Die arabische Welt wurde in den letzten Wochen vom einem demokratischen Fieber erfasst. Von 82 Kandidaten konnte man den besten wählen. Freilich ging es hier nicht um Parlamentsabgeordnete, sondern um die arabische Version der Fernsehshow „Deutschland sucht den Superstar“. Zum zweiten Mal organisierte der libanesische Sender „Al-Mustakbal“ in Beirut einen Gesangswettbewerb. Etwa 40.000 Kandidaten aus der ganzen arabischen Welt hatten sich um den ersehnten Titel beworben. Allen Leiden der israelischen Besatzung zum Trotz war in den drei Wochen vor der Endrunde in der Westbank und dem Gazastreifen von kaum etwas anderem mehr die Rede: ein Palästinenser, Ammar Hassan, 26 aus Salfit, mutierte zu einem Nationalsymbol, als er und ein libyscher Sänger zu den Finalisten des Wettsingens wurden. Zehntausende verfolgten den Wettbewerb auf Riesenleinwänden, die in öffentlichen Plätzen aufgestellt wurden.
Ein zentraler Grund für die Popularität des Programms war seine demokratische Aufmachung. Im krassen Gegensatz zum arabischen Alltag, in dem nur privilegierte Gruppen das Sagen haben, konnte hier jeder teilnehmen. Um seine Stimme hörbar zu machen brauchte man nicht Beziehungen sondern Talent. Die Massen genossen ihr Mitbestimmungsrecht: per SMS oder e-mail konnten sie ihren Kandidaten in die nächste Runde katapultieren. In einer Welt, in der man in Präsidentschaftswahlen nur einem einzigen Kandidaten entweder mit einem großen „Ja!“ oder kleinem „nein“ zustimmen darf (das Endergebniss liegt immer bei 99%), war das Kopf an Kopf Rennen der Titelanwärter für die Massen ein spannendes Novum. Eifrig versendete man in der ganzen arabischen Welt Kurznachrichten, um seinen Favoriten quasi mit den eigenen Telefontasten in die nächste Runde durchzudrücken. Die palästinensische Telefongesellschaft verbilligte den SMS-Tarif, um so das Nationalsymbol zu unterstützen. Dank der allgemeinen Aufmerksamkeit wurde der Wettbewerb der Künstler schnell zum Politikum. Präsident Arafat wie der libysche Staatschef Ghaddafi traten persönlich für ihren Kandidaten ein. Die Organisatoren sprachen von ihrer Hoffnung, dass bald die Demokratie in der arabischen Welt auch in anderen Gebieten Einzug halten würde.
Vielleicht war es gerade diese demokratische Natur des Trubels, die den starken reaktionären Kräften im Nahen Osten an diesem Wettbewerb so missfiel. Die Hamas veröffentlichte ein Pamphlet, das den Gesangswettbewerb verurteilte: „Unser Volk braucht Helden und Kämpfer, nicht Sänger und solche, die unsere Moral korrumpieren.“ Zur selben Zeit, da Millionen von Arabern die Popdemokratie übten, machte Syrien deutlich, was es von Selbstbestimmung hält. Wie libanesische Zeitungen entrüstet berichteten, zitierte der ranghöchste syrische General in Beirut, Rustum Ghazale, den libanesichen Premier Rafik Hariri zu sich ins Büro, um ihm Anweisungen für die anstehenden Präsidentschaftswahlen zu geben. Syrien sieht im Libanon eine Provinz „Großsyriens“ und unterhält in Beirut deswegen keine Botschaft. Stattdessen ist seit Juli 1976 eine Besatzungsmacht syrischer Soldaten, heute etwa 20.000 Mann, dort stationiert.
Zu einer Zeit, in der der deutsche Außenminister Joschka Fischer den Libanon besuchte und betonte, dass der Staat unabhängige Entscheidungen fällen müsse, wies General Ghazale Premier Hariri an, die libanesiche Verfassung umgehend zu verändern. Die Veränderung soll eine Verlängerung der Amtszeit des amtierenden Präsidenten Emil Lahoud um drei weitere Jahre ermöglichen. Lahoud ist als Handlanger Syriens im Libanon bekannt. Die Einmischung hat einen Präzedenzfall: auch für den Vorgänger Lahouds, Elias Harawi, wurde der Artikel 49 der Konstitution auf das Drängen der Syrer hin verändert, und dessen Amtszeit verlängert. Das Gespräch mit Ghazale verursachte bei Hariri eine sofortige Meinungsänderung: Nachdem er monatelang gegen Lahoud gewettert hatte, trat er nun für den Lakaien der Syrer ein.
Die rohe Einmischung könnte sich für den unerfahrenen syrischen Präsidenten Baschar Assad als schwerer Fehler erweisen: für die USA bot sie einen willkommenen Anlass, das Regime in Damaskus international zu entblößen. Syrien befindet sich in Washington auf der schwarzen Liste der Staaten, die den Terror unterstützen. Dort nimmt man an der syrischen Unterstützung irakischer, palästinensischer und libanesischer Extremisten Anstoß. So brachten die USA und Frankreich, Schutzmacht der libanesischen Christen, die andauernde Besatzung Libanons vor den UN-Sicherheitsrat und erzielten die Verabschiedung der Resolution 1559. Sie fordert den „Abzug aller fremden Truppen aus dem Libanon“ und unterstützt „faire und freie Präsidentschaftswahlen im Einklang mit der libanesischen Konstitution und frei von fremder Einmischung“.
