Zwei im März gefällte Urteile Wiener Gerichte haben Aufmerksamkeit erregt. Der Freispruch von Univ.-Prof. Dr. Anton Pelinka wurde auch im Ausland von den Medien registriert. Über die Tatsache, dass die Verlagsgesellschaft der Wiener Wochenzeitung "Zur Zeit" in erster Instanz verurteilt wurde, dem Journalisten Karl Pfeifer eine symbolische Entschädigung von 50.000 ATS zu zahlen, berichteten in Österreich allerdings nur wenige Medien. Die Illustrierte Neue Welt informiert über beide Urteile.
Das Oberlandesgericht (OLG) Wien hat am 21. März 2001 unter dem Vorsitz des Richters Dr. Herbert Körber in der Medienrechtsache des Privatanklägers Dr. Jörg Haider gegen Univ.-Prof. Dr. Anton Pelinka der Berufung stattgegeben und diesen freigesprochen.
Pelinka wurde zur Last gelegt, in einem Interview, das am 1. Mai 1999 ausgestrahlt wurde, dem italienischen Fernsehen RAI gesagt zu haben: "Haider hat in seiner Karriere immer wieder bestimmte Aussagen gemacht, die als Verharmlosung des Nationalsozialismus zu werten sind. Er hat einmal die Vernichtungslager "Straflager" genannt. Insgesamt ist Haider verantwortlich für eine neue Salonfähigkeit bestimmter nationalsozialistischer Positionen und bestimmter nationalsozialistischer Äußerungen." Am 11. Mai 2000 wurde Pelinka vom Landesgericht für Strafsachen zu einer Geldstrafe von 60.000 ATS, im Nichteinbringungsfalle zu einer Ersatzfreiheitsstrafe in der Dauer von 15 Tagen verurteilt und zum Kostenersatz verpflichtet. Dieses Urteil löste im In- und Ausland großes Befremden aus und schlug sich auch im "Weisenbericht" der EU nieder.
Das Berufungsgericht stellt eindeutig fest, dass Kritik zu üben, kein Sakrileg ist. Wer Verhaltensweisen anderer, insbesondere Äußerungen und Handlungen, einer kritischen Beurteilung unterzieht, braucht das Strafrecht nicht zu fürchten… Im weiteren darf fallbezogen nicht vernachlässigt werden, dass ein ständig medienpräsenter Politiker, der gerade nicht durch seine Zurückhaltung gegenüber dem politischen Gegner einen sehr hohen Bekanntheitsgrad erlangt hat, deutlich weiter gezogene Toleranzgrenzen zu akzeptieren hat.
Es bleibt laut OLG dennoch festzuhalten, dass auch mit dieser Wortmeldung gerade jene vom Angeklagten (Anton Pelinka) betonte, ambivalente Einstellung des Privatanklägers (Dr. Jörg Haider) wiederum durchbricht, wenn er sich zunächst einer Diktion bedient, die durch ihren semantisch herunterspielenden Charakter eine Anlehnung an das NS-Gedankengut indiziert, die aber schon mit dem nächsten Halbsatz den ursprünglichen Aussagesinn weitesgehend entschärft und in seiner Bedeutung zurücknimmt. Damit ging das Gericht auf Entschuldigungen "meinetwegen" und auf andere semantische Tricks von Jörg Haider ein.
Abschließend erklärt das Urteil: ist aber solcherart – abstrahiert – dem Privatankläger zum Vorwurf zu machen, mit einer gewissen Nähe zum Nationalsozialismus zu kokettieren und Grauzonen zu betreten, in welchen die Greueltaten dieses Regimes in ihrer tatsächlichen Dimension nicht akzeptiert werden, erweist sich die inkriminierte Bewertung noch nicht als unverhältnismäßig überzogen bzw. bewegt sich innerhalb des Sachbezogenen und bleibt demnach für eine persönliche Diffamierung allein kein Raum.
Ein anderes Urteil, das weniger öffentliche Aufmerksamkeit erlangt betrifft Karl Pfeifer. Anfang 1995, kurz vor seiner Pensionierung als Redakteur der "Gemeinde", schrieb Karl Pfeifer eine kurze Rezension über das "Freiheitliche Jahrbuch 1995", in dem er diesem "Nazi-Töne" und "Nazidiktion" bescheinigte. Der von Pfeifer kritisierte Autor, der damals an der Fachhochschule Münster Politikwissenschaften lehrende Österreicher Dr. Werner Pfeifenberger, glaubte Pfeifer wegen übler Nachrede klagen zu müssen, wurde ihm doch vorgeworfen "die alte Nazi-Mär von der jüdischen Weltverschwörung langatmig" aufzuwärmen. Dr. Pfeifenberger verlor im Mai 1998 seine Berufung gegen den Freispruch Pfeifers auch am Oberlandesgericht Wien, das im Urteil feststellte, Pfeifenbergers Gedankeninhalte können der "NS-Zeit und der von ihr vertretenen Ideologie zugeordnet werden".
Zwei Jahre später, am 2. Juni 2000, hat in der Wiener Wochenzeitung "Zur Zeit" ein "Erwin Steinberger" unter dem Titel "Tödlicher Tugendterror" Pfeifer in den Reihen einer "Jagdgesellschaft" von zehn steckbriefartig abgebildeten Österreichern geortet, die er für den Tod des antisemitischen Verschwörungsforschers Werner Pfeifenberger verantwortlich machte. Denn nach drei Jahren erfolglosen Prozessierens gegen Pfeifer erregte Pfeifenbergers These einer "jüdischen Kriegserklärung" gegen das Dritte Reich sogar die Aufmerksamkeit der österreichischen Staatsanwaltschaft, die ihn – anders als 1995, als keine Klage erhoben wurde – wegen NS-Wiederbetätigung vor ein Wiener Geschworenengericht zitierte. Wenige Wochen vor dem Gerichtstermin beging er aus ungeklärten Motiven Selbstmord. Da Pfeifenberger an der Fachhochschule Münster trotz wütender Proteste der deutschen Studenten 25 Jahre die Würden eines Professors genoss, machten Neonazi, Geschichtsrevisionisten und andere Rechtsextremisten ihn sogleich zu einem Horst Wessel für Alphabeten. Einschlägige Nazi-websites beispielweise übernahmen begierig das Konstrukt einer "Menschenjagd bis in den Tod" und forderten Revanche. Als Karl Pfeifer sich mit juristischen Mitteln gegen die Denunziation von "Zur Zeit" zur Wehr setzte, stellte sich heraus, daß Urheber "Steinberger" nicht dingfest zu machen ist. Wie die Verlagsgesellschaft "Zur Zeit" durch ihren Anwalt mitteilte, bezeichnet dieses Pseudonym eine "christlich-konservative Person des öffentlichen Lebens", die lieber anonym bleiben möchte.
