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Aus dem Inhalt der Ausgabe 6/7– 2003

Freund: Gobelin
Betty Freund: Gobelin, 1926
Komposition aus französischen
Seiden

Pragmatismus angesagt

Von Gil Yaron

Ob der Friedensvertrag mit Ägypten, der Oslovertrag, Taba, Sharm A Scheich, Rye River, der Tennet- oder Mitchell-Plan, die Liste der gescheiterten Nahost-Friedenspläne ist lang. Alle Versuche basierten auf denselben Prinzipien wie der letzte Versuch des Quartetts: nämlich Terrorstopp seitens der Palästinenser, Siedlungsstopp seitens Israel, und danach Fortschritt zu einer beliebigen Form der Selbstbestimmung für die Palästinenser in der Westbank und Gaza. Worauf basiert dann der jetzige Optimismus?

Die Erwartungen stützen sich auf drei Entwicklungen:

Erstens: Der Führungswechsel bei den Palästinensern. Der neue Premier Abu Mazen alias Mahmud Abbas symbolisiert einen echten Gesinnungswechsel. In Akaba erkannte ein Palästinenser zum ersten Mal das Leiden des jüdischen Volkes an und verpflichtete sich dazu, dem ein Ende zu setzen. In seiner außergewöhnlich versöhnlichen Rede erwähnte Abu Mazen absichtlich nicht umstrittene Forderungen wie das Rückkehrrecht oder Jerusalem und erweckte so in Israel große Hoffnungen. Abu Mazen lehnte von Anfang an die bewaffnete Intifada ab; er erkennt, dass die Gewalt sein Volk nicht ans Ziel führen wird. So verpflichtete er sich, sie zu beenden.

Zweitens: Die neue Einsicht der rechten israelischen Regierung. Scharon, der Ziehvater der Siedlerbewegung, nutzte erstmals das Wort Besatzung. Mit einer Rhetorik, die eher zu einem Friedensaktivisten als zu dem Baulöwen der Westbank passt, beschrieb Scharon die Gefahr der demographischen Entwicklung westlich des Jordans angesichts einer andauernden israelischen Präsenz in den palästinensischen Städten. Hinzu kommt, dass die israelische Armee unter Haudegen Scharon schon zwei Jahre fast ohne Einschränkungen letztendlich erfolglos gegen den Terror kämpft. Weiterhin sieht niemand ohne Ruhe einen Ausweg aus der wirtschaftlichen Misere. So lenkt nun auch Scharon auf die Linie der von ihm bisher scharf kritisierten Vorgänger ein und befürwortet einen Palästinenserstaat.

Drittens: Amerikanische Glaubwürdigkeit und Druck. Präsident Bush hat sich mit seinem Alleingang und dem überwältigenden Sieg im Irak im Nahen Osten viel furchtsamen Respekt verschafft. Bushs entschlossener Unilateralismus wird im Orient in die Formel übersetzt: Wer nicht spurt, der zahlt. Deswegen möchte kein Staatsmann im Nahen Osten heute Bush verärgern. Zum ersten Mal gehorchen selbst ambivalente Staaten wie Saudi Arabien brav und verurteilen den Terror öffentlich. Das neue Verständnis des Modus operandi des Terrors ermöglicht seine Eindämmung. So fordern die USA erstmals eine exakte Kontrolle des Geldstromes, der in die palästinensische Autonomiebehörde (PA) fließt. Kein Groschen soll nunmehr aus den reichen Ölländern direkt in die Taschen der Hamas und des Jihads fließen können, auch Arafat wird von seinen Quellen abgeschnitten. Die Zuwendungen an die PA werden nur noch direkt an das Finanzministerium geleitet. So kann das Geld nur noch beschwerlich an den falschen Stellen versickern.

Auch auf Israel übt Bush großen Druck aus. Die patriotische Stimmung in den USA seit dem 11. September erduldet keinen Widerspruch. So hat die mächtige jüdische Lobby den Friedensplan vollends akzeptiert. Es ist im Augenblick nicht denkbar, dass diese Lobby ihren Einfluss für israelische Einwände nutzen möchte. Bush scheint es mit dem Frieden in Nahost ernst zu meinen. Er befasst sich nicht mit den Einzelheiten des Planes, doch ist er bereit, sein spezifisches Gewicht und seine Sturheit einzusetzen, um seine Vision zu verwirklichen.

Doch vieles ist im Orient noch immer dasselbe. Das wohl größte Fragezeichen ist, ob Abu Mazen sich als zentrale Autorität etablieren wird. Abu Mazen möchte zwar eine exklusive Staatsmacht errichten, hat dafür vor allem in der Westbank aber gar nicht die erforderliche Gefolgschaft. Er kann sich noch nicht der Hamas stellen. Sollte er sie jedoch wie geplant in seinem Sicherheitsapparat mit einbauen, würde er ihn von innen aushöhlen. Die kompromissbereite Rede in Akaba hat ihm in dem militanten Klima der Intifada sehr geschadet. Seine Gesprächsbereitschaft mit der Hamas und dem Jihad werden eher als Schwäche denn als innere Überzeugung gedeutet. Das Attentat am Eres-Übergang im Gazastreifen ist ein gleißendes Warnlicht: Zum ersten Mal seit Beginn der Intifada arbeiteten dabei die Hamas, der Jihad und Abu Mazens eigene Fatah ostentativ zusammen. Sie demonstrierten so, wie egal ihnen Abu Mazens Aufforderungen sind. Auch Arafat untergräbt fortwährend Abu Mazens Bemühungen. Auch wenn er von seinen bisherigen Geldquellen vollkommen abgeschnitten wäre, hat er genügend Reserven, um damit noch jahrelang Abu Mazen ernsthafte Probleme zu bereiten. Arafat kann noch immer auf die Loyalität seiner Anhänger pochen, wie die Demonstrationen nach dem Akabagipfel zeigen.

Scharon sitzt wohl stabiler im Sattel. Mit seiner vorsichtigen Kompromissbereitschaft sitzt er mitten im israelischen Konsensus, und muss sich vorerst über die lauten Proteste der Siedler keine Gedanken machen. Sollte er jedoch im Rahmen des Friedensplanes ernstere Schritte unternehmen müssen, wie das Räumen großer bewohnter Siedlungen, ohne dass der Terror vorher spürbar abnimmt, dann wird auch er schwanken.

Letztendlich beginnt und endet dieser Friedensprozess in Washington. Jeder Fortschritt hängt von dem verbindlichen Engagement Bushs ab. Wenn der Friedensplan nur ein Werbegag war, um die westlichen Verbündeten zu beruhigen, dann wird er sich schon bald auf dem Kompost der Geschichte zu seinen Vorgängern gesellen. Nur wenn der amerikanische Präsident ernsthaften Druck auf die Araber ausübt und Scharon von den Extremisten weg bugsiert, führt der neue Wegeplan nicht in eine Sackgasse.

gilyaron@yahoo.com

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Keine Zukunft für Lebende?

Die jüngsten Ereignisse gaben vielen Anlass, ernsthafte Überlegungen zu treffen, inwieweit die jüdische Gemeinde in Österreich und insbesondere in Wien gefährdet sei.