Empört wies der syrische Botschafter Faisal Mekdad die Resolution zurück: „Sie wird keinen Einfluss auf den Libanon haben und stellt eine Einmischung in die internen Angelegenheiten dar.“ Mekdad sollte Recht behalten. Noch am folgenden Tag verabschiedete das libanesische Parlament mit 96:29 Stimmen die Veränderung der Konstitution und verlängerte Lahouds Amtszeit um drei Jahre. Vorher war das Parlament in einem Radius von einem Kilometer von Sicherheitskräften abgeriegelt worden, die Abstimmung erfolgte namentlich. Ein Abgeordneter stellte entrüstete fest: „Libanon ist ein totalitärer Polizeistaat geworden.“
Der Sender „Al-Mustaqbal“, Privatbesitz des Premiers Hariri, bietet den Arabern etwas, das der Eigentümer seinen Wählern nicht geben kann: Mitbestimmungsrecht. Der Name des Senders ist bezeichnend: „Al-Mustaqbal“ bedeutet auf arabisch „Zukunft“. So werden die Araber in Anbetracht der Rückschläge in einem der modernsten arabischen Staaten noch auf lange Zeit nur ihre Popstars wählen dürfen. Politische Entscheidungen bleiben weiter den totalitären Potentaten vorbehalten.
Gil Yaron
Der Wahlkampf in Amerika nähert sich dem Höhepunkt und die diversen ethnischen und religiösen Gruppen, die diesmal mehr als je zuvor den Wahlausgang entscheiden werden, analysieren geradezu täglich jedes Wort, das die Haltung der Kandidaten zu den Fragen betreffen, die ihren Wählern besonders am Herzen liegen. Amerikas Juden, die nur 2.5 Prozent der Wähler stellen, dennoch in Schlüsselstaaten wie Florida, Pennsylvania, Ohio oder Illinois das Wahlergebnis wesentlich beeinflussen können, legen Wert auf Unterstützung Israels, wie auf Förderung religiöser Freiheit und Toleranz; hispanische Wähler, deren Anzahl von Jahr zu Jahr rapide ansteigt, sind an Fragen der Einwanderung aus Lateinamerika oder Legalisierung der Millionen illegaler Migranten aus ihren einstigen Heimatländern interessiert. Evangelisch-amerikanische Christen, die gleichfalls Millionen Wähler stellen, interessieren sich für Probleme, mit denen die amerikanische Gesellschaft nie zuvor in einer Weise konfrontiert war wie heute: Abtreibungen, Eheschließungen unter Homosexuellen und Lesben, die Rolle der Religion in der Gesellschaft und dergleichen mehr. Und die moslemischen Wähler? Kein Zweifel, sie haben allen Grund die Wahlen vom 2. November 2004 mit größtem Interesse zu verfolgen. Der 11. September und die dem Angriff auf Amerika folgenden Ereignisse, die Schaffung eines spezifischen Amtes für Heimatschutz und die Sicherheitsmaßnahmen, unter denen moslemische Amerikaner speziell zu leiden haben, steigerten ihre regierungskritische Haltung ebenso wie die eindeutig pro-israelische Politik der Bush-Administration. Während bei den letzten Wahlen die meisten Moslems für George W. Bush gestimmt haben, ist unter ihnen seither angeblich ein Stimmungsumschwung eingetreten.
Aber ganz genau weiß keiner, wie die „moslemischen Wähler” denken; es gibt sogar Zweifel an der Existenz eines kohärenten Wählerblocks moslemischer Amerikaner, die gemeinsame Ziele und Ideen verfolgen und sich für den oder jenen Kandidaten entschieden haben. Wenn man dem Sprecher einiger moslemisch-amerikanischer Organisationen Glauben schenkt, stehen das Schicksal der Palästinenser und der Widerstand gegen den Krieg im Irak im Vordergrund des Interesses. Bei näherer Untersuchung der Lage kommen aber Zweifel an solch simplen Erklärungen der wichtigsten Interessen der amerikanischen Moslems auf. Es stellt sich heraus, dass viele unter ihnen größeren Nachdruck auf ihre Ethnizität oder nationale Identität, denn an Religion legen.
Dem Durchschnittsamerikaner schwebt im Zusammenhang mit dem Begriff „amerikanischer Moslem” automatisch das Bild eines bärtigen Arabers, oder einer Araberin im Hijab, der traditionellen Kopfbedeckung besonders religiöser Frauen, vor Augen. In Wirklichkeit ist die erdrückende Mehrheit amerikanischer Moslems Nicht-Arabisch. Sie bestehen teils aus weißen, von ihrem Christentum enttäuschten Konvertiten, aus schwarzen Afroamerikanern, Immigranten aus Sub-Sahara-Afrika, südostasiatischen Ärzten und Physikern, aus tscherkessischen Polizisten und Menschen aus mehr als einem Dutzend verschiedener anderer Länder und Regionen. Ihre religiöse Tradition reicht vom intoleranten Wahabbismus saudiarabischer Art, einer ganzen Reihe sufischer Gruppen, bis zu Säkularen und Ismailis, die Israel bewundern und die totalitären Regime Arabiens ablehnen; von Biertrinkern bis zu resoluten Teetrinkern, von Anhängern moderner Musik und sexuell expliziter Filme, bis zu prüden Moralisten.