Am 20. März 2001 verurteilte Prof. Bruno Weis die Verlagsgesellschaft "Zur Zeit" in erster Instanz zur Zahlung von 50.000 Schilling "symbolischen" Schadenersatz. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
Unter dem Titel "Triumph der political correctness" veröffentlichte "Zur Zeit" am 6. April wieder einmal einen Angriff gegen den "jüdischen Journalisten Karl Pfeifer". Am 12. April berichtete Otto Friedrich in der katholischen Wochenzeitung "DIE FURCHE" über diesen Artikel und resümierte:
Nach dem Urteil gab es für "Zur Zeit" und den hinter "Erwin Steinberger" versteckten christkonservativen Schreiber dennoch kein Halten: Es war klar, dass die stramme Wochenschrift über den Gerichtsspruch lamentieren würde. Doch "Erwin Steinberger" bezeichnete dann die 50.000 Schilling Strafe, die an Karl Pfeifer zu zahlen sind, als "Silberlinge". Die antisemitische Impertinenz scheint kaum mehr überbietbar: "Zur Zeit" bringt Karl Pfeifer also mit dem Judaslohn der Passionsgeschichte in Verbindung – und beweist so einmal mehr, dass es ebenso alte wie üble Ressentiments pflegt. Unverbesserlich.
Ein bemerkenswertes Urteil schon deshalb, weil Bundeskanzler Dr. Wolfgang Schüssel mit Dr. Jörg Haider eine Präambel unterzeichnet hat, die jede Verharmlosung des Nationalsozialismus ausschließt und nun darf man laut OLG Wien dem Koalitionspartner von Dr. Schüssel den Vorwurf machen, mit einer gewissen Nähe zum Nationalsozialismus zu kokettieren und Grauzonen zu betreten, in welchen die Gräueltaten dieses Regimes in ihrer tatsächlichen Dimension nicht akzeptiert werden.
J.N.
Initiatorin und Gründerin dieses Vereins, der seit Mai 1996 existiert, ist die Wiener Kulturmanagerin Dr. Primavera Gruber. Sie hatte in den achtziger Jahren mit grossem Erfolg das Klangforum Wien aufgebaut. Im Rahmen eines Festivals gab es 1992 eine kleinere Veranstaltung zum Thema Entartete Musik, für die sie Noten und Aufführungsmaterial suchte. Es war zunächst, wie sie sich erinnerte, "hier in Österreich kaum etwas an Informationen zu Notenmaterial vorhanden, es gab niemanden, der uns da helfen konnte. Da die Künstler, die beim Klangforum auftraten, aus verschiedenen Ländern kamen, konnte so intensiver recherchiert werden; vor allem wurde man zunächst in der Schweiz fündig". Als sich Primavera Gruber entschlossen hat, sich selbständig zu machen, war sie unter anderem als künstlerische Beraterin für das israelische Klaviertrio Amber-Trio Jerusalem, dessen Musiker beim Alban Berg Quartett studierten, auf der Suche nach Exil-Musik. Seit dieser Zeit ist das Suchen und Aufspüren diesbezüglicher Kunst kontinuierlich erfolgt. Denn, wie Primavera Gruber erklärt, "das Gebiet war wie in weißer Fleck. Die Leute, die ich durchs Herumfragen hier in Wien wie auch außerhalb ausfindig machen konnte, wussten oftmals nichts voneinander."
Nicht nur die Tatsache, dass das doch recht gut in der Öffentlichkeit bekannte und sehr gut ausgestattete Jüdische Museum in Hinblick auf Musiksammlungen oder Musiknachlässe keine weiterführende Hilfe oder Information liefern konnte, war zunächst bedauerlich. Wie Primavera Gruber meint, dürfte diese unbefriedigende Situation mehrere Gründe gehabt haben: "Das Jüdische Museum stützt sich vordringlich auf jüdische Literatur und Kunstgegenstände. Musik braucht immer doch eine Aufführung, es braucht Noten und vor allem den Interpreten. Der Interpret spielt aber nur dann, wenn er erstens von dieser Musik weiß und zweitens einen Veranstalter hat, der das finanzielle Risiko übernimmt".
Die Gründung des Vereins war ein unbequemer Versuch, sich der Verantwortung des "Musiklandes Österreich" zu stellen und eine schmerzliche Lücke zu schließen. Trotz verweigerter öffentlicher Förderung konnte seit der Gründung bis heute eine kontinuierliche Arbeit geleistet werden. Nach und nach gelang es beispielsweise, ein dichtes Netz an Kontakten mit Wissenschaftlern, Veranstaltern, Künstlern und Interessenten zu knüpfen. Zunächst machte sich die Gründerin in Eigeninitiative und ohne finanzielle Förderung im Rücken daran, Zeitzeugen zu befragen und diese Oral-history-Interviews mit Vertriebenen und Angehörigen schriftlich zu transkribieren und aufzubereiten. Bis heute liegen rund 100 dieser Interviews vor, auf DAT, dass man sie auch im Rundfunk bringen könnte. Nach und nach wuchs bei einigen Wiener Politikern endlich ein Bewusstsein für exilierte Musiker, so brachte die Stadt Wien Mittel für das Ernst-Krenek-Institut auf und errichtete das Arnold Schönberg Center. Von Anfang an war das Bestreben vorhanden, mit anderen Institutionen zu kooperieren, und so wurden bisher die meisten Veranstaltungen auch als Koproduktionen durchgeführt.