Immer wieder wird uns bei diversen Gedenkveranstaltungen, Ehrungen und Denkmalenthüllungen versichert, welch enorme Bedeutung jüdisches Leben auf die Entwicklung dieses Landes hatte, wie viele intellektuelle, künstlerische und wirtschaftliche Impulse eben dieser Minderheit zu verdanken sind. Gerne schmückt man sich auch heute mit Nobelpreisträgern und anderen Berühmtheiten, ohne wirklich zu bedenken, dass diese Menschen vertrieben und beraubt wurden. Beraubt nicht nur ihrer Heimat, an der alle sehr hingen, beraubt auch all ihrer materiellen und juridischen Rechte. Ganz zu schweigen vom Mord an ihren Angehörigen. Trotz der Shoah, die unsägliches Leid für Generationen hinterlassen hat, gibt es nun in Österreich eine kleine Anzahl von Juden, die aus verschiedenen Gründen sich entschlossen haben wiederzukommen beziehungsweise dazubleiben. Dies benötigt eine entsprechende Infrastruktur – die Erziehung der Jugend, die Betreuung des älteren Menschen, die Versorgung der sozial schwachen Schichten, die Aufrechterhaltung religiösen Lebens und last but not least die Sicherheit müsse gewährleistet sein. Die Diskussionen der letzten Wochen weisen aber deutlich darauf hin, dass die derzeitige Regierung nicht sehr viel Wert auf das Bestehen einer intakten jüdischen Gemeinde legt. Anders ist die Weigerung, ca. 2,7 Millionen Euro, eine Summe, die im Haushaltsbudget fast keine Rolle spielt – allein die Wartung der Abfangjäger beträgt über 200 Millionen – nicht zu verstehen. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass jeder österreichische Bürger unabhängig seiner Religionszugehörigkeit ein Recht auf Sicherheit besitzt. Es wirft sich die Frage auf, kann es sich eine österreichische Regierung leisten die Bedürfnisse einer Bevölkerungsgruppe, mit der in der Vergangenheit so rechtlos umgegangen wurde, nicht zu berücksichtigen?

Auch im Staatsvertrag ist die Rückgabe gestohlenen Gutes als eine der Voraussetzungen für die wiedererlangte Souveränität verankert. Seit 58 Jahren bemüht sich die IKG Gerechtigkeit zu erzielen. Bisher gab es viele verbale Zugeständnisse, auch Hilfeleistungen finanzieller Art, aber eine globale Lösung, welche der Kultusgemeinde ihr Weiterbestehen sichert und sie nicht zu Bittstellern degradiert – diese Lösung ist trotz vieler Interventionen nicht in Sicht. Angesichts des ungeheueren Raubzuges während des Nationalsozialismus und der nur zögernden Rückgabe nach dem Kriege ist dies mehr als verwunderlich, umso mehr als die Historikerkommission ziemlich genau in dieser Richtung recherchierte und es nun klar ist, wie viel gemeinnützige Vereine, Stiftungen und Gemeindevermögen bis jetzt noch nicht rückerstattet wurden.

Man kann sich nur schwer dem Zynismus einiger hier lebenden Juden entziehen, die feststellen – in Österreich liebe man vor allem die toten Juden, eventuell auch noch die berühmten wie Nobelpreisträger, aber nur, wenn sie weit genug weg wohnen. Lebendiges jüdisches Leben mit all seiner Widersprüchen und Brüchen ist nicht gefragt. Selbstverständlich gibt es immer Konflikte, wobei Lösungen zu suchen sind und nicht Eskalationen. Klar ist, tote Juden können nicht diskutieren oder demonstrieren und stören somit nicht die scheinbar so heile Welt.

Joanna Nittenberg

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Die Iraner sind der Mullahs überdrüssig

US-Truppen als Nachbarn verunsichern Teheran

Die Mullahs haben es dieser Tage nicht leicht. Amerikanische Truppen stehen an der Ost- und der Westgrenze des Iran. Die US-Invasion im Irak und das rasche Ende des Irakkrieges bei relativ unwesentlichem Widerstand der irakischen Armee und Bevölkerung, der beschleunigte Sturz des Saddam Hussein-Regimes, die deutliche Verunsicherung des Assad-Regimes in Damaskus – all das bereitet den Hardlinern des iranischen Schiiten-Klerus ernste Kopfschmerzen. Hinzu gesellt sich der wachsende Widerstand des iranischen Volkes gegen das Mullah-Regime, die deutlich zunehmende proamerikanische Stimmung unter jungen Iranern und der kaum noch überhörbare Ruf nach einem Regimewechsel in Teheran – notfalls mit Hilfe der amerikanischen Marines.

Das Regime von Teheran versucht sich der Gefahr mit Andeutungen des Wunsches nach einer Wiederaufnahme der bisher als Tabu geltenden diplomatischen Beziehungen zum "Großen Satan" zu entziehen. Es folgen Beteuerungen der Ablehnung des islamistischen Terrors. Die von US-Geheimdiensten festgestellte Präsenz von aus dem Irak geflohenen El Qaida-Terroristen auf iranischem Boden wird in Abrede gestellt. Diese Präsenz veranlasste die Amerikaner ihre diskreten Kontakte mit der iranischen Regierung abzubrechen, trotz Präsident Bushs Wunsch, als konstruktive Kraft im Nahen Osten und nicht nur als Kriegsherr Ansehen zu gewinnen. Auf iranischer Seite hat Ex-Präsident Hashemi Rafsanjani in einem Interview die Idee ventiliert, ein Referendum über die Wiederaufnahme von Beziehungen mit den USA abzuhalten, trotz des Unbehagens, das eine solche Idee bei Ayatollah Khamenei, der Grauen Eminenz des Regimes, auslöst.

In der G 8-Konferenz von Evian war Präsident Bush zwar bemüht, die alliierten Befürchtungen hinsichtlich seiner Pläne für den iranischen Zweiges der "Achse des Bösen" zu beschwichtigen, wie der italienische Ministerpräsident Berlusconi stellvertretend für Bush beteuert hatte. Bush warnte zugleich aber vor den Konsequenzen fortdauernder iranischer Bemühungen um die Entwicklung einer nuklearen Kapazität. Gerüchten zufolge würden es die USA begrüßen, wenn die israelische Luftwaffe – nach dem Beispiel des irakischen Osirak-Atomreaktors – die wichtigste iranische Atomanlage zerstören würde. Die Israelis, die sich die Erneuerung der engen Beziehungen mit einem neuen, demokratischen Iran herbei- wünschen, wollen diese Aufgabe lieber den Amerikanern überlassen. Die Hoffnung auf erneuerte iranisch-israelische Beziehungen könnte zur Wirklichkeit werden, wenn der Kandidat des Pentagon und der Neokonservativen Amerikas, Reza Pahlevi (Sohn des letzten Schah von Iran, von Exiliranern als Thronfolger betrachtet) an die Spitze eines demokratischen Iran gelangen würde. Sollten aber die linken Regimegegner, die auf der US-Terroristenliste figurierenden "Volksmujaheddin", zum Zuge kommen, würde – wenn überhaupt – lediglich massiver Druck aus Washington die Aufnahme von Beziehungen zwischen Teheran und Jerusalem ermöglichen.

Das Regime in Teheran ist sich der Stimmung in der Bevölkerung zwar bewusst, aber Rafsanjanis Idee von einer Normalisierung der Beziehungen mit den USA wurde geradezu als Sakrileg betrachtet. Die konservative Tageszeitung "Keyhan" bezichtigte den Ex-Präsidenten die "rote Linie" überschritten zu haben. Die hatte auch der Direktor eines Meinungsforschungsinstitutes in Teheran überschritten: die Veröffentlichung der Umfrageergebnisse, die eine massive Unterstützung der Idee von der Erneuerung der Beziehungen mit Washington aufzeigte, kostete ihn eine Gefängnisstrafe. Während die Reformer im iranischen Regime solche Beziehungen als "Frage der nationalen Sicherheit" betrachten, weil "die amerikanische Strategie nicht vor den Toren von Bagdad endet", wird die Idee eines Referendums als "unrealistisch" verworfen.

Der Vizepräsident des iranischen Parlaments, der Majlis, Behzad Nabavi, gibt offen zu, dass er es mit der Angst zu tun bekommen hat, da die bis zu den Zähnen bewaffneten Amerikaner ja im Irak bewiesen, dass sie keinen Respekt vor der staatlichen Souveränität anderer Länder haben. Nabavi zufolge reicht die Forderung nach Etablierung einer Demokratie westlichen Stiles zur Rechtfertigung einer amerikanischen Intervention, wenngleich diese nicht unbedingt militärischen Charakter haben muss. Irans beste Waffe wäre Nabavi zufolge die Stärkung der eigenen Demokratie, um den Amerikanern "ihre Argumente zu stehlen".