Weder schiitisch-irakische Einwanderer in Michigan, noch nominell sunnitische Kurden lehnen den Krieg im Irak ab, sind viel mehr glücklich über die Beseitigung des mörderischen Saddam-Regimes. Amerikanische Moslems sind kulturell wie geografisch so differenziert wie Albanien und Bangladesch; die Albaner sind vielmehr an den Geschehnissen am Balkan und der Entwicklung in Kosovo als an der palästinensischen Intifada und dem Widerstand der Mahdi-Armee im Irak interessiert. Auch die tscherkessische Gemeinschaft, obwohl treu dem Islam ergeben, predigt einen toleranten Islam und unbegrenzte Loyalität gegenüber Amerika. Die Tscherkessen und einige andere kleine Gruppen bieten das geradezu ideale Bild eines multi-ethnischen Amerika und blieben der Tradition des Dienstes in der Polizei und den bewaffneten Kräften der USA treu.
Das „moslemische Amerika” ist ethnisch wie religiös weit vielschichtiger als es die von saudiarabischen Financiers unterstützten Imams in den Wahabbi-Moscheen des Landes wahrhaben wollen. Sie umfassen Türken, die sich in der Synagoge ihrer jüdischen Freunde besser fühlen würden als in einer Salafi-Moschee; algerischen Einwanderern, die in den frühen 90-er Jahren vor dem Barbarentum islamischer Extremisten geflüchtet waren; aus Iranern, die vor dem Khomeinismus in ihrer Heimat in Los Angeles Zuflucht fanden und von dort aus die zunehmend lebhafte Studentenrevolte gegen das herrschende Regime der Mullahs in Teheran organisieren und unterstützen.
All das kann und soll die Realität eines radikalen, finanziell einflussreichen und potentiell gefährlichen Islam in Amerika nicht verdecken. Mitglieder der Moslemischen Bruderschaft, Anhänger von Hamas und anderer extremistischer Organisationen haben das amerikanisch-islamische Establishment durchsetzt, schufen angeblich karitative Organisationen, die de facto den Terror mitfinanzierten, agitieren in den Universitäts- Campusen und predigen der jungen moslemischen Generation Islamismus, Intoleranz, Hass gegen Israel und das amerikanische politische System. Die beachtliche Anzahl von Anklagen, die in jüngster Zeit gegen eine Reihe amerikanisch-islamischer Funktionäre wegen Terrorbeihilfe erhoben wurden, ist beängstigend. Sie erweckt den Eindruck, dass auch in der amerikanisch-islamischen Gemeinschaft der radikale Islamismus an Boden gewonnen hat.
Ob das den Wahlausgang in irgendeiner Weise beeinflussen kann, ist allerdings fraglich. Denn John Kerry hat nicht nur für den Irakkrieg gestimmt, sondern er lehnt auch einen vorzeitigen Rückzug amerikanischer Truppen ebenso ab wie George Bush. Und was Israel betrifft, unterscheiden sich die Äußerungen John Kerrys in nichts von jenen des derzeitigen Präsidenten. Bleibt der chancenlose Alternativkandidat Ralph Nader. Der ist nicht nur libanesischer Abstammung, sondern auch ein Kritiker Israels, das er als den „Puppenspieler von Washington“ bezeichnet. Welcher Prozentsatz der echten Islamisten unter den Moslems in den USA Wahlrecht besitzt und welcher Prozentsatz davon auch Gebrauch machen wird, dafür gibt es keine verlässlichen Daten.
Zeev Barth
Die 42. Viennale – ein Fimfestival der Superlative. Noch nie wurden so viele Filme aus so vielen Ländern gezeigt.
Neu sind die „Propositions“ – mit zwölf innovativen (Spiel-, Dokumentar- oder Avantgarde-)Filmen –, die das Hauptprogramm deutlicher konturieren und strukturieren. Unter dem Titel „Working Class“ findet erstmals eine Reihe von drei bis vier Filmlectures statt, die heuer von Jean-Pierre Gorin gehalten werden.
Hier finden Sie eine Auswahl von Filmen mit jüdischen Themen
1921 als Sohn assimilierter Juden in Wien geboren, erlebt Amos Vogel als Kind und Jugendlicher die Jahre des
Bürgerkriegs und aufkommenden Faschismus, ehe er Ende der 30-er-Jahre gezwungen ist, auf der Flucht vor der Barbarei seine Heimatstadt zu verlassen und in die Vereinigten Staaten zu emigrieren. Nach einer ersten schwierigen Zeit des Exils in den USA beginnt Vogel zu studieren, um schließlich seine ganze Leidenschaft und Energie dem Kino zuzuwenden, mit dem ihn seit seinen Wiener Tagen eine große Liebe verbindet.
Gemeinsam mit seiner Frau Marcia begründet Amos Vogel 1947 in New York den Filmclub CINEMA 16 (die Zahl 16 leitet sich vom 16mm-Filmformat ab), der sich innerhalb kurzer Zeit zur größten und einflussreichsten Institution für die Präsentation von nicht-kommerziellem Kino in den Vereinigten Staaten entwickelt. Dieser legendäre Filmvorführungsraum besteht bis heute, wenn auch jetzt als Teil einer Schule. Das Programm bestand in der Regel aus einem Mix von Experimental-, Dokumentar-, Spielfilmen und auch rein wissenschaftlichen und politischen Filmen.
Vogels ungeteilte Aufmerksamkeit gilt dem Film als autonome, künstlerische, nicht auf Gewinn orientierte Ausdrucksform in all ihren Ausprägungen, vom avantgardistischen Kino über den Dokumentarfilm, vom historisch verkannten oder verachteten Kino bis hin zum neuesten, jungen internationalen Filmschaffen jener Jahre. Namen wie Kenneth Anger, John Cassavetes, Stan Brakhage oder Bruce Conner werden durch Vogels berühmte Filmpräsentationen in der amerikanischen und internationalen Öffentlichkeit zum Begriff, Regisseure wie Oshima Nagisha, Jacques Rivette, Roman Polanski, Michelangelo Antonioni oder Robert Bresson erstmals durch ihn in den USA vorgestellt. „Der Einfluss seines Wirkens auf die amerikanische Filmkultur der Jahre nach dem Krieg“, sagte Stan Brakhage einmal, „kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.“ Ob als Gründer und Leiter des New York Film Festivals Mitte der 60-er Jahre, als Kritiker für The Village Voice, Film Comment und The New York Times oder als Autor des legendären Buches Film as a Subversive Art, Amos Vogel fungierte über Jahre hinweg als kompromissloser und leidenschaftlicher Verteidiger und Go-Between für ein neues, unabhängiges Kino.
