C. Bauer
Liebe LeserInnen!
Es ist uns diesmal eine besondere Freude Ihnen die vorliegende Sonderausgabe der INW zu präsentieren. Gemeinsam mit den Wiener Vorlesungen und auf Initiative von Senatsrat Univ.-Doz. Dr. Christian Ehalt entstand dieses Heft, das die letzten hundert Jahre der jüdischen Gemeinde in Wien reflektiert. Retrospektive und Perspektive, unter diesem Aspekt forschten zwei junge Wissenschafter, Mag. Anton Legerer (Jg.1966) und Mag. Daniela Davidovits (Jg. 1974), für die INW und das Resultat ist höchst interessant. Im Vergleich zur Größe des Forschungsgebietes sind es natürlich Splitter und skizzenhafte Darstellungen. Es ist unmöglich dieses weite Gebiet in nur einer Ausgabe anders als fragmentarisch zu beleuchten. Dennoch weist diese Bestandsaufnahme auf frappierende Ähnlichkeiten zwischen gestern und heute hin.Bemerkenswert das Soziogramm der Gemeinde in Vergangenheit und Gegenwart. Wenn auch zahlenmäßig die Unterschiede gewaltig sind, so ist es doch erstaunlich, wieviele Parallelen sich erkennen lassen. Insbesondere die Vielfalt von Meinungen und die Austragung der Differenzen zeigen verblüffende Analogien zur heutigen Situation. Die damaligen Kämpfe zwischen Zionisten und "Bundisten" sowie die Auseinandersetzung um die Integration der während des 1. Weltkrieges nach Wien strömenden jüdischen Flüchtlinge, Debatten über Religion oder Assimilation, zeigen ebenfalls vergleichbare Strukturen auf. Themen wie Antisemitismus, Zionismus und Identität standen und stehen noch immer im Vordergrund der Erörterungen. Das Trauma der Shoa ist immer präsent, selbst wenn auch in der jüdischen Bevölkerung Bestrebungen vorhanden sind, diese grauenvolle Vergangenheit ruhen zu lassen. Doch gerade die jüngsten Diskussionen um die Regierungsbildung sowie das Ringen um eine Lösung bei den Restitutionen beweisen, daß dieses Thema niemals der Vergangenheit angehören wird. Zu tiefe Wunden wurden geschlagen und es ist unvorstellbar, nach der Ermordung eines Großteils des europäischen Judentums wieder zur Tagesordnung überzugehen. Bewußt wurde dieses tragische Kapitel der Geschichte in den vorliegenden Untersuchungen ausgelassen. Auswirkungen und Sensibilitäten sind jedoch ohne Frage stärker vorhanden als es manche wahrhaben wollen. Ziel dieser Arbeiten war es, vorwiegend authentische Quellen zu erforschen. Es ging uns vor allem darum, jüdisches Bewußtsein nicht aus der Sicht von außen, sondern aus der "Innenansicht" zu dokumentieren.
Joanna Nittenberg
Ein Streifzug durch das jüdische Wien fängt in der Seitenstettengasse an, der großen Synagoge, dem Stadttempel, wo jüdisches Leben in Wien begann.
Heute ist der Gebäudekomplex mit den Büros der Israelitischen Kultusgemeinde, der Bibliothek des jüdischen Museums, dem Schomer Hazair, wo auch der jüdische Chor probt, dem Gemeindezentrum, der Anlaufstelle und der Claims Conference das beinahe wichtigste Zentrum der Gemeinde, wenngleich das religiöse Leben auch auf die kleinen Bethäuser wie Grünangergasse, Lilienbrunngasse oder Tempelgasse aufgeteilt ist.
Wenn Shoshana Jensen ihre Gruppen durch das jüdische Wien führt, lernt man nicht nur die jüdische Vergangenheit, sondern auch die jüdische Gegenwart kennen. Vor allem in den kleinen Gassen auf der Mazzesinsel blüht Jensen auf. Ihre Begeisterung für das frühere und heutige jüdische Viertel zwischen Hollandstraße und Taborstraße bis zur Großen Schiffgasse macht die Tour um so lebendiger. Die Geschäftsleute begrüßen die Reiseführerin, die mehrere Mal im Monat mit ihren Gruppen durch den zweiten Bezirk wandert, hocherfreut. Etwa Ruth Winkler, die das Judaica-Geschäft von Chabad - Hamifgasch führt und in einem kleinen Kaffeehaus im ersten Stock Wiens einzige koschere Melange anbietet und dazu koscheren Kuchen.