Nabavi ist sich natürlich der regimefeindlichen und proamerikanischen Stimmung in der iranischen Öffentlichkeit wohl bewusst. Diese werde – seiner Meinung nach – zwar durch tendenziöse amerikanische Fernseh- und Rundfunksendungen angefeuert, aber Nabavi gesteht, dass der Ruf nach einer US-Intervention gegen das Mullah-Regime klar zu vernehmen sei: Es ist offenbar unser eigenes Versagen, wenn die Leute eine fremde Invasion dem Leben in der Islamischen Republik vorziehen. Wir waren außerstande die demokratischen Aspirationen des Volkes zu befriedigen und es ist normal, dass die Leute enttäuscht sind... Wenn wir akzeptieren, dass die Iraker das Ende des Saddam Hussein-Regimes feiern, so muss auch der Gedanke akzeptabel erscheinen, dass die Iraner vielleicht das Ende der Islamischen Republik feiern würden.

Frankreich und Russland behaupten, die iranischen Reformer im Lager Khatamis seien durch den Beschluss der Bush-Administration geschwächt worden, den Iran in die "Achse des Bösen" einzubeziehen. Kritiker dieser Behauptung sind hingegen der Ansicht, dass die "Angst vor Amerika" den reformfreudigen Elementen in Iran eine seltene Gelegenheit bietet sich der Hardline-Mullahs zu entledigen, die den demokratischen Prozess hindern. "Die Hardliner sind sehr verängstigt", behauptet ein iranischer Reformist.

Regimekritiker im Iran finden aber die Differenzen zwischen Reformisten und Konservativen "zu geringfügig". Angekelt von der weit verbreiteten Korruption des Regimes wollen sie nichts als dessen Ende. Sie machen kein Hehl aus ihrem Wunsch, mit Hilfe Amerikas einen Regimewechsel herbeizuführen. Die Afghanen und die Iraker sind ihre Diktatur los geworden, weshalb sollen die Iraner benachteiligt sein? Iranische Intellektuelle aus Kreisen der Opposition wünschen sich den Regimewechsel als Folge einer eher politischen als militärischen Intervention Amerikas herbei. Ernste Unruhe herrscht unter der Studentenschaft. Die Studentenbewegung hat sich von den Reformgruppen separiert und warnt die USA vor einer Legitimierung des Regimes. Mohsen Miradamadi, Vorsitzender des Außenpolitischen Ausschusses der Majlis, glaubt nicht an eine amerikanische militärische Bedrohung. In Iran hätte ein im Auslande populärer Demokratisierungsprozess begonnen, weshalb die Weltöffentlichkeit eine amerikanische militärische Intervention verhindern werde. Aber auch Miradamadi ist über die "offensichtliche Enttäuschung der Iraner" von den Reformisten besorgt. Die Parlamentswahlen vom Februar, die eine Wahlbeteiligung von nur 12% aufzeigten, signalisierten deutlich, dass die "Schonperiode für die Reformer ausgelaufen ist".

Ben Zakan

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Jihad in Europa

Ist der neu erwachte Antiamerikanismus und Antisemitismus in Europa die Folge oder Begleiterscheinung der islamischen Invasion Europas, oder hat die schon in den sechziger Jahren von de Gaulle eingeleitete politische, ökonomische und geostrategische Allianz zwischen dem "alten" Europa und der arabischen Welt mit dem gemeinsamen Widerstand gegen den Irakkrieg einen neuen Zenit erreicht?

Wird der verstärkte Kampf gegen den islamistischen Terror den wachsenden Strom moslemischer Immigranten nach Europa bremsen, oder wird Europa seinen Widerstand gegen die islamische Invasion aus Angst vor einem Jihad in den Strassen europäischer Städte aufgeben? Von der Antwort auf diese Fragen hängt nicht nur die Zukunft der atlantischen Allianz, der europäisch-israelischen Beziehungen, sondern auch die des Fortbestandes des europäischen Judentums ab.

In den 60er Jahren war die Mehrheit der damaligen EWG-Staaten, trotz intensiver Bemühungen Charles de Gaulles, nicht bereit den von der Arabischen Liga abgeforderten Preis einer europäisch-arabischen Allianz zu zahlen: die Zerstörung Israels. Erst nach dem arabischen Ölboykott von 1973 ließen sich die damaligen neun Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft zu einer in Brüssel verabschiedeten gemeinsamen Resolution verleiten, die eine Identifizierung mit der französisch-arabischen Politik gegenüber Israel signalisierte. Rund 600 Abgeordnete aus 18 Parlamenten der erweiterten Europäischen Union und des Europäischen Parlaments schufen eine Vereinigung für Euro-Arabische Zusammenarbeit. Die entwickelte sich in eine machtvolle arabische Lobby europäischer Funktionäre innerhalb der EU-Institutionen, später noch durch einen "Euro-Arabischen Dialog" verstärkt, die zum Bindeglied zwischen der EU und den Staaten der Arabischen Liga wurde.

Die Europäer waren anfangs bemüht den Dialog auf die wirtschaftliche Ebene zu beschränken und die Araber mit einer liberalen Zuwanderungspolitik zu befriedigen. Aber die Araber wollten keinen Trennungsstrich zwischen ihrer Ölpolitik und ihrer Israelfeindlichkeit ziehen lassen. Trotz anfänglichem Widerstand einiger EU-Staaten hatte sich die Union schließlich für die antiisraelischen Grundsätze der Zweiten Islamischen Konferenz von Lahore (Februar 1974) ausgesprochen und dennoch den Eindruck zu erwecken versucht, sie könne das israelische Missbehagen und wachsende Misstrauen gegenüber der EU nicht verstehen. Im Laufe der Zeit wurden die Ziele der Araber klarer: es ging nicht nur um Europas uneingeschränkter politischer Identifizierung mit der antiisraelischen Linie im Nahostkonflikt, sondern auch um eine Spaltung der atlantischen Allianz, um die Separierung der EU von Amerika und schließlich um die Etablierung einer massiven, permanenten moslemischen Präsenz in Europa, durch Immigration von Millionen Moslems, die Integration Europas und der Arabisch-Islamischen Welt zu einem politischen und ökonomischen Block auf dem Wege der Islamisierung europäischer Staaten, sowie Schwächung der atlantischen Allianz durch die Isolierung Amerikas.

Europas Landschaft änderte sich zusehends. Neben Kirchen und vereinzelten Synagogen wuchs die Zahl der Moscheen in unglaublichem Tempo. Schulen, Universitäten mussten sich in manchen der EU-Länder durch eine drakonische Revision der Schulbücher, der Fakultäten, der neuen Lage anpassen. Unterricht der arabischen Sprache, der "überlegenen" islamischen Geschichte und Zivilisation, gehörte zum bon ton. Widerstand gegen die kulturelle Transformation wurde einfach als Xenophobie verurteilt. Der wachsende demographische Druck in zahlreichen EU-Staaten half bei der Entwicklung einer Symbiose, basiert auf dem System des Euro-Arabischen Dialogs, abgesegnet von den Führungsgremien der EU, gestützt durch enge Zusammenarbeit auf Gebieten der Information, humanitärer Organisationen usw. Wissenschaftliche, nukleare und militärische Ausbildung wurden zur Routine. Ein besonderes Beispiel dafür war das französische Atomprojekt mit dem Irak, das zum Bau des 1981 von Israel zerstörten irakischen Atomreaktors Osirak geführt hatte.