Als Würdigung widmet die VIENNALE Amos Vogel eine umfassende Hommage und zeigt eine Auswahl von rund 20 Kurz- und Langfilmen – ausgewählte Arbeiten von Elliott Erwitt, Stan Brakhage, Gunvor Nelson, Michelangelo Antonioni, Dimitri Kirsanoff, Jerzy Skolimanowski, James Broughton, Basil Wright, Dusan Makavejev, Willard Maas, Werner Herzog und anderen– die für jenes wunderbar reiche, unorthodoxe Weltkino stehen, dem Vogel mit zur Geltung verholfen hat, das er leidenschaftlich unterstützt und bis heute liebt.
Nino und Dudu, ein Palästinenser und ein Israeli, sind zwei junge Stricher und Dealer, die im sogenannten „Electricity Garden“ in Tel Aviv arbeiten. Der Film dokumentiert über ein Jahr lang ihr aufreibendes Leben, ihre Realität, ihre Freundschaft. Sie lernten einander 2002 bei Straßenkämpfen kennen, bei denen sie auf gegnerischer Seite kämpften. Beide waren mit Missbrauch durch ihre Familie, also privater Gewalt, konfrontiert, mit der alltäglichen gesellschaftlichen und politischen im Krisengebiet des Nahen Osten ohnedies, und beide entschieden sich für ein mit Prostitution finanziertes Leben auf der Straße. Blutsbrüder, deren Loyalität, die sie von anderen kaum jemals erfahren haben, zueinander weit geht: Nino wird wegen Kollaboration mit Israel zum Tode verurteilt und flieht aus dem Gefängnis.
Nino und Dudu sind beide Überlebende, die durch ihre Intelligenz, ihren Witz und ihren Durchsetzungswillen Anführern der Community in „Electricity Gaden" werden. Deutlich wird ihre Sehnsucht, dem gar nicht paradiesischen Garten (Gan auf Israelisch) zu entkommen, aber auch die Schwierigkeiten, sich dem Reiz des schnellen Geldes und der ambivalenten Dynamik von Freiheit und Unsicherheit zu entziehen.
Der junge Rajai ist Taxichauffeur in Palästina und verdient seinen Lebensunterhalt, indem er seine Passagiere zwischen Jerusalem und Ramallah auf Umwegen und über staubige Bergstraßen ans Ziel bringt und dabei Kontrollen und Straßensperren umgeht. Der Film begleitet Rajai auf seinen Fahrten, gibt die Gespräche seiner Passagiere wieder und liefert so eine packende Momentaufnahme des Alltags im Westjordanland. Wir erfahren seine Ansichten über die Intifada, über Selbstmordattentäter und über das Leben allgemein. Dazu kommen die Meinungen seiner Fahrgäste, darunter einfache Leute, aber auch Politiker wie die Palästinenserin Hanan Ashrawi, der Filmemacher B. Z. Goldberg und andere.
Die «Kultur der Strassensperren» oder wie ein ganzes Volk, das sich nicht mehr frei bewegen kann, Fahrten von Ort zu Ort planen muss. Der Film könnte das Hauptbeweisstück einer geopolitischen oder soziologischen Untersuchung sein. Er zeigt uns, wie die Leute sich anzupassen wissen und lernen, mit diesem scheinbar einfachen, doch in den besetzten Palästinensergebieten ungeheuer komplizierten Faktum zurechtzukommen. In diesem Land ist die Gerade nicht mehr die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten.
Der Film spielt im Jahr 1981 in Jerusalem. Rachel Gerlik, eine zweiundvierzigjährige Witwe und Mutter von zwei halbwüchsigen Töchtern, möchte sich dem Gründungskomitee einer neuen religiösen Vereinigung anschließen. Aus diesem Grund soll sie erneut heiraten, um den Komiteemitglieder zu beweisen, dass sie und ihre Töchter den religiösen und ideologischen Anforderungen der Gruppe genügen.
Während Rachel sich auf die Suche nach einem neuen Ehemann macht, um dem Komitee ihren Idealismus zu beweisen, unternimmt ihre Tochter alles, um den guten Ruf ihrer Mutter zu ruinieren, während die jüngere Tochter, Tami, sich bemüht, den Erwartungen ihrer Mutter gerecht zu werden. Während eines nächtlichen Lagerfeuers mit einigen Jungen aus ihrer Jugendgruppe wird Tami vergewaltigt und später beschuldigt, kokett und promisk zu sein.
Als in der Nachbarschaft Gerüchte über den Vorfall mit Tami zu kursieren beginnen, sieht Rachel sich gezwungen, eine Entscheidung zu treffen und die Geschichte entweder zu vertuschen, wie es die Angehörigen der Glaubensvereinigung von ihr verlangen, oder die Ehre ihrer Tochter wiederherzustellen. Zur gleichen Zeit verliebt sie sich in Yossi, einen fünfzigjährigen Junggesellen, der auf dem Standpunkt steht, dass ein Leben als Ausgestoßener nicht so schlecht ist wie es scheint.