Die Aufgabengebiete des Vereins Orpheus Trust, der heute 250 Mitglieder umfasst, sind auf drei Ebenen angesiedelt. An erster Stelle widmet man sich der Erforschung und Dokumentation von Leben und Werk der aus Österreich vertriebenen oder im KZ getöteten Musikschaffenden, konkret Komponisten, Interpreten, Musikwissenschaftlern und Musikpublizisten. Hier ist der Aufbau einer Datenbank zu nennen, die permanent vervollständigt wird und derzeit biografische und künstlerische Daten zu 3280 Persönlichkeiten umfasst. Primavera Gruber schätzt, dass sich die Zahl bis zu 5000-6000 steigern könnte. (Es betrifft jene Künstler, die, wenn das Geburtsdatum vor 1918 liegt, auf dem Gebiet der ehemaligen Donaumonarchie geboren sein müssen, und nach 1918 in der Republik Österreich.) Über die Datenbank hinaus gibt es eine Werkdatenbank mit ca. 5500 Werken dieser Komponisten. Die Leiterin hat eigens eine Maske entwickelt, in der beispielsweise alle exilierten jüdischen Komponisten (ca. 580) herausgesucht werden können. Ziel ist es, diese Daten über kurz oder lang in einem Lexikon zu vereinen, doch auch hier muss die finanzielle Basis noch gesichert werden. Zur Forschung gehören auch die Interviews mit Zeitzeugen und die Aufbereitung des Nachlasses Fritz Spielmanns, angegliedert ist der Fritz Spielmann-Fonds, der jungen Exilmusikforschern kleine Projektstipendien zur Verfügung stellt.
Das zweite große Arbeitsgebiet ist die Organisation von Aufführungen und Veranstaltungen. Hier soll beispielsweise die für Wien adaptierte Hanns Eisler Ausstellung der Berliner Akademie der Künste genannt werden oder eine Videovorführung über Herbert Zipper, den Komponisten des Dachau-Liedes. Seit Beginn der Vereinsarbeit fanden über 90 Konzerte, Vorträge, Symposien oder Ähnliches statt. Für Dezember ist ein Kolloquium zum Thema Vally Weigl, der Frau des Komponisten Karl Weigl, geplant, die eine Pionierrolle als Musiktherapeutin in den USA einnahm.
Das dritte Gebiet der Vereinsarbeit ist die Vermittlung, der Informationsaustausch und die Vernetzung zwischen den Gebieten der Forschung und des Musikbetriebs. Hier kann die Datenbank eine große praktische Hilfe leisten, denn Orpheus Trust kann Programmvorschläge liefern, da in der Computermaske auch Quellennachweise und das Urheberrecht der Noten angegeben sind. Der Verein organisiert Gesprächsveranstaltungen mit Zeitzeugen in Schulen oder anderen Bildungseinrichtungen und es besteht sogar die Möglichkeit einer Non-profit-Vermittlung von Dirigenten, Solisten und Ensembles, die Exilmusik in ihrem Repertoire haben. Wichtig ist auch das – im Aufbau befindliche – Archiv. Hier stehen dem Nutzer Kompositionen, Werkkopien, Tonaufnahmen, biografische Materialien und Sekundärliteratur zur Verfügung, um Recherchen zu erleichtern und auch eine mediale Begleitung für die Presse zu ermöglichen.
Wenn man Revue passieren lässt, mit welchem Durchhaltevermögen sowohl die Gründerin als auch die Beteiligten, die jahrelang ehrenamtlich die Arbeit des Vereins betrieben und für die Konzerte hin und wieder minimale Zuschüsse bekamen, das Projekt vorantrieben, nämlich der vom NS-Regime verbotenen Musik endlich wieder den ihr gebührenden Raum zu geben, ist das achtungsgebietend. Primavera Gruber selbst formuliert es bescheidender: "Ich habe zuerst eigentlich ein paar Freunde gefragt, ob sie mich beim Aufbau unterstützen. Es wurde dann ein Schneeballprinzip. Ich konnte das gar nicht absehen, weder, wieviel Arbeit ich mir aufladen würde, noch, wie fündig wir werden würden." Ihre normale Arbeit als Kulturmanagerin musste sie völlig aufgeben, aber es wäre für sie nicht vorstellbar, die Arbeit am Orpheus Trust einzustellen. Unüberhörbar ist aber die Bitterkeit, dass sich trotz der beträchtlichen Erfolge die Politiker und Kulturverantwortlichen in mündlichen Beteuerungen ergehen und sich zu keiner kontinuierlichen Förderung entschließen können. Entmutigen lässt sie sich davon nicht, auch nicht von der gegenwärtigen komplizierten politischen Situation in Österreich: weder wird sie aufgeben, noch sich oder den Verein als Aushängeschild missbrauchen lassen. Befragt nach Wünschen für die Zukunft bekräftigt sie, dass sie sich einen noch regeren Austausch wünscht, dass Anfragen aus dem In- und Ausland gerne bearbeitet werden und dass weiterführende Informationen von Zeitzeugen, so etwa von den Lesern der INW, mit grossem Interesse aufgenommen werden. (Von der Redaktion gekürzt)
Beate Hennenberg
Orpheus Trust
Dr. Primavera Gruber
Sigmundgasse 11, 1070 Wien
Tel. / Fax: 01/526 80 92; malto:office@orpheustrust.at
www.orpheustrust.at
Geht der Einkäufer Londons Oxford Street entlang, können ihm die grünen Pakete mit der Aufschrift "Marks & Spencer" kaum entgehen. Genausowenig wie der Tourist auf der Wiener Kärntnerstrasse die gleichfarbigen Säcke von Palmers übersehen dürfte. Doch die Hingabe des Engländers an seinen Marks & Spencer, die grosse von dem jüdischen Immigranten Michael Marks Ende des vorletzten Jahrhunderts gegründete Retailgruppe, ist sondergleichen.
Vielleicht einzig mit der Liebe des Wieners zu seinem Kaffeehaus vergleichbar. Die Geschichte von Marks & Spencer lässt sich mit derjenigen einer "Rags to Riches" Story vergleichen (von "Fetzen zu Vermögen"), und ist die Geschichte vom Aufstieg eines armen, der englischen Sprache, Sitten und Traditionen unkundigen Immigranten, der es von einem billigen Verkaufskarren zu einem der weltgrößten Geschäftsgiganten gebracht hat. Die Liebe des Engländers zu seinem in allen Großstädten vertretenen M+S geht tief und ist mit der Gründerfamilie Marks aber auch der später hinzugekommenen jüdischen Familie Sieff tief verbunden. Beide sind sie heute geadelt und der britischen Nobilität durch verschiedene geschäftliche und soziale Kontakte eng verbunden.