Die Intensivierung der Beziehungen zwischen der EU und der arabisch-islamischen Welt war von Anfang an verknüpft mit antiisraelischer und antiamerikanischer Politik, mit der Separierung der EU von Amerika. Mit der Intensivierung des palästinensischen und islamischen Terrors hatte die EU – stets um die Bewahrung ihrer vielfachen Interessen in der islamischen Welt bemüht – Israel und die USA der Provozierung der Terrorakte beschuldigt. Auch nach dem el Qaida-Angriff auf New York und Washington am 11. September 2001 wurde – bei aller Sympathie mit deren Opfern – vielerorts in der arabischen Welt und in Europa die Schuld den Amerikanern (stellvertretend auch den Israelis oder Juden) zugeschoben. Statt offener Konfrontation mit dem islamischen Terror ließ es die EU bei Appeasement und der Verurteilung Israels bewenden. Antizionismus, von jeher Bestandteil der euro-arabischen Beziehungen, wurde zu einer europäischen Subkultur des Hasses, der Defamierung und Desinformation, einer neuen Variante des altgewohnten Antisemitismus. Der Ausbruch der Intifada und des palästinensischen Terrors innerhalb Israels war von einer Welle antisemitischer Gewalt in Europa begleitet, als wären Paris und Brüssel das Herz Arabiens.

Frankreich, Deutschland und Belgien, die Führungstroika Eurabiens, hat die EU und deren afrikanische Satelliten gleichgeschaltet. Eine Allianz mit der Organisation der Islamischen Konferenz von 56 Staaten hat immer öfter eine Stimmenmehrheit in den UN gesichert. Die Kontrolle der UN durch diese Allianz bot den Vorwand zur Betonung der "internationalen Legalität" in allen umstrittenen Fragen, von Ramallah bis Bagdad. Arafat – der Pate des internationalen Terrors – wurde zum Regulator zwischen der EU und den Arabern. Europa wurde zum Financier der PA und das Europäische Parlament will lieber nicht wissen, wie die Milliarden Euros aus den Geldern europäischer Steuerzahler von Arafat benutzt wurden.

Die gegenwärtige Krise in den Beziehungen zwischen den USA und dem "alten Europa" rund um die Ursachen und Folgen des Irakkrieges, konfrontiert die "Friedensallianz" von Paris – Bonn – Moskau mit den Folgen von Jahrzehnten kleinmütiger Politik. Europa ist kaum mehr in der Lage den islamischen Terrorismus innerhalb und außerhalb seines Gebietes zu kontrollieren. Bisher waren europäische Opfer nur in Moskau, Djerba, Bali und Casablanca zu beklagen. Ob es dabei bleibt ist zu bezweifeln. Die Sicherheitskosten, eine direkte Folge des islamischen Terrors, belasten die europäischen Länder ebenso wie jene außerhalb des Kontinents. Die Europäer fürchten einen Jihad in ihren eigenen Straßen, wenn sie es riskieren sollten die vielseitige Symbiose mit der arabisch-islamischen Welt zu beenden, oder zumindest einzuschränken . Die europäische Bevölkerung ist sich vielfach der strukturellen und demographischen Änderungen ihrer Gesellschaft noch nicht voll bewusst. Die Transformierung der judeo-christlich Zivilisation und Kultur durch einen wachsenden Trend der Islamisierung schafft die soziale, kulturelle und politische Basis für Konfrontationen, die eine gefährliche soziale Implosion provozieren könnte.

Die Abkehr der EU von Amerika und die Dämonisierung Israels hat nichts mit entwickelterer politischer und moralischer Reife, mit erhöhter Säkularisierung, mit Ablehnung jeglicher militärischer Interventionen oder Antikolonialismus zu tun. Auch nicht mit dem von gewissen Kreisen forcierten Widerstand gegen die Globalisierung. Sie ist vielmehr mit traumatischer Angst vor Terrorismus verbunden, die die EU nicht gestehen will und sie durch antiamerikanische und antiisraelische Parolen zu verdrängen versucht. Ob die Verdrängung der Irakkrise in der G-8-Konferenz von Evian und die Wiederbelebung des nahöstlichen Friedensprozesses durch die Gipfelkonferenzen am Roten Meer daran viel ändern werden, ist überaus fraglich.

Karin Gil

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Polen in Aufbruchstimmung

Nun ist es überstanden, meinte eine prominenter polnischer Diplomat nach dem erfolgreichen Referendum zum EU-Beitritt. Zu Beginn der Debatten schien die Stimmung in Polen für Europa nicht ganz so positiv als es sich letztlich in der Abstimmung manifestierte.

torarolle ueberreichung
Botschafter Sheva Weiss, Präsident
Moshe Katzav : Überreichung der Torarolle

Es gibt und gab in Polen viele Vorbehalte bezüglich eines Eintrittes in die Union. Die jüdische Gemeinde in Polen steht und stand diesbezüglich ganz hinter der offiziellen Entscheidung. Erhofft sie sich doch als Mitglied der Europäischen Gemeinschaft mehr Unterstützung für ihre Belange. Anlässlich des 60. Jahrestages des Aufstandes im Warschauer Getto kamen Delegationen aus der ganzen Welt, insbesondere auch aus Israel und den USA.

Mit dem Helikopter kommt auch der Staatspräsident Israels, Moshe Katzav, der gemeinsam mit dem polnischen Staatspräsidenten Aleksander Kwasniewski am "Marsch der Lebenden" in Auschwitz teilnahm, nach Warschau. Er will eine neue Tora persönlich in die Nozyk-Synagoge tragen. "Ich freue mich, dass Sie so zahlreich gekommen sind", begrüßt er die größte jüdische Gemeinde Polens. "Wir erinnern in diesen Tagen nicht nur an die Ermordung von sechs Millionen Juden. Wir freuen uns auch, dass die Warschauer Gemeinde wieder wächst und gedeiht. Die neue Tora steht wie ein Symbol auch für das neue jüdische Leben in Warschau." Ein Zeichen des Wandels der Polen zu seiner jüdischen Bevölkerung ist auch die moralische wie auch finanzielle Unterstützung der Regierung für die Errichtung eine Museums, das sich vor allem mit der reichen und wechselvollen Geschichte der Juden in Polen auseinander setzen wird. Die Initiative zu diesem Projekt kam von Jerzy Halberszad, dem Direktor, der beeinflusst von seinem Mentor Sheike Weinberg (der unter anderen an der Errichtung des Diaspora Museums in Tel Aviv maßgeblich beteiligt war und auch das Jüdische Museum in Berlin konzipierte, jedoch leider vor dessen Eröffnung verstarb), dieser war auch an der Planung dieses Projektes aktiv beteiligt. Es gelang Halberszad und seinem Komitee einflussreiche amerikanische Persönlichkeiten für dieses Vorhaben zu gewinnen. Weltweit erfreut sich diese Idee großer Zustimmung und so kam es, dass die prominent besetzte amerikanische Delegation der Freunde des Museums unter der Leitung von Wiktor Markovicz und Steven Solender auch hochoffiziell ins Parlament geladen wurde, wo sie an einer Debatte über die Errichtung dieser für die Polen so wichtigen Kulturstätte teilnahmen. Polen erhofft sich mit diesem Museum nicht nur eine intensivere Aufarbeitung der Geschichte, sondern auch eine breite touristische Wirkung. Platziert gegenüber dem Getto-Denkmal, soll dieses Museum die fast 1000-jährige jüdische Präsenz in Polen in Erinnerung rufen. Geplant ist es, diese Geschichte mit modernen multimedialen Mitteln dazustellen und es existiert schon ein sehr beeindruckendes Konzept. Wie alles im Leben ist dieses Vorhaben aber vor allem von der Finanzierung abhängig, die polnische Regierung hat bereits bindende Zusagen geleistet und nun bemüht man sich noch namhafte Sponsoren zu finden. Angesichts der großen und weit verbreiteten Gemeinschaft, deren Wurzeln in Polen liegen, scheint dies ein durchaus realisierbares Projekt zu sein, zumal auch die EU ebenfalls starkes Interesse daran bekundet hat. Während der großen Abschlussveranstaltung im Warschauer Opernhaus, in der die noch lebenden Kämpfer des Warschauer Gettos mit den höchsten militärischen Ehren ausgezeichnet wurden, wiesen in ihren Ansprachen sowohl Präsident Alexander Kwasniewski als auch Präsident Moshe Katzav auf die Bedeutung eines Museums der jüdisch-polnischen Geschichte hin. Israel sei davon besonders geprägt, stammen doch vier Ministerpräsidenten aus Polen – David Ben Gurion, Izhak Shamir, Menachem Begin und Shimon Peres. Polen war in den 30-er Jahren mit drei Millionen Juden ein geistiges Zentrum, aus dem viele Impulse hervorgingen. Mit diesem Museum soll der Beitrag der polnischen Juden zur europäischen, amerikanischen und jüdischen Entwicklung gewürdigt werden.