Der Film erzählt eine Geschichte, die einerseits sehr persönlich ist, entwirft aber zugleich das Porträt einer politischen Bewegung, die das Leben von Millionen Menschen im Nahen Osten nachhaltig beeinflusst hat.
Das komplette Programm der Viennale finden Sie ab 1. Oktober auf der Homepage: www.viennale.at
Es ist schwer, sehr schwer, sich in diesem betäubenden Knäuel von Vieh und Menschen zurecht zu finden. Denn dieser Markt gliedert sich nicht nach den Gegenständen des Verkaufs, hier gibt es keinen besonderen Vieh-, Kleider- und Gemüsemarkt. Neben dem Wagen, auf dem der bärtige Lippowaner Äpfel feilbietet, steht ein Jude, der einen Haufen Sensen aufschichtet; daneben ist eine Garküche aufgeschlagen, weiterhin ein Zelt, in dem Tuch und Linnen verkauft wird, und zwischen dieser Schnittwarenhandlung und der ambulanten Restauration steht der Verkaufstisch eines Bilderhändlers und blökt eine Koppel Schafe – all dies hart nebeneinander; … Kurz, der Ringplatz von Barnow ist am Dienstag in der Tat ein Stapelplatz für die ganze Gegend.
Karl Emil Franzos
Gemälde von P. Levy, 1893 ©
Markttag in Barnow ist der Titel einer Erzählung aus dem zweiten Buch der Trilogie Aus Halb-Asien. Barnow, ein ödes, schmutziges Nest in einem gottverlassenen Winkel der Erde, in der podolischen Ebene in Ostgalizien, wo die ärmsten Menschen der Erde leben, unweit der russischen Grenze – dieses Barnow ist in Wirklichkeit Czortkow, woher auch der Schriftsteller Karl Emil Franzos selbst stammt. Im Revolutionsjahr 1848 als Sohn des dortigen Bezirksarztes geboren, lebte er bis 1859 in Czortkow, wo er die Klosterschule der Dominikaner besuchte. Nach dem Tod des Vaters übersiedelte er mit der Mutter nach Czernowitz, wo er mit Auszeichnung maturierte. Die Vorfahren väterlicherseits waren sephardische Juden aus Spanien, die auf Grund der Inquisition nach Frankreich ausgewandert waren. Franzos‘ Urgroßvater ging nach Polen, gründete in Tarnopol eine Kerzenfabrik und wurde nach der Teilung Polens österreichischer Staatsbürger. Der Teil Polens, den sich die Österreicher einverleibt hatten, war Galizien. Es war das ärmste Kronland der Monarchie, Heimat eines bunten Völkergemisches aus Polen, Juden, Ruthenen (wie die Ukrainer damals hießen), wenigen Deutschen und Armeniern. Jedes Volk sprach seine eigene Sprache und auch ein wenig die der anderen. Die Polen waren in der Überzahl, die Juden, vorwiegend fromme Chassidim, machten etwa 12 Prozent aus. Franzos‘ Vater war aufgeklärt, deutschnational, studierte in München und kehrte danach nach Galizien zurück, wo er auf Wunsch seines Schwiegervaters blieb. So war die Familie gesellschaftlich isoliert: Für die Juden waren sie vom Glauben Abtrünnige, für die Polen Deutschgesinnte.
Karl Emil wollte klassische Philologie studieren, hätte aber, um ein Stipendium zu bekommen, zum Christentum konvertieren müssen, wozu er ebenso wie sein Vater nicht bereit war. So studierte er Jura, ein weniger aufwendiges Fach, zunächst in Wien und dann in Graz. Wie sein Vater war auch er deutschnational, ohne seine jüdische Abstammung zu verleugnen.
Nach dem Studienabschluss zog Franzos nach Wien. Schon als Student verfasste er literarische Skizzen, schrieb für verschiedene Zeitungen Buchrezensionen und begann in der Neuen Freien Presse zu publizieren. In ihrem Auftrag reiste Franzos zwischen 1874 und 1876 häufig nach Galizien und in die Bukowina, nach Russland und Rumänien und publizierte in der Neuen Freien Presse seine Reiseeindrücke. 1876 erschienen diese Reisebilder als erster Teil einer Trilogie mit dem Titel Aus Halb-Asien, der die Kulturverhältnisse dieser Länder bezeichnen soll. Markttag in Barnow führt die Vielfalt dieses halb-asiatischen Lebens plastisch vor Augen:
Rechts vom Pfade, den wir uns selbst bahnen, hocken jüdische und ruthenische Weiber auf der Erde, jede inmitten ihres Krams von Viktualien. Und jede scheint überzeugt zu sein, dass wir dringendst einer Henne, einiger Eier oder doch mindestens einiger Knollen Knoblauch bedürfen, denn jede einzelne schreit uns mit durchdringender Stimme zu, dass just sie das Beste zu verkaufen hat, und die Rede schließt immer mit der Beschwörung: ‚Herr, du wirst doch nicht anderswo kaufen?!‘ Aber sosehr auch die Weiber lärmen, mögen sie nun mosaisch oder christlich sein, in dem, was sie brüllen und kreischen, unterscheiden sie sich doch.
Aus Halb-Asien wurde ein großer Erfolg; es wurde in fünfzehn Sprachen übersetzt. Ein eben so großer Erfolg wurde die ein Jahr später erschienene Novellensammlung Die Juden von Barnow. In beiden Werken geht es um die Missstände in der Donaumonarchie, die Judenfrage, die Unterdrückung nationaler Minderheiten, den Panslawismus und die Galizienmisere. Franzos weist unermüdlich auf die Rückständigkeit Halb-Asiens hin und tritt für wahre „Bildung“ und „Fortschrittlichkeit“ ein. Er ist nicht nur ein genauer Beobachter, sondern auch ein scharfer Kritiker, der nichts beschönigt. Er kritisiert den Schmutz, den Alkoholismus, den Aberglauben, den christlichen Antisemitismus, besonders aber den jüdischen Fanatismus.