Obwohl M+S als Wunder im englischen Detailhandel galt, da die Firma den 1-Milliarde-Pfund-Umsatz zu überschreiten vermochte, galt sie als Familienbetrieb, wo Mr. Marks, vor allem der in 1964 verstorbene Simon Marks, täglich in einem der Läden zu sehen war, wo er Säume, Knöpfe oder einfach das Klingeln der Kassen kontrollierte. Doch wie es mit so vielen Liebesaffären geht, blüht diese, wenn alles zum besten steht und sie versiedet, wenn Probleme aufkeimen, wenn, wie im Fall von Marks & Spencer, die Zahlen nicht mehr so rosig wie einst sind und wenn es mit dem Umsatz hapert. Viele Analytiker wollen einen Zusammenhang zwischen der beeindruckenden Expansion von M+S sehen – etwa nach Asien, Kanada und Europa – und einer stark zunehmenden Konkurrenz auf der Geschäftshauptstraße. Andere wollen den Grund eher in der Tatsache entdecken, dass sich die jüdischen Gründerfamilien vom täglichen Geschäftsbetrieb zurückgezogen haben. Bestand ja einst der überwiegende Großteil des Managements aus Familienmitgliedern der Marks und Sieff, so sind heute noch kaum irgendwelche jüdische Direktoren im Verwaltungsrat anzutreffen. Maßgebend waren beide Familien übrigens Chaim Weizman behilflich, um die Balfour Deklaration durchzupeitschen, während Rebecca Sieff an der WIZO-Gründung beteiligt war. Diese Verbindung zu Israel lebt in den Familien bis zum heutigen Tage fort.
Michael Marks begann sein Geschäft aus einer bescheidenen fahrenden Karre. Täglich mühte er sich mit dem englischen Wetter ab, musste er doch von einem Dorf zum anderen ziehen, und die schwere Last machte ihm zu schaffen. Da kam ihm die glänzende Idee, die Fuhre abzuschaffen, eine Marktbude aufzubauen und einfach alles für einen Penny zu verkaufen: Don't ask for the price, everything costs a penny war sein Slogan und er gründete damit in England eine revolutionäre Preispolitik .
Als Luftzug und die nassen Trottoirs seinen Verkäufern für Lungenentzündung anfällig machten, verlegte der gewiefte Marks seine Verkaufsbuden vom offenen Marktplatz in überdachte Einkaufsarkaden und ließ seine Mitarbeiter die Käufer von hölzerne Stehbrettern aus bedienen. Ein von der schweren Arbeit erschöpfter Michael Marks überließ dann das Geschäft seinem bereits versierten Sohn Simon, der Marks & Spencer zu einer regelrechten Weltmarke und einer gesunden Position auf der Börse verhalf.
Simon Marks verstand sich jedoch nicht nur auf Geschäft, viel Zeit, viel Geld und viel Interesse widmete Simon auch jüdischen Zwecken, dem Land Israel und ganz allgemein wohltätigen Vereinen. So war Marks & Spencer nicht nur für die zumeist aus Israel importierte Unterwäsche berühmt, der Name fehlte auch bei keinem Wohltätigkeitsanlass und figurierte auf so manchen neuen Gebäuden und Galerien.
Vor allem verstand sich Simon auf Liegenschaften – alle seine Geschäfte waren in der besten Lagen aufzufinden und als sein Flaggschiff-Geschäft auf der Oxford Street eröffnet wurde und sich manche um den Umsatz Sorgen machten, fegte er diese mit dem Trost hinweg, dass dieses Geschäft, wenn auch nicht finanziell erfolgreich, dann halt wenigstens gute Reklame war. Doch Sorgen musste sich Simon Marks sowieso keine machen. Sein Motto, dass jeder Quadratmeter einen Umsatz zu verzeichnen hatte, zahlte sich aus. Simon setzte auf Qualität – auch die Premierministerin Margaret Thatcher trug die M&S Kleider – auf innovative Materialien – M&S waren die ersten, die synthetische Stoffe elegant verarbeiteten, auf tadellose Verarbeitung und auf einen angemessenen Preis.
Marks & Spencer war die Marke der zusehends wohlhabenderen mittleren Schicht und vor allem war die Ware in Großbritannien verarbeitet, ein Entschluss, der den Patrioten Simon Marks und Margaret Thatcher später aufs engste verbinden sollte. (Der Patriotismus von Sieff wurde allerdings ob dessen enger Bindung mit Israel oft etwas angezweifelt). Während des Zweiten Weltkriegs war es denn auch das jüdische Warenhaus, das der britischen Armee zu einem Spitfire verhalf. Während der Jahre seines geschäftlichen Höhepunkts, verkaufte Marks & Spencer 15% aller englischen Kleider und besaß auch 30% des Lingeriemarktes.
Dokumentarfilme und Interviews mit Simon Marks überzeugten den Engländer, dass der stolze jüdische Geschäftsmann ihn nicht um preiswerte und qualitätssichere Produkte bringen würde und dass er ein wichtiger Arbeitgeber war. Simon Marks Ruf als patriarchalischer, fairer, wenn auch strenger Boss war in aller Munde. Was in Simons Familie galt, sollte sich auch im Geschäft bewähren. Marks & Spencer, als "jüdischer Laden" bekannt, machte sich einen Namen als einer der besten und großzügigsten Arbeitgeber. Anders als bei anderen Firmen bot Simon Marks seinen Angestellten Aufstiegsmöglichkeiten, eine gründliche Lehre und einen angemessenen Lohn, plus Krankenkasse und Sicherheit.
In Universitätskursen, in denen über ethisches Management oder moralisches Personalwesen diskutiert wurde, wurde jeweils ein Vertreter von Marks & Spencer als Gastreferent eingeladen und wenn es um Rechte und Forderungen von Angestellten ging, um Arbeitsbeschaffung oder Sozialhilfe, wusste Marks & Spencer die zukunftsgerechte Lösung.
Die Familie war nicht orthodox-jüdisch, aber bewusst jüdisch, manche Familienmitglieder der Sieffs heirateten solche der Familie Marks, bei jedem jüdischen Anlass waren sie dabei und bis 1965 waren auch alle Direktoren im Verwaltungsrat, wenn nicht Familienmitglieder, so wenigstens jüdischer Abstammung. Das Verhältnis zu Israel war nicht nur philanthropischer Natur.
Unzählige Produkte importierten Marks & Spencer aus Israel, vor allem Baumwollware und Frischprodukte. Marks & Spencer waren die ersten, die erfolgreich Avocados aus Israel einführten.