Joanna Nittenberg

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Georg Chaimowicz 1929–2003

Kämpfer in Wort und Bild

Georg Chaimowicz ist am Vorabend von Shawout seinem langen schweren Leiden erlegen. Alle die ihn kannten werden diese aufrichtige wenn auch sehr streitbare Persönlichkeit sehr vermissen. Die Illustrierte Neue Welt hatte das Privileg, ihn viele Jahre als Mitarbeiter zu schätzen und manchmal auch zu fürchten gelernt. Besonderes Echo fanden seine Kommentare in den 90-er Jahren zu seinen Zeichnungen aus den 60-er Jahren. Schon damals stellte er die Weigerung Österreichs, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, an den Pranger. Seine Offenheit und sein undiplomatisches Vorgehen waren auch die Gründe, warum ihm erst relativ spät die wohlverdienten Ehren zuteil wurden. Anlässlich seines 70. Geburtstages würdigte das Jüdische Museum in Wien in einer Retrospektive diesen bedeutenden Künstler.

g.chaimowitz

Ein halbes Jahrhundert ist es her, dass Georg Chaimowicz seine Diplomarbeit "Steinernes Selbstbildnis – Psalm 129" beendete: In einer Wüstenlandschaft steht ein barockisierender Steinsockel, auf ihm erhebt sich das Selbstbildnis, auf der Stirn einen Davidstern tragend. Eine kleine Figur links wendet sich ab. Das Bild ist von fast unerträglicher Spannung, hervorgerufen durch die Gegensätze, die zwischen der formalen Dynamik des Sockels und der Statik der Wüstenlandschaft herrschen, zwischen der Bewegung der kleinen, sich entziehenden Gestalt und der steinernen Starre des massiven Porträts. Nicht zuletzt erhöht die Spannung der Magen David, den sich der Künstler stolz auf die Stirne stempelte, mit anscheinend leichter Hand bestätigte, dass er abgestempelt war. Demonstrativ wandelte er das Mal, das ihn stigmatisieren sollte, um in ein Zeichen trotziger Erhabenheit. Vor diesem Stolz muss die kleine Figur der Abwendung kapitulieren, sie verlässt das Bild und seinen Schöpfer, der Psalm 129 als Interpretationshilfe anbietet: "Oft haben sie mich bedrängt, von Jugend an; doch sie konnten mich nicht bezwingen. Auf dem Rücken pflügten mir Pflüger, zogen ihre langen Furchen. Der Herr ist gerecht! Er zerschnitt die Stricke der Frevler. Beschämt wandten alle sich ab, die Zion hassen!”(2-5). Auch sonst ist nichts an diesem Gemälde zufällig, jedes Detail hat seinen Sinn. Die Wüstenlandschaft symbolisiert das, was nicht vorhanden ist, ein bewusstes Nichts, in dem der Ursprung der Kreativität liegt, ein Nichts, das ein neues Etwas erst ermöglicht. Mit dem Sockel huldigte der Künstler dem Barock, diesem wunderschönen, effektiven Schmuckstil, der die nüchterne Welt triumphal zu überwinden scheint, Transzendenz vorgebend aufs Jenseits verweist und die Wirklichkeit ästhetisch verschleiert. In diese opulente barocke Welt, die die europäische Kultur so nachhaltig Jahre geprägt hat, schaltete sich der Maler Chaimowicz ein und zollte ihr seinen Tribut, indem er das künstlerische Erbe zitierte. In diese Welt schaltete sich aber auch der Jude Chaimowicz ein, indem er sich selbstverständlich eingliederte in die europäische Kulturtradition und offensiv Anspruch auf dieses Erbe erhob. Und wer Georg Chaimowicz kannte, weiß, wie viel Anspruch er darauf erhob und wie viel Wert er darauf legte, Europäer zu sein, Österreicher zu sein, Wiener zu sein. In diesem Sinne und für diesen Wert, Österreicher und Wiener zu sein, kämpfte er, oft gegen Windmühlen, öfter gegen reale Feinde, gegen Antisemitismus, Gleichgültigkeit, Vergessen und Verdrängen. Diesen Kampf – oft unkonventionell geführt – konnte nur einer aus

Liebe kämpfen, aus verzweifelter Liebe zu dieser Stadt, die ihn weitgehend ignorierte. Ja, Georg Chaimowicz war ein homo viennensis, wie diese Stadt kaum einen zweiten finden, wohl auch nicht suchen wird.

Zwanzig, dreißig und vierzig Jahre nach dem steinernen Selbstbildnis entstanden seriell geschaffene Papierarbeiten, die nur mehr mit Kratzern, Ritzungen, Erhöhungen und Vertiefungen versehen waren. Es handelt sich um Blätter, die nur kaum sichtbare Male aufweisen, von denen der Betrachter nicht weiß, ob sie verletzen sollen oder selbst Verletzungen sind. Die unscheinbaren Male irritieren den Betrachter, fordern ihn heraus zur Frage nach seinem Sinn, zur Frage, was man denn nun hier sieht, bis zur Frage, was man denn nun hier nicht sieht. Für Chaimowicz lag der Erkenntnisgewinn nicht in diesen Bildern, sondern in dem Prozess, in dem sie entstanden, einem Prozess, der sich dem Betrachter nur mitteilt, wenn er sich auf eine völlig losgelöste, meditative Schauweise einlässt. "Schau” meint in diesem Zusammenhang kontemplative Vision von etwas kaum mehr Mitteilbarem, einer Grenzüberschreitung, die der Künstler während der Arbeit durchlebt hat. Vielleicht hilft eine Geschichte, die im babylonischen Talmud tradiert wird, sich dem Hintergrund dieser Arbeit zu nähern. Im Traktat Chagiga 14b-16a, wird erzählt: "Vier traten in das Paradies ein, und zwar Ben Azaj, Ben Zoma, Acher und Rabbi Akiba", wobei "Paradies" die Umschreibung für eine metaphysische Welt ist. "Ben Azaj schaute und starb", weil er sich zu sehr in diese Welt vertiefte. "Ben Zoma schaute und kam zu Schaden", weil er an dieser Welt irrsinnig wurde. Acher wurde abtrünnig, eben ein anderer. Nur "Rabbi Akiba stieg in Frieden hinauf und kam in Frieden herunter", auch die Schau einer anderen Welt lenkte ihn nicht vom Glauben an das Wesentliche ab. Die Suche nach dem Wesentlichen scheint hinter diesen bildlosen Bildern zu stehen, eine Suche, die den Glauben daran voraussetzt sowie den Willen, dieses Wesentliche zu ertragen. Sowohl die Suche nach dem Wesentlichen als auch das Akzeptieren dieses Wesentlichen scheinen charakteristisch zu sein für eine spezifisch jüdische Kunst, deren Vertreter Georg Chaimowicz mit großem Stolz war.