Franzos‘ bedeutendstes Werk ist der Pojaz, der aus ungeklärten Gründen erst posthum 1905 erschien, obwohl er ihn, nach jahrelanger Arbeit, bereits 1893 vollendete.
‚Gott‘, sagt er, ‚Ewig schad‘, dass dieser Mensch ein Fuhrmann bleibt!‘ Ich lach‘: ‚Prinz oder Wunderrabbi wär‘ ich auch lieber!‘ sag ich. ‚Ich kenn‘ etwas anderes‘, erwidert er, ‚was dir vielleicht das Liebste wär‘ – Komödiant!‘ ‚Was heißt das?‘ frag‘ ich. ‚Das weißt du nicht?! So nennt man die Menschen, die im Theater die närrischen Leut‘ spielen, über die man lachen muss.‘ ‚Was ist ein Theater?‘ frag‘ ich weiter. ‚Man sollt’s nicht glauben‘, ruft er erstaunt, ‚wie sehr die Polnischen zurück sind!‘
Der Pojaz ist ein Entwicklungsroman, der die Geschichte des Judenjungen Sender Glatteis erzählt, der fern moderner Bildung in Barnow, im ostgalizischen Getto heranwächst. Sender ist der Sohn eines im Straßengraben umgekommenen Schnorrers, der von der störrischen und hässlichen Rosel Kurländer als ihr eigener Sohn großgezogen wird. Nach alter Gettotradition möchte sie ihn zu einem fleißigen und frommen Handwerker erziehen. Doch schon als Kind kopiert er die ruthenischen Fuhrleute und seine jüdischen Lehrer so naturgetreu, dass er den Beinamen Pojaz erhält, die jüdische Form von Bajazzo.
Der Greis fragte den Knaben, warum er nicht lernen wolle, und erhielt darauf die keckste und possierlichste Antwort. Da setzt sich das Bürschlein an den Tisch und kopierte jeden seiner unglücklichen Erzieher so getreu mit allen Arten und Unarten, dass der alte Mann vor ungemeinem Staunen gar nicht zum Lachen kam. Es war kein bloßes Nachäffen, wie man es von ungezogenen Kindern häufig genug sieht, sondern dem Manne war’s, als sähe er da wirklich bald den Chaim Fragezeichen, bald den Naphtali Ritterstolz, bald den Schlome Rosenthal leibhaftig vor sich sitzen.
Sender durchläuft die strenge jüdische Schule, die er sich durch seine übermütigen Streiche zu erleichtern sucht, kommt zu einem Uhrmacher in die Lehre, wo er es nicht lange aushält, und wird schließlich Fuhrmann. So gelangt er eines Tages nach Czernowitz, wo er das entscheidende Erlebnis seines Lebens hat: ein Theaterbesuch. Er verschafft sich Zugang zum Direktor der Wanderbühne:
‚Zeig uns, wie du dir deinen Namen als Pojaz verdient hast‘. Ich nehme mir ein Herz und fang‘ an, meine Stücklein loszulassen – eins nach dem anderen. Der Herr schaut die Frau an, die Frau den Herrn, sie lachen nicht, wie sonst meine Zuhörer, aber dennoch glaube ich, dass es ihnen gefallen hat. ‚Genug‘, sagt endlich der Herr und fängt mit der Frau zu reden an. Es war aber Hochdeutsch, noch dazu ungemein schnell, ich habe sehr wenig davon verstanden. Endlich fragt mich der Herr: ‚Was meinst du selbst, Bursche, hast du Talent?‘ Das habe ich damals nicht verstanden, ich habe geglaubt, er fragt, ob ich einen ‚Talis‘ (Betmantel) habe. ‚Nein!‘, sag ich also. ‚Aber wenn ich heirate, so muss mir meine Braut einen schenken.‘ Sie sind erstaunt, dann lachen sie und der Herr fragt wieder: ‚Ich meine, ob du glaubst, dass du zum Komödianten taugst?‘ ‚Natürlich‘, sag ich. ‚Ich?! Glauben Sie mir, so hat noch nie ein Mensch dazu getaugt.‘
Der Direktor rät ihm, erst einmal richtig Deutsch zu lernen. Es ist aber fast unmöglich im chassidischen Barnow, an eine Fibel oder einen Dramentext heranzukommen. Jeder, der nur ein Wort Deutsch lesen kann, gilt sofort als Abtrünniger. Obwohl Sender all seine Kraft daran setzt, gelingt es ihm nicht, dem Getto zu entkommen und Schauspieler zu werden. Bei seinen Versuchen, Deutsch zu lernen, zieht er sich in der Klosterbibliothek die Schwindsucht zu und stirbt 22-jährig.
Franzos hat einige Novellen geschrieben, in denen die unglückliche Liebe, vor allem zwischen einem Juden und einer Christin oder einem aufgeklärten Juden und einem chassidischen Mädchen, eine wichtige Rolle spielt. Zum Beispiel Moschko von Parma, Judith Trachtenberg oder Leib Weihnachtskuchen und sein Kind. Moschko ist schon in seiner Jugend bärenstark und unterscheidet sich deshalb von den anderen blassen und schwächlichen jüdischen Kindern. Er wird Schmied, was ihm Schwierigkeiten mit den Chassidim einträgt, da das Schmiedehandwerk als unjüdisch gilt. So gerät er in ein unjüdisches Milieu und verliebt sich in die ukrainische Magd Kasia.