Doch musste es vielleicht so kommen, wie es gekommen ist. Die Seifenblase ist geplatzt. Der Umsatz ging im letzten Jahre rapide bergab, Management hatte sich mit den Expansionsplänen übernommen und zum ersten Mal sah sich auch M & S gezwungen, Angestellten zu kündigen. Zusehends mehr wird der Firma vorgeworfen, dass sie einfach mit der Zeit nicht Schritt gehalten hat, dass sie die junge Generation nicht anspricht, dass sie zu hohe Erwartungen geschürt habe. Verfügbares Einkommen wird heutzutage für elektronische Artikel ausgegeben und der Modemarkt ist segmentiert. Marks & Spencer habe beide Entwicklungen nicht wahrgenommen. Die Gründe für die Halbierung des Umsatzes können wohl verschiedentlich begründet werden, die Hauptursache für die derzeitige Krise dürfte jedoch darin zu finden sein, meinte ein Mitglied der Familie Marks, dass Marks & Spencer halt nicht mehr ein enger jüdischer Familienbetrieb ist, bei dem der Eigentümer jedem und jeder auf die Finger schaut, gleichzeitig aber auch weder das Wohl der Angestellten noch die Zufriedenheit des Kunden aus den Augen verliert.
Eva Burke
"Gebürtig", der Roman von Robert Schindel war nicht nur in Österreich und im gesamten deutschsprachige Raum ein Erfolg. Er wurde auch in mehrere Sprachen übersetzt und verhalf Schindel, der bis dahin vor allem für sein lyrisches Werk bekannt war, Anfang der Neunziger zu Weltruhm. Jetzt hat Lukas Stepanik das Buch verfilmt und eben die Dreharbeiten in New York, Auschwitz und Wien abgeschlossen. Knapp vor seinem Tod plante bereits Regisseur Axel Corti "Gebürtig" zu verfilmen. Das Projekt kam nicht mehr zu Stande. Daraufhin nahm sich der Journalist und Drehbuchautor Georg Stefan Troller des Stoffes an. Gemeinsam mit dem Autor und Regisseur Lukas Stepanik begann er 1995 Drehbuch zu schreiben. Nach mehrjähriger Arbeit an verschiedenen Fassungen ist der Film jetzt gelungen und kommt demnächst ins Kino.
"Gebürtig" führt in das Jahr 1987, eine Zeit, in der Österreich durch die "Waldheim-Affäre" in der Welt negative Schlagzeilen machte. Erzählt wird die Geschichte des jüdischen Emigranten Hermann Gebirtig (Peter Simonischek), der sich ein Leben als erfolgreicher Schlagerkomponist in New York eingerichtet hat und glaubt, seine KZ-Vergangenheit ebenso wie seine alte Heimat Wien weit hinter sich gelassen zu haben. Doch die Geschichte holt ihn, den abgeklärten Erfolgsmenschen, im fernen Amerika ein. Susanne Ressel (Ruth Rieser), eine schöne junge Journalistin aus Wien, überredet ihn, sich der Vergangenheit zu stellen und in Wien gegen einen ehemaligen KZ-Aufseher auszusagen.
Die Vorgeschichte: Mit Susanne liiert ist Danny Demant (August Zirner), Kabarettist, Lebenskünstler und Frauenfreund. In seinem Freundeskreis finden sich die Kinder von Tätern und Opfern, und in seinem Kabarett "Mischpoche" besingt Danny die Heimatstadt: "Einst Welthauptstadt des Antisemitismus, ist sie heute Vergessenshauptstadt worden…" Doch so einfach ist das Vergessen nicht: Der Wiener Jude Demant wird von einer amerikanischen Filmcrew als Nahkomparse engagiert, um einen Wiener Juden in Auschwitz zu spielen. Während der Dreharbeiten trifft er auf den Hamburger Kulturjournalisten Konrad Sachs (Daniel Olbrychski), der schon sein Leben lang die Tatsache verdrängt, Sohn eines hochrangigen KZ-Arztes in Polen zu sein. Unauslöschlich eingeprägt hat sich ihm das Bild seines Vaters in der schmucken NS-Uniform. Und eine Schuld, die den Sohn nicht mehr loslässt. Als Sachs eines Tages nach Auschwitz fährt, um über Dreharbeiten im ehemaligen KZ zu berichten, trifft ihn die Erinnerung mit voller Wucht. Er reist der Vergangenheit nach bis nach Wien und wird dort mit Hilfe von Susanne, Danny und Gebirtig einen Weg finden, mit den quälenden Erinnerungen fertig zu werden.
Susannes Vater ist der Pensionist Karl Ressel (Hannes Thanheiser), der die Nazizeit als politischer Häftling im Konzentrationslager Ebensee überstanden hat. Bei einem harmlosen Ausflug auf die Rax holt auch ihn die Vergangenheit ein – nach Jahrzehnten des Vergessens begegnet Ressel einem ehemaligen KZ-Aufseher wieder. Es ist der einstige Oberscharführer Rudolf Pointner (Edd Sztavjanik) – der "Schädelknacker von Ebensee". Für Ressel wird die kurze Begegnung zum tödlichen Finale seiner Erinnerung – er erliegt vor Aufregung einem Herzinfarkt. Jetzt wird seine Tochter Susanne alles daran setzen, den langjährig gesuchten Menschenschinder Pointner der Gerechtigkeit zuzuführen.
Doch was ist schon Gerechtigkeit? Zwar gelingt es Susanne, den ehemaligen Lagerhäftling Gebirtig aus seinem New Yorker Exil nach Wien zu holen, damit er im Prozeß aussagt. Doch Pointner wird "mangels an Beweisen" nicht schuldig gesprochen. Ob Gebirtigs Reise nun sinnlos war? "Na wenn schon", würde Hermann Gebirtig sagen, "Wien ist eine schöne Stadt. Zum Sterben schön."
"Ich habe eigentlich nur noch einen Ehrgeiz, nämlich zu verschwinden." Mit öffentlichen Auftritten macht sich Ilse Aichinger, deren letzte Sammlung von Aufzeichnungen "Kleist, Moos, Fasane" 1987 erschienen ist, inzwischen rar. Und mit neunundsiebzig Jahren darf sie das auch. Lieber geht sie ins Kino, eine "ganz frühe Liebe" und hält ihre Impressionen Woche um Woche für ein von ihr so bezeichnetes "Journal des Verschwindens" fest, dass sie anläßlich der Viennale 2000 für den Wiener "Standard" zu schreiben begann.