In seiner "Ästhetischen Theorie" hatte Theodor Adorno sein provokantes Diktum formuliert, dass sich nach Auschwitz keine Gedichte mehr schreiben ließen. Es war im übertragenen Sinne zutiefst ernst gemeint. Ihm ging es dabei um die ästhetische Form. Nach der Katastrophe der Shoah und vor den Katastrophen, die noch folgen sollten, darf es einfach keine nur mehr "schöne" Kunst geben, die lediglich eine ideologische Mitläuferin wäre. Kunst muss die Wahrheit aufdecken und die Wahrheit ist hässlich: "Die Male der Zerrüttung sind das Echtheitssiegel der Moderne", so Adorno. Ein wahres Kunstwerk kann daher nicht mehr harmonisch sein, nicht versöhnlich, nicht glättend, nicht farbenfroh, wenn es die Welt authentisch abbilden will. Und nur die authentische Widerspiegelung der Wahrheit macht ein Kunstwerk des 20. und 21. Jahrhunderts zu einem solchen. Wo dieser Anspruch nicht gestellt wird, entsteht auch keine Kunst, höchstens eine affirmative Ästhetik. Es führt ein direkter Weg von Adornos "Malen der Zerrüttung" zu Chaimowicz‘ "Surface II (Lanzen)"-Serie aus dem Jahr 1992, in der die Tusche nur mehr zum Signieren taugt. Die eigentlichen Bilder sind Ritzungen, feinlinige Zerrüttungen am Papier. In diesem Sinne war Georg Chaimowicz nicht nur ein jüdischer Künstler, sondern auch ein konzeptioneller Künstler.

Oft habe ich Georg Chaimowicz gefragt, ob er sich selbst als jüdisch-religiösen Künstler sah.

Immer gab er komplizierte Antworten, die in einem einfachen "ja" mündeten. Ein anderer jüdischer Künstler, und zwar Barnett Newman, beantwortete dieselbe Frage mit dem Zitat des Hawdala-Segens: "Gepriesen seist Du Herr, unser Gott, König der Welt, der du unterscheidest zwischen dem was heilig und was nicht heilig ist". In völliger Übereinstimmung mit Chaimowicz setzte er hinzu: "Dies ist das Problem, das künstlerische Problem, und, wie ich denke, die wahre sprirituelle Dimension". Und diese spirituelle Dimension ist es auch, in die Georg Chaimowicz' verschlungene Wege zu Bildern führten, die auf der jüdischen Tradition eines angenommenen Bilderverbots basierten.

Die Auseinandersetzungen, die Georg Chaimowicz mit sich und seiner Kunst führte, hatten ihre Wurzeln in der biblischen Frage nach dem "Wahrhaftigen", dem "Richtigen". Die Auseinandersetzungen, die Georg Chaimowicz mit seiner Umwelt führte, hatten ihre Wurzeln in der demokratischen Frage nach dem "Wahrhaftigen", dem "Richtigen". Beide Auseinandersetzungen waren für alle Beteiligten oft schmerzhaft, doch sie führten zu jenen lebendigen Dialogen, die so charakteristisch für das Zusammentreffen mit Georg Chaimowicz dem Künstler, dem Wiener, dem Demokraten und dem Juden waren. Sein größter Wunsch war es, dass sich diese Dialoge auch nach seinem Tod fortsetzen mögen. Seine Freunde werden sich dafür einsetzen.

Felicitas Heimann Jelinek (Kunsthistorikerin und Judaiistin)

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Verfolgten Künstlern die Ehre erweisen

Am 22. Juni eröffnet in Ashdod, Israel, das Museum Bar-Gera für verfolgte Kunst und Künstler. Den Grundstock des Museums bildet die Sammlung der Kölner Galeristin Kenda Bar-Gera und ihres Mannes Jacob Bar-Gera. Die Museumsmitbegründerin Kenda Bar-Gera wuchs in der Stadt Lodz in einer traditionsreichen, orthodoxen jüdischen Familie auf. Sie kennt – ebenso wie ihr im Januar 2003 plötzlich verstorbener Mann – das Schicksal der Verfolgung aus eigener Erfahrung: Getto in Lodz, Auschwitz, Arbeitslager in Niederschlesien. Nach der Befreiung durch die Rote Armee Einreise in Palästina mit gefälschten Papieren. Seit 1963 lebt sie in Köln, wo sie sich den Ruf einer international anerkannten Kunstexpertin erwarb.

Bar-Gera + Mann
Das Ehepaar Bar-Gera

INW Wie kam es zur Museumsgründung?

Bar-Gera: Der Gedanke an ein eigenes Museum kam erstmals auf, nachdem mein Mann und ich 1996 in St. Petersburg eine viel beachtete Ausstellung gemacht hatten. Als sich der ursprüngliche Plan eines Museumsneubaus in Raanana mehrmals verzögerte, entschieden wir uns – mein Mann und ich waren schließlich keine 20 mehr – für das Angebot der Stadt Ashdod, das Museum im dortigen Kulturzentrum zu beherbergen. Es ist ein Bau von 1995, am Meer gelegen, mit einer traumhaften Glaskuppel. Für das Museum wurden nun innen die drei Etagen neu geplant und gebaut.

INW: Nun wird das Museum am 22. Juni mit einer Sonderausstellung eröffnet. Wie ist die Konzeption?

Bar-Gera: Das Museum unter der Leitung von Yael Wiesel wird eröffnet mit der Ausstellung "Verfolgte Kunst und Künstler im 20. Jahrhundert in totalitären Ländern Europas." Sie wird in zwei Etappen ablaufen. Im ersten Teil wird vom 22. Juni bis Ende September 2003 deutsche "entartete Kunst" der Nazizeit, regimekritische Kunst aus dem Spanien der Franco-Diktatur, sowie die von Stalin verbotene russische Avantgarde der 20er Jahre gezeigt. Hierfür habe ich als Kuratorin der Ausstellung viele Leihgaben internationaler Privatsammler und Museen zusammengetragen. Im zweiten Teil wird vom Oktober 2003 bis März 2004 Kunst der russischen Nonkonformisten von 1955 bis 1988 zu sehen sein, mit Werken, Fotos und Dokumenten. Sie gehören zu unserer umfangreichen Hauptsammlung. Diese wird als Schenkung dauerhaft im Museum bleiben, wobei die Bilder von Zeit zu Zeit gewechselt werden. Ein Teil unserer Sammlung der russischen Nonkonformisten wird also immer ausgestellt sein.

INW Gibt es auch Wechselausstellungen?

Bar-Gera: Laut Vertrag wird mindestens einmal im Jahr eine Ausstellung zum Thema der Verfolgten Kunst gemacht. Es könnte in Zukunft zum Beispiel um die Zerstörung der Buddha-Statuen in Afghanistan gehen oder um die Kunst während der maoistischen Kulturrevolution in China. Für die Wechselausstellung sind drei Viertel, für die Dauerausstellung ein Viertel der auf drei Ebenen verteilten Ausstellungsfläche vorgesehen.

INW Bei den verfolgten Künstlern im Europa des 20. Jahrhunderts fallen einem schnell große Namen ein. Werden Werke berühmter Künstler in der Eröffnungsausstellung zu sehen sein oder hatten Sie andere Auswahlkriterien für Ihre Ausstellung?

Bar-Gera: Von bekannten deutschen Künstlern ist etwa Käthe Kollwitz dabei, Max Pechstein, Erich Heckel, Otto Dix, George Grosz, Oskar Kokoschka, der Federico García Lorca gezeichnet hat. Unter den russischen Künstlern habe ich Kasimir Malewitsch, Olga Rozanova, El Lissitzky oder auch Ilya Kabakov, von dem ich vor Jahren in meiner Kölner Galerie noch für 300 Mark ein Bild verkauft habe – heute kennt die ganze Welt Kabakov. In der Ausstellung hängt aber kein Picasso und kein Miro, auch weil viele deutsche und spanische Museen nicht gerade großzügig mit Leihgaben waren. Wenn jemand deren Kunst sehen möchte, kann er heutzutage fast in jedes Museum gehen. Aber was in meiner Ausstellung hängt, kann er nicht in jedem Museum sehen und darauf bin ich stolz. Von der spanischen Avantgarde ist etwa Lorca dabei, Agustí Centelles, Joaquín Torres García – Namen, die in Vergessenheit geraten sind. Das Museum für verfolgte Kunst ist dafür da, solche verfemten Künstler wieder anzuerkennen.

INW Wie hoch ist der Anteil jüdischer Künstler?