In die Bäckerei "Engländer" herrscht am Freitag Hochbetrieb herrscht und man an den braunen Papiersäcken mit den Vorbestellungen erkennen kann, wer noch sein Barches abholen kommt. Die Bettlerin, die dort traditionell jeden Freitag auf ihrem Sessel auf Spender wartet und daher fast zum Inventar zählt, lobt Jensen überschwenglich als "liebes Mädele".
Wir widerstehen den verlockenden Honigkuchen, Kokosbusserln und Kakaokuchen und machen uns mit nur einem Mohn-Barches auf den Weiterweg. Fromme Juden kaufen "beim Engländer" auch koschere Milch und Joghurt. Die gibt es inzwischen auch in zwei Billa-Filialen im zweiten Bezirk, in der Taborstraße und in der Czerningasse. Das Gerücht sagt, den Hechscher für die Produkte gibt ein Rabbiner, der gute Kontakte zu FPÖ-Mandatar Peter Sichrovsky hat. Es ist also wahrscheinlich überflüssig, ihn über die FPÖ-Unterstützung von Billa-Geschäftsführer Veit-Schalle in Kenntnis zu setzen, die manches Gemeindemitglied von Billa-Einkäufen abhält. Unabhängig davon gibt es jedoch auch Fromme, die keine koscheren Produkte in den beiden Billa-Filialen kaufen, weil jemand glauben könnte, sie würden normale Milch holen, und ihre Frömmigkeit anzweifeln.
Der junge Polizist vor dem kleinen Bethaus in der Lilienbrunngasse kennt Tour-Leiterin Jensen anscheinend noch nicht, denn er fragt uns, ob wir etwas suchen, als wir vor dem kleinen Eingang stehen bleiben. Er schaut nicht nur auf das Bethaus, sondern auch auf einige Wohnhäuser in den Quergasse, in denen hauptsächlich jüdische Familien wohnen. Der wirklich nette Schutzmann hat zwar hier noch nie eine Anpöbelung erlebt, ist aber vorsichtig. Schließlich weiß er, dass jetzt wieder ein Feiertag anfängt: "Das lernt man, wenn man oft hier steht".
25.11.2000: Im Koscher-Markt freut sich Abo Borochov sehr, dass Shoshana Jensen wieder mit einer Gruppe auftaucht. Er ist stolz auf seinen koscheren Greissler-Laden in der Sperlgasse, in der er Eßwaren aller Art aus England und Amerika führt. Interessant: Sein koscheres Mineralwasser bezieht er über die Firma Hausfreund, die b isher eher als Lieferfirma und weniger als Anbieter koscherer Produkte bekannt war. Mit ihren Mosaiken von Arik Brauer und dem typischen Mini-Wachzimmer in Form einer Telefonzelle sticht die Zvi-Perez-Chajes-Schule aus der grauen Häuserfront hervor. Der große Garten ist nicht nur durch eine Mauer, sondern auch durch einen darauf montierten Stacheldraht geschützt. Unmittelbar in der Nähe soll, wenn das Verfahren für die Rückstellung des früheren Sportplatzes irgendwann positiv abgeschlossen ist, das neue Freizeitzentrum der Hakoah entstehen.
Daniela Davidovits
Auskunft über die Spaziergänge durch das jüdische Wien mit Shoshana Jensen im Jüdischen Institut für Erwachsenenbildung
Telefon: 216 19 62; Email
Die Israelitische Kultusgemeinde als eigene Körperschaft zur Vertretung jüdischer Interessen und zur Organisation der Kultusangelegenheiten geht auf eine Anrede durch den jungen Kaiser Franz Joseph I. zurück: In einer Audienz mit jüdischen Honoratioren sprach er diese im April 1849 als Vertreter der "Israelitischen Gemeinde in Wien" an und legitimierte so Bestrebungen zur institutionalisierten Emanzipation der Juden in Wien. Dass diese Audienz genau ein Jahr nach der auch von Juden an prominenter Stelle – allen voran Adolf Fischhof – verfochtenen, niedergeschlagenen Revolution von 1848 und der nachfolgenden Inthronisierung des jungen Franz Josephs zur Sicherung der neoabsolutistischen Herrschaft der Habsburger erfolgt war, und sich dieser Monarch in der Folge als Förderer und Schutzherr der Juden – etwa gegen den demokratisch "legitimierten" Antisemitismus eines Karl Luegers – erweisen sollte, war und ist bezeichnend für die Situation und Stellung der Juden in Wien.