,Da ist nichts zu verzeihen, da ist nur zu danken. Aber ich bitte dich, tu dergleichen nie wieder. Und ich bitte dich, erzähle niemand, dass du mir einen Gefallen getan.‘ ‚Ich hätte ohnehin geschwiegen‘, sagte er. ‚Aber wissen möcht ich doch, warum du es ausdrücklich verbietest.‘ ‚Weil ich nicht vertrage, dass mich die Leute mit ihren dummen Reden mit einem Juden zusammenbringen!‘ … ‚Da hast du dich gestern bei dem Lysko nach mir erkundigt, und du weißt nicht, was das für ein boshafter Schwätzer ist. Und dann war der Hritzko dabei … Und da haben er und der Lysko mich heute geneckt. Deinetwegen, verstehst du! Und da habe ich mich sehr geschämt‘.
1887 übersiedelte Franzos von Wien nach Berlin, ein seit längerem geplanter Schritt, da sich das Schwergewicht seiner Verbindungen mehr und mehr nach Deutschland verlagerte. Auf Grund des immer stärker werdenden Antisemitismus wurde es für Franzos immer schwieriger, seine Werke zu publizieren. Die meisten Zeitungs- und Zeitschriftenredakteure erklärten ihm, dass sie in eine peinliche Lage kämen, wenn sie ein „judenfreundliches“ Werk für ihr Blatt akzeptieren würden. Nun gab er eine eigene Zeitschrift „Deutsche Dichtung“ heraus, in der die damals und noch heute bekanntesten Schriftsteller pubIizierten. U. a. Fontane, C. F. Meyer, Storm, Morgenstern und Stefan Zweig. In den letzten Jahren seiner Berliner Zeit wurde es stiller um ihn, obwohl er noch einige Erzählungen und Novellen veröffentlichte. Er pflegte auch eine reiche Vortragstätigkeit mit Themen aus Literatur und Kultur der osteuropäischen Länder und aus der deutschen Gettoliteratur. In seinen letzten Lebensjahren widmete er sich mehr der Literaturgeschichte. Er schrieb wichtige Arbeiten über Heine und Conrad Ferdinand Meyer. Zu erwähnen ist auch, dass Franzos 1879 die erste kritische Gesamtausgabe von Georg Büchner herausbrachte. Vor allem ist es sein Verdienst, als erster den Woyzek entziffert und publiziert zu haben. Karl Emil Franzos starb am 28. Jänner 1904.
Claudia Erdheim
Die Memoiren, geschrieben in den 1940-er Jahren in New York, wohin der aus Galizien stammende, heute zu Unrecht vergessene Schauspieler Alexander Granach vor den Nazis fliehen musste, gehören seit Jahren für Insider zu jenen wenigen kostbaren Büchern, „mit denen man leben möchte“ (Peter Härtling). Mit heiterer Schwermut, aber unerbittlichem Gedächtnis erzählt er von den Menschen in seiner alten und neuen Heimat, von Liebe, Schmerz und Tod und von seiner Leidenschaft zum Theater.
Granach, am 18. 4. 1890 in Werbowitz/ Galizien geboren, besann sich stets auf seine Wurzeln. Er war sich sicher, dass seine erste Begegnung mit dem jiddischen Theater 1905 in Lemberg (dorthin hatte er sich als Jugendlicher abgesetzt) über seinen Lebensweg entschied: „Hier, vor Deinen Augen, in drei kurzen Stunden, verändern sich Menschen und Welten und das ganze Leben“, schreibt er nieder. Und: „Das ist die Welt, wo ich hingehöre!“ Nie vergaß er, der Sohn des gläubigen Händlers und Bäckers Aaron Gronich, während seiner vielseitigen und abwechslungsreichen Karriere seine Herkunft, die Armut der Heimat und den dennoch tiefen Glauben der jüdischen Gemeinde. Es scheint, als hätte die ihm Religion geholfen, Abstand von den drückenden Verhältnissen zu gewinnen.
In der Tat, der jüdische Bäckerjunge aus dem galizischen Stetl hat sich mit grandioser Willensstärke und unerschöpflicher Neugierde hochgearbeitet bis zum genialen Schauspieler auf den großen Bühnen Berlins. Später würde er es noch einmal schaffen, in der Emigration, anfangs ohne Geld, aber mit dem Wissen um den richtigen Tonfall in die Herzen der – oft einfachen – Menschen.
Der richtige Tonfall ist es auch, der das Buch so zu Herzen gehen lässt. Hier die Beschreibung der Mutter von Alexander Granach: „[Die Mutter] war dem Vater alles: Weib, Geliebte, gebar jedes Jahr ein Kind, war Hausfrau, kochte und buk allein, wusch die Wäsche, bediente im Kramladen [...], grub den Garten um [...], und jeden Augenblick kam ein Balg gelaufen, zerrte am Rock und mahnte: Essen! [...] Auf ihr, der kleinen Mama, lastete doch alles.“
Früh sah er ein, dass er raus musste in die Welt, um sich seinen Platz zu suchen. Von Anfang an folgte er, trotz widriger Umstände, trotz strapaziöser und schwierigster Umwege, mit großer Ernsthaftigkeit und immensem Fleiß seinem Ziel, seiner Sehnsucht: Schauspieler zu werden. In einer jiddischen Laienspielgruppe wird er entdeckt von Hermann Struck, der ihn an Fritz Engel und Emil Milan empfahl. Dort ereignete sich etwas, was er nicht zu träumen gewagt hatte: er wurde Freischüler, erhielt kostenlosen Deutschunterricht, erarbeitete sich binnen kürzester Zeit ein Repertoire von zwanzig Rollen und wurde Max Reinhardt empfohlen.