Bar-Gera: In der Ausstellung ist etwa Felix Nussbaum vertreten, von den russischen Nonkonformisten Künstler wie Michail Grobmann, Witali Stessin und Wladimir Jakowlew. Wie hoch ihr prozentualer Anteil ist, kann ich Ihnen nicht sagen. Für meine Arbeit war es nie ausschlaggebend, ob jemand Jude ist oder nicht, Mensch muss er sein.

INW Gibt es denn nicht Künstler oder Bilder, die Ihnen besonders am Herzen liegen?

Bar-Gera: Das werde ich sehr oft gefragt, ob in St. Petersburg, Moskau, Frankfurt, Verona oder egal, wo mein Mann und ich unsere Sammlung früher gezeigt haben. Darauf kann ich nur antworten wie eine Mutter antworten würde: Ich liebe alle meine Kinder, so schwierig die Künstler oft auch sind. Ein Bild aus unserer Nonkonformisten-Sammlung hing bei uns im Schlafzimmer. Es ist von Michail Schemjakin, der jetzt in New York lebt, betitelt "Gott des Schweigens": Es zeigt ein Gesicht, dessen Mund verbunden ist. Es ist nicht mein Lieblingsbild, aber es war eine Mahnung für mich: "Du musst dich dafür einsetzen, dass wir den Mund öffnen."

INW Wie haben Sie die Schicksale der verfolgten Künstler herausgefunden?

Bar-Gera: Das habe ich mein ganzes Leben lang gemacht als Galeristin. Ich habe geforscht in Archiven, gesucht in alten Katalogen. Wenn Sie sich etwa mit den Schicksalen der Künstler aus dem Umkreis des Bauhauses oder des "Sturm" beschäftigen, so stellen Sie fest, dass von ihrem Werk oft nicht viel geblieben ist, dass viele Künstler in Vergessenheit geraten oder sogar verschwunden sind. Wenn ich jedoch einen Künstler wieder gefunden habe, habe ich oft erfahren, wo ich den nächsten finde. In den 70er Jahren habe ich etwa eine Ausstellung über die Künstlervereinigung "die abstrakten hannover" gemacht, deren Mitglieder sich bei mir in der Galerie nach über 30 Jahren wieder getroffen haben. Ich stieß auch auf den Konstruktivisten Robert Michel, einen der ersten deutschen Piloten des Ersten Weltkrieges, und seine Frau Ella Bergmann. Oder die Straßburger Künstlerin Marcelle Cahn: Kurz vor ihrem Tod habe ich sie in einem Altersheim besucht. Sie ist in Armut gestorben. Oder Felix Nussbaum, der in Auschwitz umkam und ebenfalls in der Eröffnungsausstellung vertreten ist: In den 70er Jahren sind zwei seiner Nichten in meine Galerie reinmarschiert und haben um Rat gefragt. Kein Mensch wusste damals, wer Nussbaum ist. Heute ist man begeistert von seinen Bildern.

INW Gibt es spezielle Charakteristika von Bildern verfolgter Kunst, gemeinsame Stile, Themen oder Techniken?

Bar-Gera: Nein. Es sind alle Stile vertreten in der Ausstellung, vom Figurativen bis zum Abstrakten. Es ist auch nicht so, dass die Künstler mit ihren Bildern zum Widerstand aufgerufen haben. Wenn im NS-Regime jemand Jude war, hatte er kein Recht, überhaupt auszustellen. Er konnte der beste Künstler sein – sein Platz war dennoch Auschwitz oder Dachau. Für andere Künstler reichte es aus, eine Skulptur mit einem Titel wie "Das hungrige Mädchen" zu machen, um als "entartete Künstler" zu gelten. Und warum durfte ein Konstruktivist nicht ausstellen? Zwei Striche, ein Quadrat zu machen zeugt von Phantasie und freiem Denken. Deshalb haben die Diktatoren Angst vor der freien Kunst. Der Ausstellungskatalog beschäftigt sich detailliert mit solchen Fragen. Wir planen auch, ein Forschungsinstitut und ein Archiv aufzubauen, um das bislang wenig erforschte Phänomen der verfolgten Kunst interdisziplinär zu untersuchen.

INW Vergessene Künstler zu rehabilitieren, ein Museum für verfolgte Kunst zu initiieren, ist eine harte Arbeit. Woher beziehen Sie Ihre Kraft?

Bar-Gera: Ohne meine Kinder und ohne den Förderverein des Museums, der sich um Sponsorengelder kümmert, hätte ich das nicht geschafft. Leider erlebt mein Mann nicht mehr die Umsetzung unseres Traums vom Museum. Er war der Motor dieser Idee. Er war auch der Geschäftsführer des Fördervereins, der mit Persönlichkeiten wie Fritz-Theo Mennicken, Paul Spiegel, Bassam Tibi, Armin Müller-Stahl und Henrik Hanstein besetzt ist. Aber sicherlich war auch mein eigenes Verfolgungsschicksal eine große Motivation für mich. Mein Mann und ich waren Kinder des Krieges, wir waren beide verfolgt und so habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, verfolgten Künstlern die Ehre zu erweisen.

Das Gespräch führte unser Mitarbeiter Klaus Brath.
Weitere Informationen: www.verfolgte-kunst.com

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Literarische Enteignung

Jakob Littners "Aufzeichnungen aus einem Erdloch"

BuchcoverLittner

In Budapest geboren und dank der Herkunft des Vaters mit polnischem Pass versehen, kam Jakob Littner 1912 nach München, das für siebenundzwanzig Jahre seine Heimat werden sollte. Im Zentrum baute er ein weit über die Stadt hinaus renommiertes Briefmarkengeschäft auf, bis Hitlers Verfolgungs- und Vernichtungsmaschinerie auch ihn traf. Er überlebte versteckt in Polen. Seine Überlebensgeschichte erschien 1948 unter dem Titel „Aufzeichnungen aus einem Erdloch“, blieb aber über Jahrzehnte ebenso unbekannt wie Littner nach dem Krieg selbst. Erst als in den letzten Jahren ein Streit um die Urheberschaft des Werkes entstand, rückte das Los des 1948 in die USA emigrierten Münchner Geschäftsmannes in den Blickwinkel einer breiteren Öffentlichkeit.

Was war der Auslöser? Der Schriftsteller Wolfgang Koeppen, von Marcel Reich-Ranicki als eine der wenigen herausragenden Persönlichkeiten der deutschen Nachkriegsliteratur geschätzt, veröffentlichte 1992 bei Suhrkamp nach einer Schaffenspause von vierundzwanzig Jahren den Titel „Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch“. Koeppens 1991 dazu verfasstes Vorwort suggerierte seine Autorenschaft. Ein Jude habe dem Verleger Kluger erzählt, was ihm widerfahren war. „Der Verleger hörte zu, er notierte Orte und Daten. Der Entkommene suchte einen Schriftsteller. Der Verleger berichtete mir das Unglaubliche. Ich hatte es geträumt. Der Verleger fragte mich: ,Willst du es schreiben‘? Der misshandelte Mensch wollte weg, er wanderte aus nach Amerika. Er versprach mir ein Honorar, zwei Carepakete jeden Monat. Ich aß amerikanische Konserven und schrieb die Leidensgeschichte eines deutschen Juden, Da wurde es meine Geschichte.” Für Wolfgang Benz, den Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung in Berlin, ein unglaublicher Vorgang. Denn nach neueren Erkenntnissen steckt dahinter eine Zwangsenteignung ganz besonderer Art. Koeppen stilisierte sich zum Verfasser, wo er vom Verleger Kluger fünfundvierzig Jahre zuvor nur als Lektor verpflichtet worden war. Der wirkliche Autor Littner wurde zum Stichwortgeber herabgesetzt, verwandelte sich quasi in eine fiktive Romanfigur. Roland Ulrich, der als Realschullehrer in Greifswald lebt und dort das Koeppen-Archiv betreut, verfolgte gemeinsam mit dem Literaturwissenschaftler Reinhard Zachau die Spuren Jakob Littners und seines Manuskriptes in Deutschland wie in den Vereinigten Staaten. Das Ergebnis ihrer Recherchen und vor allem das Urmanuskript veröffentlichten sie im Berliner Metropol-Verlag unter dem Titel „Mein Weg durch die Nacht. Mit Anmerkungen zu Wolfgang Koeppens Textadaption”. Der von seinen sonstigen Werken – erinnert sei an „Tauben im Gras“ und „Tod in Rom“ – abweichende Schreibstil Koeppens war ein erster Hinweis. Der genaue Textvergleich ergab dann Diskrepanzen, die tief in den Inhalt hineinreichten.