Groß war daher das Interesse, als sie kürzlich einer Einladung des Kulturzentrums der Israelitischen Kultusgemeinde und des Lyrik-Kabinetts in München folgte. Die gebürtige Wienerin begann mit einem ganz neuen Text, betitelt "Film und Verhängnis", der dem im Herbst bei S. Fischererscheinenden Buch den Titel geben wird. In dem vorgetragenen Text ging es um die Kinoleidenschaft der Tante, der jüngsten Schwester ihrer Mutter. Sonntags sei sie immer ins Fasan-Kino gegangen. Wenn sie fröstelnd zurückkam, erklärte sie, man könne sich dort den Tod holen. "Den Tod holte sie sich und er holte sie gemeinsam mit meiner Großmutter im Vernichtungslager Minsk, in das sie deportiert wurden."
an diesem Abend war die Aichinger bereit ihre Erinnerungen mit den ZuhörerInnen zu teilen. Später wird dies auch den LeserInnen zuteil werden. Sie erzählt von ihrer "Louis-Malles-Phase" und vom Film "Auf Wiedersehen Kinder. Es gab aber auch eine "Sister-Act-Phase" und eine "Ingmar-Bergman-Phase". Und wenn sie begründet, warum sie sich den Western "Spiel mir das Lied vom Tod" nicht ansieht: "Dieses Lied wurde meinen Angehörigen (…) schon gespielt", dann wird die Bedeutung von leichtfertig hingeworfenen Worten, griffigen Überschriften und zugkräftigen Slogans in ein anderes, kritisches Licht gerückt.
Nach dem Anschluss Österreichs 1938 war Ilse Aichinger mit ihrer Mutter und Zwillingsschwester, die sich im Juli 1939 als einzige nach England retten konnte, in Wien aus allem ausgeschlossen. Ihr als Roman deklarierter Bericht "Die größere Hoffnung von 1948", kürzlich im S. Fischer Verlag mit einem Nachwort von Ruth Klüger wieder aufgelegt, handelt davon und liest sich, wie Michael Krüger in seiner Einführung zur Lesung anmerkte, wie "das absolute Gegenstück zur Sprache der Adenauer-Zeit".
Schon Tage vorher war der Münchener Aichinger-Abend bis auf den letzten Platz ausverkauft gewesen. Den im Café des Kulturzentrums auf eine Tonübertragung Hoffenden trug sie ein Gedicht vor Ort vor. Dann tauchte sie in die Menge im Saal hinein, begleitet von Michael Krüger. Der Schriftsteller und Leiter des Hanser-Verlages machte aus seiner Bewunderung kein Hehl: lse Aichinger ist und bleibt die Dichterin des Unerledigten, die seit der "Größeren Hoffnung" nicht davon ablassen will, dieses Unerledigte zu präsentieren. Ein Buch könne man verlieren, "eine Stimme, die unser Ohr einmal tief gereizt hat, nicht. Zu diesen Stimmen gehört die von Ilse Aichinger. Sie ist für Zaubersprüche gut und für verschenkten Rat, für das Dunkle, das sich neben dem Hellen bildet, es ist eine Stimme des Leids und der Lockung." Neben Gedichten trug Ilse Aichinger zwei Texte aus ihrem "Journal des Verschwindens" vor, über Stan Laurel und Oliver Hardy, "Extremformen einer ins Chaos kippenden Ordnung", und über "Fräulein Riefenstahl". Der gipfelt in der schön boshaften Feststellung: Schwindelfreiheit im Hochgebirge, Tiefseetauchen mit 91. Die Absurdität wird nicht wahrgenommen, wenn sie gelingt. Das wird ja auch politisch immer zu spät bemerkt.
Ellen Presser
Im Alter von 90 Jahren ist Ingrid Warburg-Spinelli, eine wertvolle Zeugin des 20. Jahrhunderts, im Oktober 2000 gestorben.
Im Titel ihrer Autobiographie: Die Dringlichkeit des Mitleids und die Einsamkeit nein zu sagen, ist sichtbar, was ihr Leben bestimmte: Ein entschiedenes NEIN zu allen Diktaturen, Nationalismen, Dogmen, jedwedem Extremismus, NEIN aber auch zum bequemen Hafen des Wohlstandes, sogar der Familie, die sie so liebte, sagt sie NEIN. Sie wählte den Weg der Solidarität mit den leidenden Menschen, mit den Verfolgten, unabhängig von ihrer Religion oder Nationalität. Ingrid Warburg-Spinelli, geboren am 1. Oktober l910, war eine menschlich und politisch offene, großherzige Weltbürgerin.
Als Tochter einer assimilierten und sehr vermögenden berühmten Hamburger Bankiersfamilie genoss sie eine sorglose Kindheit, umringt von Liebe und alles Schöne, was ihr Stand gewähren konnte: prächtige Wohnsitze, das Betreiben jedwelchem Sports, fröhliche Familienfeste, Urlaubsreisen in Italien oder Österreich. Die Familie Warburg gehörte dem jüdischen "Geldadel" an und war seit 1789 Besitzer eines Bankhauses. Mit dem Judentum waren sie seit Generationen mehr durch kulturelle Tradition verbunden, gleichzeitig fühlten sie sich als deutsche Patrioten, tief in der deutschen Kultur verwurzelt, Teil und Mitgestalter der Geschichte der deutschen Nation.
Ingrid Warburg studierte 1926–1930 in Salem am Bodensee, danach an der Universität von Heidelberg, wo sie sich der Gedankenwelt der linksorientierten Kreise näherte. Ein Sommerseminar verbrachte sie 1932 in Oxford, um ihr Englisch zu perfektionieren. Da traf Ingrid Warburg einen fortschrittlich denkenden, multikulturellen Kreis, beseelt von schönen Träumen und Utopien: die reigiösen, nationalen und Herkunftsunterschiede zu überwinden und eine Völkergemeinschaft zu gründen, wo man miteinander in Frieden und Toleranz leben wird.
Im Winter 1932 schrieb sie sich in die Hamburger Universität ein, wo sie die ersten jungen Zionisten kennen lernte und sich gleich für Idee der Kibuzzim begeisterte. Sie studierte Deutsch, Englisch und Philosophie und promovierte 1935, um danach 1936 einen sechswöchigen Urlaub bei ihren Onkeln in den USA zu verbringen. Sie kehrte nicht mehr nach Deutschland zurück. Ihr weiteres Leben und ihre Beschäftigungen waren von sozialem Gewissen, dem in ihr tief verankerten Pflichtgefühl, notleidenden Menschen zu helfen, geprägt.