Anlässlich dessen 60. Thronjubiläums huldigte der Kultusvorstand 1908 den Monarchen angesichts des antisemitischen Umfelds überschwänglich: "Der Tag, an dem vor sechzig Jahren Kaiser Franz Josef I. den österreichischen Kaiserthron bestieg, bedeutete für alle Völker dieses weiten Reiches den Beginn einer neuen segensvollen Epoche; für die Juden Österreichs aber ward dieses Ereignis die Quelle, aus der ihnen nach Jahrhunderte währender Entrechtung die Erfüllung ihres sehnsüchtigsten Wunsches, die Anerkennung ihrer Gleichberechtigung entsprang. Und wenn trotz der gesetzlich gewährleisteten Gleichberechtigung den Juden der tägliche Kampf um das ihnen nur allzu oft vorenthaltene Recht nicht erspart bleibt, so tröstet sie in diesem Kampfe das Bewusstsein, dass es eine Stelle gibt, die höchste in diesem Staate, welche, unberührt von beklagenswerten Erscheinungen des öffentlichen Lebens, zu allen Zeiten auch den Juden gegenüber Gerechtigkeit walten lässt." Die jüdische Gemeinde feierte das kaiserliche Jubiläum durch "inbrünstige Gebete in allen jüdischen Gotteshäusern", durch eine Huldigungsadresse sowie, "dem Willen des erhabenen Monarchen entsprechend", durch wohltätige Werke. 1908 wurden die anlässlich der Jubiläen 1888 und 1898 begonnenen Fürsorgeprojekte "Altersversorgungshaus" und "Siechenhaus" erweitert. In der Pazmanitengasse 6 wurde dem Habsburgermonarchen vom Leopoldstädter Tempelvereines der Kaiser Franz Josef Huldigungs-Tempel gewidmet. In ihrer Sitzung vom 19. November 1914 beschloss die Wiener Israelitische Kultusgemeinde unter Präsident Dr. Alfred Stern, sich mit einem Betrag von 500.000 Kronen an der Kriegsanleihe zu beteiligen.
Die eigentliche Gründung der Israelitischen Kultusgemeinde ist 1852 mit der Genehmigung der "provisorischen Statuten" anzusetzen, bedeutete aber noch nicht das Ende Jahrhunderte langer Diskriminierung, die immer wieder in eruptive gewalttätige Ausschreitungen und Pogrome der zeitweilig in Gettos gehaltenen jüdischen Bevölkerung mündete. Gleichberechtigte Staatsbürger im Habsburgischen Vielvölkerreich wurden Juden erst mit der Verfassung von 1867. Die Schulautonomie folgte durch das interkonfessionelle Gesetz vom 25. Mai 1868.
Im Jahr der Statutengenehmigung, 1852, gestattete Kaiser Franz Joseph auch den Bau einer zweiten Synagoge in der Leopoldstadt – die Synagoge in der Seitenstettengasse war bereits 1826 eingeweiht worden. Die Einweihung des von Ludwig Förster entworfenen Leopoldstädter Tempels in der Tempelgasse 3 mit 2200 Sitz- und 1500 Stehplätzen erfolgte 1858. Insgesamt sechs Gemeindesynagogen betrieb die IKG 1932. Neben den bereits erwähnten Tempeln die Synagogen in der Turnergasse 22 in Fünfhaus, in der Hubergasse 8 in Ottakring, in der Währinger Schopenhauerstraße 39 sowie in der Floridsdorfer Holzmeistergasse 12. Daneben gab es die Synagoge des "Verbandes der türkischen Israeliten" (Sephardim) in der Leopoldstädter Zirkusgasse 22 sowie weitere 78 Vereins- und Privatbethäuser. Der Gesamtfassungsraum aller dieser Bethäuser wies 1932 mehr als 28.000 Sitzplätze auf. Zu den hohen Feiertagen veranstaltete der Kultusvorstand temporäre Gottesdienste etwa im Festsaal des Hotel "Post", im Großen Musikvereinssaal, im Großen Sophiensaal, im Vortragssaale der Toynbeehalle und anderen Ausweichlokalen. […]