Buchcover

Offenbar mochte Koeppen den Zeitzeugen Littner kein bisschen. Er verstand nicht, dass jener versuchte, erneut in München Fuß zu fassen. Littner wiederum, der Deutschland 1948 Richtung New York verließ, soll auf Koeppens schon damals eigenwillige Texteingriffe unmissverständlich ablehnend reagiert haben. Wie sollte Littner, den tiefes Gottvertrauen auszeichnete, sich in Koeppens Bogen von Hadern, Bekehren und schließlich im Gestus des Verzeihens wiederfinden?

Vergleicht man die Urfassung, die sich im Nachlass Littners bei dessen Stiefsohn Richard Korngold in Washington fand, mit Koeppens Version, dann erweist sich jede seiner entstellenden „Textverschlechtbesserungen“ als völlig überflüssig. Littner war sehr wohl in der Lage gewesen, seine Verfolgungserfahrungen und das monatelange Vegetieren mit seiner späteren Frau Janina und deren Sohn Richard in einem Kellerloch anschaulich zu Papier zu bringen. Um den Text als eigenes Werk erscheinen zu lassen, musste Koeppen Widmung und Vorwort des Urhebers unter den Tisch fallen lassen. Littner wollte, dass „der Reinerlös aus dieser Ausgabe elternlos gewordenen jüdischen Kindern zugute kommen sollte“.

Auch seine Beweggründe mussten eliminiert werden. Littner „wollte erstens feststellen, dass Gut und Böse überall eng auf dieser Welt zusammen wohnen und dass, wo der dunkelste Schatten des Bösen fällt, sich dicht daneben das hellste Licht des Guten ausbreitet“. Und dann fuhr er fort: „Zum anderen hielt ich es für meine heilige Pflicht, all den Unzähligen und Namenlosen, sowie all denen, die ihre edle Gesinnung bewiesen haben, einen Gedenkstein zu setzen.“ Höchsten jüdischen Tugenden, nämlich Zedaka, Jiskor we Zachor, Wohltätigkeit, Gedenken und Erinnern, hatte sich Jakob Littner – kaum selbst der Vernichtung entronnen – unbeirrt verpflichtet gefühlt.

Wie verzweifelt muss Koeppen gewesen sein, trotz einer offenkundig schon Jahre währendenSchreibblockade, seinem Hausverlag ein publikationsfähiges Œuvre eines anderen, versehen mit einigen nicht gerade förderlichen Bearbeitungen, vorzulegen? Oder wie skrupellos? Wer sich für diese Enteignungsgeschichte eines jüdischen Überlebenden und die Versuche der Ehrenrettung eines nichtjüdischen deutschen Schriftstellers mit dem Argument künstlerischer Freiheit und Kreativität interessiert, der sollte beide Fassungen simultan lesen. Diese Lektüre erweist sich als Literaturkrimi ganz eigenwilliger Art. Die angesehene Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger, eine gebürtige Wienerin, die Auschwitz überlebte und nach der Befreiung ebenfalls in die USA auswanderte, hat Koeppens Version als „arische Chuzpe“ bezeichnet. Er habe daraus „weinerliches Versöhnungspathos“ gemacht. Eine solche Fälschung könne keine große Literatur sein.

Miryam Gümbel

Jakob Littner: Mein Weg durch die Nacht. Mit Anmerkungen zu Wolfgang Koeppens Textadaption.

Herausgegeben von
Roland Ulrich und Reinhard Zachau. Metropol Verlag, 2002, 245 S.,18.– Euro (D)
Wolfgang Koeppen: Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch. Roman. Mit einem Nachwort von Alfred Estermann. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 2002, 192 S., 20,50 Euro(A)

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belauscht und beobachtet

Ihre enge und freundschaftliche Beziehung zu Lea und Yitzhak Rabin unterstrich Fini Steindling mit der Errichtung eines Seminarraumes im Mendel Institute of Jewish Studies, der Lea Rabin gewidmet ist. Frau Steindling ist seit vielen Jahren eng mit der Hebrew Universität verbunden, bereits 1986 wurde auf ihre Initiative im Andenken ihres verstorbenen Mannes der Dolly Steindling Fund errichtet, der der Erforschung des lateinamerikanischen Raumes dient. Das Mendel Institute, das sich im Yitzhak Rabin Haus der Universität Jerusalem befindet, setzt sich in seinen verschiedenen Abteilungen vor allem mit jüdischer Identität in unserer heutigen Welt mit seinen säkulären wie auch mit seinen religiösen Haltungen auseinander. Ein intensiver Dialog zwischen Juden untereinander, aber auch mit anderen Kulturen, prägt das vielseitige Programm dieser weit über die Grenzen Israels angesehenen Anstalt. Lea Rabins Anliegen war, das ganz im Sinne ihres ermordeten Mannes begonnene Gespräch mit den Palästinensern weiterzuführen. In einem sehr würdevollen Akt wurde dieser Raum nun seiner Bestimmung übergeben und es bleibt zu hoffen, dass viele positive Impulse für die Zukunft dort entstehen.

Der Festsaal im Rathaus war bis zum letzten Platz gefüllt als es am Freitag Nachmittag vor Pfingsten galt, Primarius Dr. Joseph Ides, ärztlicher Leiter des Geriatriezentrums Klosterneuburg, und Univ. Prof. Dr. Arnold Pollak, Vorstand der Pädiatrischen Abteilung am AKH, zu ehren. Gesundheitsstadträtin Primaria Dr. Pittermann überreichte beiden verdienstvollen Ärzten das goldene Ehrenzeichen für Verdienste um das Land Wien. Es war fast ein Familienfest, viele Vertreter der Kultusgemeinde waren gekommen um sich mit den beiden Geehrten zu freuen. In Anwesenheit des Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde fand die Stadträtin auch sehr scharfe Worte gegen die Einstellung der Regierung gegenüber den Existenzsorgen der Kultusgemeinde und gegenüber dem Umgang mit Österreichs Vergangenheit in der Zeit der Naziherrschaft. Beide Geehrten dankten in bewegten Worten.

Primarius Dr. Ides hat unter seiner Leitung das Geriatriezentrum in Klosterneuburg zu einem Ort der Begegnung gemacht, der Spitalsalltag wird oft durch Veranstaltungen unterbrochen für die Patienten und deren Angehörige, und es ist ihm gelungen ein motiviertes und engagiertes Team um sich zu scharen, das auch mit Projekten internationale Preise erringt. Als Vizepräsident der Hadassah International Medical Relief Association hat er eine Gruppe von Experten vor einigen Jahren auch nach Israel geführt.

Univ. Prof. Dr. Arnold Pollak ist der Vorstand der Universitätsklinik für Pädiatrie am AKH, seine wissenschaftlichen Arbeiten sind in vielen internationalen Fachzeitschriften publiziert und er genießt großes Ansehen im In- und Ausland. Besonders seine Forschungen der pränatalen Entwicklungen fanden große Anerkennung. Anwesend eine Schar dankbarer Eltern und eine große Anzahl prominenter Kollegen, so sah man den Dekan der medizinischen Fakultät, Prof. Dr. Wolfgang Schütz, den Onkologen Prof. Dr. Christoph Zielinsky, Primarius Dr. Thimothy Smolka und noch viele mehr.

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Letzte Änderung: 03.01.2012
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