Die Warburgs hatten mit den größten Persönlichkeiten ihrer Zeit Kontakte und spielten mehrmals eine beträchtliche Rolle in besonders wichtigen Zeitgeschehen. Ingrids Großmutter, Sara Warburg hatte 1857, während einer finanziellen Krise, die Stadt Hamburg vorm Bankrott bewahrt, indem sie durch verwandtschaftliche Beziehungen einen Riesenkredit bei der Oesterreichischen Nationalbank vermittelte. Nach dem ersten Weltkrieg schrieb Großmutter Charlotte Warburg an Präsident Wilson und bat ihn "sich zum Fürsprecher Deutschlands bei den Alliierten zu machen". Der Onkel, Max Warburg, war offizieller Ratgeber der deutschen Delegation an den Friedensverhandlungen in Versailles. Er wirkte mit am Aufbau der Hamburg-Amerika Linie und das erste Kabel zwischen Amerika und Deutschland zu legen. Auch nach seiner Emigration in die USA behauptete er, dass das Naziregime als Ursache "das fatalen Diktat von Versailles" habe. Der Onkel Felix Warburg wurde in den USA die Zentralfigur zahlreicher Wohlfahrtsorganisationen, war Mitbegründer der "Joint" und der "Howard University" für schwarze Studenten. Ingrids Vater, Fritz Warburg, war 1915 Handelsbevollmächtigter des Deutschen Reiches bei der Gesandtschaft in Stockholm. Sie alle konnten niemals die Behauptungen akzeptieren ein deutscher Christ habe mehr Vaterlandsliebe als ein deutsche Jude.
Die Jahre des Exils in den USA bedeuteten für Ingrid Warburg eine rege, unermüdliche Tätigkeit in mehreren Organisationen, die sich mit der Rettung von Menschen vor der Nazigefahr beschäftigten.
Als Ingrid Warburg bei der "Emergency Relief for the Child of Italy" tätig war, lernte sie ihren künftigen Mann, Veniero Spinelli, kennen. Sie heirateten Januar 1941. Es wurde eine "dramatisch bewegte Ehe", voll mit unerwarteten, spannenden Umschwüngen. Sie liebte ihn aber bedingungslos und blieb stets an seiner Seite. Spinelli war Flieger im spanischen Bürgerkrieg, trat danach in die Fremdenlegion ein, von wo er nach Martinique desertierte und später in die USA kam. Das Ehepaar hat fünf Kinder. Veniero Spinelli ist 1969 verstorbe.
Zwischen 1986 und 1988 hat Ingrid W. Spinelli mehrere Reisen nach Deutschland unternommen, um ihre "Grundidentität" zu prüfen. Als überzeugte Antifaschistin fand sie einen Mangel an Achtung seitens der Alliierten wie auch des größten Teil des Volkes, gegenüber dem deutschen Widerstand. Sie bemerkte, dass "die Deutschen den Grauen des Krieges und den Hunger der Nachkriegsjahre viel lebendiger als die Schuld des Nationalsozialismus empfunden haben" . Und doch fühlte sie sich ein Leben lang seelisch unzertrennlich mit Deutschlands Schicksal verbunden.
Rosalie Bianu
Die Dicherin Elfriede Gerstl und
eine ihrer Retterinnen – Marianne Pilz
Anläßlich des diesjährigen Jom Hashoah, dem Tag des Gedenken an die Opfer des Holocaust, wurde am Misrachi Haus am Judenplatz eine Gedenktafel zu Ehren der "Gerechten unter den Völkern" errichtet. Diese Tafel ist jenen Menschen gewidmet, die Juden während der Nazizeit unter Gefährdung ihres eigenen Lebens, geholfen haben. Seit 1953 werden in Yad Vashem, der Holocaust Gedenkstätte in Jerusalem, die Gerechten unter den Völkern geehrt und ein Baum für jeden Einzelnen gepflanzt Es ist die höchste Auszeichnung, die das jüdische Volk durch den Staat Israel an nichtjüdische Personen vergibt. Bisher konnten weltweit 16000 gefunden werden, Österreichs Anteil mit 83 Gerechten fällt eher bescheiden aus. Die Historikerin Erika Weinzierl betonte jedoch, dass nach ihren Schätzungen die Anzahl viel höher liege. Viele wollten auch nach dem Krieg über diese für sie selbstverständliche Taten nicht sprechen, und so manche scheuten das Licht der Öffentlichkeit. Heute sind die meisten schon verstorben, aber viele Nachkommen haben schon Ehrungen im Namen ihrer Verwandten übernommen.
Die Literatin Elfriede Gerstl, die während des Krieges jahrelang im Versteck überlebte dankte stellvertretend für viele für die Hilfe, ohne der sie und ihre Mutter nicht hätten überleben können. Auch die passive Hilfe – das heißt nicht zu denunzieren – war damals schon keine selbstverständliche Handlung. Viele Menschen halfen ihnen damals, bewusst und unbewusst diese grauenvolle Zeit zu überstehen.
Literarisch hat sie ihre Erlebnisse in dem Essay "Als ich noch ein kleines Mädchen war" verarbeitet.
Der Schriftsteller Robert Schindel, geboren am 4. 4. 1944, überlebte weil ihn Freunde seiner Mutter, die deportiert wurde , in ein nationalsozialistisches Waisenhaus brachten. Erst nach dem Krieg fand ihn seine Mutter mit Hilfe eines markanten Leberflecks am Oberarm wieder. Sein Vater überlebte den Krieg nicht, er wurde im KZ ermordet.
Oberkantor Shmuel Barzilai sang das Totengebet für die Opfer der Shoa.
Den Abschluss dieser kleinen aber sehr berührenden Feier bildete der Gemischte Kinderchor des Gymnasiums Friesgasse und der Zwi Peres Chajes Schule unter der Leitung von Rami Langer als Symbol der Jugend, gemeinsam die Zukunft positiv zu bewältigen.