Der Kultusvorstand der IKG – das politische Entscheidungsgremium – bestand zunächst aus 20, ab 1890 aus 24 und ab 1902 aus 36 Männern – Frauen spielten ihre Rolle vor allem bei den zahlreichen Wohltätigkeitsvereinen, die 1900 die stattliche Zahl von 200 erreichten. Das seit der Gründung oligarchisch strukturierte Führungsgremium der IKG bestand im Wesentlichen bis 1918. Mit Ausnahme des Anwaltes Alfred Stern, der der IKG von 1904 bis 1918 als Präsident vorstand, waren alle IKG-Präsidenten bis zu dieser Zeit erfolgreiche Wirtschaftstreibende in Industrie und Handel. Arrivierte und alterwürdig eingesessene Mitglieder der Gemeinde dominierten deren Politik. Bis zur Reform der Wahlordnung von 1924 war das Wahlrecht den steuerzahlenden männlichen Mitgliedern der IKG vorbehalten, bis 1932 blieb die Steuerleistung Voraussetzung für das aktive Wahlrecht, wobei die vorgeschriebene Mindeststeuerleistung viele IKG-Mitglieder von der Steuerpflicht und dem damit verbundenen Wahlrecht ausschloss. Bis zur Wahl 1912 galt zudem für die Gruppe der Höherbesteuerten eine gesonderte Wahlkurie. Nach der in Geltung gestandenen Wahlordnung waren 8 Mitglieder für eine sechsjährige Mandatsdauer und ein Mitglied für eine zweijährige Mandatsdauer von der Gesamtheit der Wahlberechtigten, ferner 4 Mitglieder für eine sechsjährige und eines für eine vierjährige Mandatsdauer von den höherbesteuerten Gemeindemitgliedern zu wählen. Zionisten sind erstmals bei den Kultuswahlen von 1901 in die Kultusstube eingezogen: Isidor Gewitsch und Herman Ellbogen. Die jüdische Führung Wiens war bis zum Ende der Habsburger-Monarchie bürgerlich-assimiliert, liberal – vor allem aber Österreich-patriotisch. Nicht einmal der 1907 gegründete erste jüdische Parlamentsklub mit den drei Zionisten Adolf Stand (1870;1919), Heinrich Gabel (1873;1910) und Arthur Mahler (1872 – 1918), schaffte es, auf die Wiener Juden einen national-jüdischen Eindruck zu machen. Am 27. Juni 1920 haben die ersten nach den Grundsätzen des Proportionalwahlrechts abgehaltenen Wahlen stattgefunden. Von 19.303 Wahlberechtigten gaben 10.533 gültige Stimmen ab. Mit 20 Mandaten wurden die nichtjüdischnationalen Parteien stärkste, mit 13 Mandaten die zionistische Partei zweitstärkste Fraktion, die "vereinigte glaubenstreue Judenschaft" erhielt 3 Mandate. Das Kräfteverhältnis blieb bis zur Wahl von 1932, als die Zionisten die Macht im Kultusvorstand übernahmen, trotz der regen zionistischen Aktivitäten in Wien, in die selbst der Oberrabbiner Zwi Perez Chajes 1918 bis zu seinem frühen Tod 1927 involviert war, ziemlich gleich. Die politische Führung der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde hat sich dem Zionismus erst mit großer Verspätung zugewandt.
Den ungekürzten Artikel von Mag. Anton Legerer finden Sie in
der Sondernummer der Illustrierten Neuen Welt (10/11 2000)
Die große soziale Mobilität der Wiener jüdischer Herkunft kann als eine wesentliche Eigenschaft festgemacht werden. War doch noch die Generation der Väter zumeist in kaufmännischen Berufen tätig.Im Studienjahr 1885/86 stellten jüdische Wiener ganze 35 Prozent der Hörer an der Wiener Universität.
Die Soziographie der Wiener Juden lässt sich als Funktion dreier Achsen denken, deren Pole von alteingesessen bis neu zugewandert, von westlich bis östlich geprägt und von assimilationsbestrebt bis identitätsbewahrend reichen. Daraus lassen sich nicht nur unschwer die Spannungsfelder innerhalb der Wiener Juden ausmachen, sondern auch die unterschiedlichen Lebensformen und die unterschiedlichen Ausmaße der Akkulturation, der Anpassung an die Wiener Verhältnisse. Für die berufliche Karriere waren zwei Faktoren wesentlich: die Assimilationsbereitschaft, die bis hin zur Akzeptanz des "Taufzwangs" reichte, und der seit der Zuwanderung verstrichene Zeitraum. Schon 1933 hält der Historiker Hans Tietze fest: "Künstler und Literaten waren um den Preis völliger Assimilierung unentbehrliche und mitbestimmende Bestandteile der Wiener Kultur geworden."
Die jüngsten Einwanderer aus Galizien nahmen eine Sonderstellung ein, weil sie zum Teil ihre Sprache Jiddisch beibehielten, die in Wien als Jargon bezeichnet wurde. Ebenso waren es die Einwanderer aus Galizien, die die "Insignien ihrer Herkunft" keineswegs verschämt ablegten sondern ihre Traditionen, ihre Kleidung und Haartracht auch in der Metropole beibehielten. Die bald als solche apostrophierten "Ostjuden" erinnerten solchermaßen westlich-orientierte und assimilierte Wiener Juden an ihre Wurzeln. Zugleich nahmen sie richtungsweisenden Einfluss auf jüdisch-nationale und zionistische Strömungen, und auf die jüdische Arbeiterbewegung.
Die soziologischen Kennzeichen der Wiener Juden fasst ein Zeitgenosse in den 20er Jahren so zusammen, "dass die Juden Wiens alle jene Eigenschaften, in gutem wie in schlechtem Sinne, aufweisen, die wir bei einer jeden großstädtischen Bevölkerung beobachten können, das sind: geringere Zahl der Eheschließungen, verminderte Geburtenziffer, erhöhte Austrittsbewegung, starker Drang nach Bildung, größeres Verlangen nach Befriedigung kultureller und künstlerischer Bedürfnisse usw." Wenig bekannt ist über die strukturellen Wechselwirkung zwischen Ansässigen, Zuwanderern und dem Genius loci, hat doch der Zustrom der Juden nach Wien das Stadtbild so wesentlich berührt, und auch die eigene Struktur des Wiener Judentums verändert.
Die Juden Wiens hatten paradoxerweise gerade wegen ihrer großen Anzahl unzählige Schnittstellen zur nichtjüdischen Umwelt. Diese Kontakte begannen in der Schulzeit, als die Schüler in gemischten Klassen unterrichtet wurden und setzten sich im Berufsleben fort. Selbst Ehen wurden in zunehmenden Maße mit Nichtjuden – 1911 bereits zu fast 15 Prozent – geschlossen. Die Jüdische Gemeinde war "Zentrifugalkräften" unterworfen, die jüdische Identität breit gefächert und vielschichtig entwickeln ließen. Interessanterweise lässt sich die Metapher der Zentrifugalkräfte auch auf den Wohnbezirk anwenden: je weiter entfernt vom vormaligen Ghetto in der Leopoldstadt, desto offensichtlicher und ökonomisch erfolgreicher die Anpassung an das nichtjüdische Umfeld. Im Zentrum der Leopoldstadt dominierte trotz der weiterhin bestehenden christlichen Mehrheit der Bewohner eine Art Stetl-Leben mit Kleinhändlern und Kleingewerbetreibenden. Ärmere und neu zugewanderte waren vor allem in der Leopoldstadt zu finden. In der benachbarten Brigittenau waren die am meisten sozial benachteiligten – zum größten Teil aus Galizien stammenden – Wiener Juden zu finden.
Die über Jahrhunderte auf einzelne für Juden zugelassene Berufssegmente reduzierte Berufsstruktur wirkte trotz der rasanten ökonomischen Veränderung auch noch in der Wiener jüdischen Gemeinde rund um 1900 – wenngleich mit nachlassender Tendenz – nach.
1869 gab es in Wien 33 jüdische Anwälte und 99 Konzipienten, 1889 waren es bereits 394. Im Jahre 1869 praktizierten in Wien 275 jüdische Ärzte – das Medizinstudium war den Juden seit 1782 gestattet. Im Studienjahr 1891/92 waren von 348 Promovierten schon 148 Juden, im Studienjahr 1887/88 gab es an der Wiener medizinischen Fakultät bereits 1546 Juden – das waren ganze 61 Prozent aller Medizinstudenten! In einer in dieser Hinsicht zuverlässigen judenfeindlichen Denkschrift aus dem Jahre 1894 wurde festgestellt, dass an der Wiener medizinischen Fakultät zwei ordentliche, 14 außerordentliche jüdische Professoren und 37 Privatdozenten lehrten. Im höheren Lehramt stieg die Zahl der jüdischen Professoren und Dozenten merklich. Die Taufe war allerdings oftmals stillschweigende Voraussetzung für die akademische Karriere.