Viel Andrang herrschte bei der diesjährigen Magbiteröffnung des Keren Hajessods, deren Ehrengast der weltberühmte Broadway-Star Dudu Fischer war, Die zahlreich erschienenen Gäste amüsierten sich köstlich über die hervorragende Präsentation seines vielseitigen Repertoires, das von einer ausgezeichneten Elvis-Imitation über jiddische Folklore bis zu seiner berühmten Interpretation "Barbier von Servilla" auf jiddisch reichte. Kurz ließ er die kritische Lage in Israel vergessen, an die die Redner erinnerten. Der Präsident des KH, Dr. Anton Winter, sprach von der freiwilligen Besteuerung des jüdischen Volkes gegenüber Israel, das in den letzten Jahren hunderttausende Einwanderer integriert hat. Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg beglich an Ort und Stelle seinen Beitrag, denn wer schnell gibt, gibt doppelt, meinte er. Geschäftsträger des Staates Israel, Ilan Ben-Dov, gab einen Bericht über die derzeit komplizierte politische Situation, die viel Geduld erfordert. In Vertretung der IKG betonte Vizepräsident Oskar Deutsch die Solidarität der österreichischen Juden mit dem Staate Israel.
Die israelische Botschaft hatte zu einem anspruchsvollen Konzert der Extraklasse ins Akzent eingeladen. Gekommen war der israelische Künstler Baldi Olier, begleitet von seinem ältesten Sohn Adam Olier und der Sopranistin Sivan Rotem. Baldi Olier, ein Meister des klassischen Gitarrespiels, spielte Flamenco und Zigeunermusik von ihm komponiert und arrangiert sowie von ihm vertonte Gedichte von Garcia de Lorca und spanische und israelische Lieder. Baldi Olier emigrierte aus Rumänien nach Israel, wo er in den 70er Jahren seine ersten öffentlichen Auftritte hatte. Er verbrachte einige Jahre in Spanien, widmete sich vor allem dem Flamenco und spielte mit den Roma. Zusammen mit dem spanischen Sänger Paco Ibanez trat er in Israel, Spanien und Frankreich, darunter im Olympia in Paris, auf. Auf seinen Konzerttourneen spielte er in Lettland, Finnland, Schweden, London und im Central Park in New York. In Israel gründete er einige Ensembles und brachte mehrere CDs heraus.
Im Rahmen des Open House hatte das Schönberg Center und sein Direktor Christian Meyer zu einer Landpartie zum ehemaligen Wohnhaus Arnold Schönbergs nach Mödling eingeladen. Illustre Gäste, ehemalige Schüler und Mitarbeiter Schönbergs aus seiner Zeit in Amerika, wie Leonard Stein, Dika Newlin, Richard Hoffmann, Yuri Cholopov aus Rußland, Ethan Haimo aus Israel, um nur einige zu nennen, fanden sich ein. Sie trafen anlässlich des Symposiums "Arnold Schoenberg in Amerika" vom 2.-6. Mai zusammen, um gemeinsam zu spielen, interessante Vorträge zu halten und auch Anekdoten aus der gemeinsamen Zeit wiederzugeben. Von der Familie waren Nuria Schoenberg Nono und Lawrence Schoenberg mit seine Frau angereist. Schönbergfreunde und Interessenten aus der ganzen Welt, Musikwissenschafter aus Wien, Zürich, London, etc. und Journalisten aus dem Ausland fanden sich in Mödling im Garten des Schönberg Hauses bei strahlendem Frühlingswetter wieder, wo man dem Arbeiterchor aus Ternitz unter der Leitung von Elfriede Langer Liedern von Schönberg, Scheu, Haßler, Haydn, Mendelssohn Bartholdy, Bach, Brahms und Händel unter einem riesigen Kirschenbaum, der in voller Blüte stand, lauschte. Es herrschte eine sehr entspannte, gelöste und fröhliche Stimmung und Atmosphäre. Und wohl jeder war sich des nicht wiederzubringenden Augenblicks im Kreise Auserwählter bewusst. Das Programm entsprach in etwa dem Chorkonzert mit dem Wiener "Chormusikverein", das Schönberg am 24. Februar 1907 leitete.
Am 19. April wurde in der St. Pöltner Synagoge ein slowakisch-österreichisches Projekt präsentiert, das im Rahmen eines mehrjährigen Mitteleuropa-Forschungsprogramms steht. Die neuen Forschungsergebnisse zeigen, dass das Wissen über die Vergangenheit für gesellschaftspolitische Probleme und Wirtschaftsbeziehungen der Gegenwart sinnvoll ist. "Ein Zeichen gegen den von uns Christen ausgehenden Antisemitismus setzen" wollte der St. Pöltner Prälat Johannes Oppolzer und überreichte seine persönliche Spende über 30.000 ATS für die Renovierung der Zeremonienhalle am jüdischen Friedhof der Landeshauptstadt. "Das Wandern in Europa war die Norm, die Sesshaftigkeit, wie sie manche Politiker propagieren, ist das Unnormale!" setzt Klaus Lohrmann, Chef des Instituts für Geschichte der Juden in Österreich, den Forschungsschwerpunkt auf die jüdischen Wanderungsbewegungen. Die Rolle der Juden bei der Entstehung des mitteleuropäischen Wirtschaftsraums war bedeutend. "Den finanziellen Kuchen haben die Juden vergrößert und besser verteilt", bekämpft Lohrmann antisemitische Vorurteile, denn das Sozialverhalten in den jüdischen Gemeinden hatte für ganz Europa Vorbildwirkung. "Auch der slowakische Wissenschaftler Juraj Sedivy möchte "die Grenzen im Kopf niederreißen", als Voraussetzung für eine gemeinsame europäische Denkweise. "Das Unbekannte bekannt machen und das Wissen gegen Vorurteile einsetzen", sei Ziel des wissenschaftlichen Projektes, das die Wurzeln der Gemeinsamkeiten der mitteleuropäischen Staaten freilegt. Die gewonnenen Erkenntnisse über die länderspezifischen Besonderheiten sind auch für zukünftige Kooperationen mit den EU-Beitrittskandidaten nutzbar. Kulturstadtrat Siegfried Nasko betonte den Bezug zwischen jüdischer Geschichte in der Slowakei, in Tschechien und Ungarn und St. Pöltens Chancen im Wirtschaftsraum Mitteleuropas: "Das länderübergreifende Forschungsprojekt des Instituts verbindet sich harmonisch mit der Rolle, die die Landeshauptstadt in ihren Beziehungen zu den Nachbarn Österreichs wahrnimmt." Ein Konzert jüdischer Lieder mit slowakischen Künstlern bildete den kulturellen Rahmen der gutbesuchten Veranstaltung.
Letzte Änderung: 03.01.2012
Webmeisterin+Redaktion: Mag. Ditta Rudle
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