Die Berufsverhältnisse zum Zeitpunkt der Volkszählung von 1910 zeigen den überwiegenden Teil der berufstätigen Juden im Sektor Handel und Verkehr (rund 42.000). Danach folgen mit fast gleich hohen Anteilen die Sektoren Industrie und Gewerbe sowie Öffentliche Dienste und freie Berufe mit rund 27.000 bzw. 26.000 selbständig und unselbständig Erwerbstätigen. Praktisch keine jüdischen Erwerbstätigen sind in der Landwirtschaft sowie in der Kategorie "Häusliche Dienste und Lohnarbeit" zu finden. Mehr als 54Prozent der jüdischen Berufstätigen arbeiteten 1934 im Sektor Handel und Verkehr, während Nichtjuden nur zu 26 Prozent in dieser Sparte tätig waren. Umgekehrt lag der Anteil der in Industrie und Gewerbe Beschäftigten unter Juden bei 23, unter Nichtjuden bei 50 Prozent.
Auffällig ist der hohe Anteil an selbständig Erwerbstätigen in den Berufssparten, der jeweils höher liegt als bei den Nichtjuden. Damit unterschieden sich die Juden deutlich von den christlichen Wienern, die im privaten Sektor in ihrer überwiegenden Mehrheit zu den gelernten und ungelernten Arbeitern zu zählen waren. Die Juden im Wien des frühen 20. Jahrhunderts waren eine vorwiegend bürgerliche, kleinbürgerliche und als Privatangestellte beschäftigte Minderheit – innerhalb oder neben der Mittelschicht der Wiener Gesellschaft – in einer vorwiegend handwerklich und zunehmend proletarisch geprägten Stadt.
Den ungekürzten Artikel von Mag. Anton Legerer finden Sie in
der Sondernummer der Illustrierten Neuen Welt (10/11 2000).
Integration ist heute ein vielzitiertes Schlagwort, das oft mit Assimilation in einen Topf geworfen und wenig differenziert behandelt wird. Es soll jedoch nicht um die Integration der Juden in ihre nichtjüdische Umwelt gehen, sondern um die Zuwanderung von Juden nach Wien und die Zusammensetzung der Wiener jüdischen Gemeinde.
Denn die Geschichte der IKG seit 1945 ist ganz eindeutig eine Geschichte der Integration. Im Dezember 1945 zählte die Israelitische Kultusgemeinde nur 3.955 Mitglieder, die sich aus 1727 Konzentrations- bzw. Überlebenden der Vernichtungslager, 252 Remigranten und 927 sogenannten "Restjuden" zusammensetzte. Zu den letztgenannten zählten Juden und Jüdinnen, die in Verstecken überlebt hatten ("U-Boote"), durch "Mischehen" geschützt waren, sogenannte "Mischlinge" und "privilegierte Juden", wobei es sich um Mitarbeiter des Ältestenrates und jüdischer Sozialeinrichtungen handelte. 1947 trafen die ersten Transporte aus Shanghai ein, vor allem älteren Menschen litten im Sommer unter dem feucht-heißen Klima, und auch von den jüngeren Menschen war es nur ganz wenigen gelungen, wirtschaftlich Fuß zu fassen. Einige hundert Remigranten kehrten aus Israel zurück , wo die Euphorie der Staatsgründung bald dem Problem der Arbeitslosigkeit gewichen war. Einige wenige kamen aus Frankreich, Belgien, Holland, Italien, England, Schweden, aus Australien, Südamerika oder den USA in ihre frühere Heimat zurück. Vor allem Kommunisten (viele jüdischer Herkunft) kehrten aus der Sowjetunion zurück, wo viele mit großem Bangen das Verschwinden von Freunden und Bekannten miterlebt hatten.
Die etwa 200.000 Durchwanderer hatten ganz andere Ziele. Während die Juden ihren Weg nach Israel sehr schnell fortsetzen konnten und weiterwanderten, warteten andere auf ihre Einreisegenehmigungen in die USA, nach Kanada sowie auch nach Australien mehrere Monate, die meisten von ihnen in den verschiedenen Lagern für DPs , die "Displaced Persons". Das 1946 gegründete Internationale Komitee für durchreisende jüdische KZler und Flüchtlinge in Österreich sollte die Hilfe für die Flüchtlinge koordinieren, gab es ja zuvor nur ein polnisches und ein ungarisches Flüchtlingskomitee und kein allgemeines. Der junge Anton Winter kam damals aus Polen, um über Wien nach Israel zu fahren. "Ein Freund von mir leitete damals das Rothschildspital und sagte zu mir: Dich schickt der Himmel, wir brauchen so dringend Leute, die uns helfen. Du k