„Die gelehrsamen Zitate aus Talmud und Thora“, so Rachel Salamander im Vorwort zu vorliegendem Buch, „die Fabelgestalten seiner Kindheit, die Spaßmacher und Possenreißer, die Purimspiele und die Wunderwelt des Stetls, den Geruch von Galiziens Erde mit seinen verträumten Wäldern, nahm er mit in die ‚überwirkliche Wirklichkeit’ auf die Bühnen der Metropolen. Das war der Nährboden seiner unwiderstehlichen Kraft, die sich auf alle, die ihm begegneten, übertrug.“
Vor Abschluss der Schauspielschule wurde ihm dort ein Fünfjahresvertrag angeboten, und nun arbeitete er mit Max Reinhardt intensiv Rolle für Rolle durch. Der Erste Weltkrieg unterbricht nicht nur die Laufbahn Granachs, sondern jegliche Theater-Ernte der Theater. Als Kriegsteilnehmer im österreichisch-ungarischen Heer kehrte er in dieser Zeit kurz
in die Heimat und zur Familie zurück. Dann wurde er doch noch abkommandiert, kam in die Nähe von Innsbruck, erlebte dort barbarische Schikanen, hielt sich aber aufrecht, indem er jedes Missgeschick gleichzeitig als Rolle ansah.
1918, nach dem Krieg, legte Granach seine Schauspielprüfung in Wien ab. Im gleichen Jahr landet er in München und tritt Engagements am Schauspielhaus München sowie an allen großen Bühnen Berlins an.
Hier endet leider die Autobiografie, in München, bei der Figur des Shylock, dem er unbedingt humane Züge verleihen wollte.
Lesen Sie den ganzen Artikel von Beate Hennenberg in der Printausgabe der Illustrierten Neuen Welt.
Alexander Granach: Da geht ein Mensch. Autobiografischer Roman. Ungekürzte, vollständig überarbeitete Neuausgabe. Mit einem Vorwort von Rachel Salamander, Ölbaum Verlag, Augsburg 2003, 386 S., Euro 24,70. Außerdem als Piper-Taschenbuch um Euro 12.30 erhältlich.
Wir alle wissen mehr darüber wie Juden starben als wie sie heute leben. Mit diesem Leitsatz machte sich der französische Ethnologe Frédéric Brenner auf den Weg, um jüdische Lebensformen auf der ganzen Welt fotografisch festzuhalten. Brenner, 1959 in Paris geboren, studierte Sozialanthropologie. Bereits mit 18 begann er mit dem Projekt: „Juden in der Diaspora“ und machte seine erste Fotografie zu Purim im Viertel Mea Schearim in Jerusalem. Fast 25 Jahre lang reiste Brenner durch mehr als vierzig Länder, wodurch erstmals das internationale Judentum von Argentinien über Hongkong bis Usbekistan umfassend dokumentiert wurde. Brenner veröffentlichte bereits mehrere Bücher zu seinem Lebensthema und hat seine Fotos international ausgestellt.
Unter dem Titel Diaspora: Heimat im Exil erschien im Knesebeck Verlag ein faszinierender Bildband mit 264 Aufnahmen sowie ein zweiter Band, der 60 Fotos aufgreift und in dem im Stil einer talmudschen Diskussion Intellektuelle wie Jacques Derrieda, Benny Lévy, Stephen Greenblatt, Elfriede Jelinek oder Carlos Fuentes zu Wort kommen. Außerdem nehmen porträtierte Juden aus der Diaspora – ein Genfer Bankier, eine äthiopische Immigrantin, ein amerikanischer Motorradfahrer sowie ein südafrikanischer Richter – Stellung zu den Bildern und Brenner selbst schildert seine Erfahrungen in den Gemeinden. Der Ethnologe zeigt in seinen Fotografien Juden zwischen Assimilierung und Sicherung der eigenen Identität, die Situation des Exils, des Nicht-zu Hause-Seins.
Einerseits greift er sehr ernsthafte Themen in erschütternden Fotografien auf (zum Beispiel Frauen, die aufgrund von Krebs eine oder beide Brüste verloren haben), andererseits setzt er Bildelemente humorvoll ein (der Spanier Salomon Medina sitzt zwischen Unterwäsche und Kinderbekleidung im Schaufenster seines Geschäftes). Ein Bild eines Deutschen, kombiniert mit einem mit einer Eisenbahnschiene, erinnert Michal Govrin an ihre Mutter, die ihr Kind nicht vor dem Abtransport nach Auschwitz schützen konnte. Dem Schriftsteller Robert Schindel stellt Brenner einen Ausschnitt des Heldenplatzes gegenüber, Elfriede Jelinek den Stephansdom. In einer New Yorker Installation wurden 39 reich verzierte Bilderrahmen neben- und übereinander geschichtet, wo unter vielen anderen Isaac Stern, Steven Spielberg, Betty Friedan, Philip Glass, Estée Lauder, Billy Wilder abgebildet sind, die teilweise gegen das Prinzip eines Rahmen auch aus diesem herausgreifen. Zwischen Kakteen und einem Gewächshaus des Botanischen Gartens in Brooklyn inszenierte Brenner schwule und lesbische Familien mit ihren Kindern. Die Abbildung oben zeigt die Seite 3 des ersten Bandes. Seine Fotografien sind sehr vielschichtig und laden – wie der Talmud – ein, jedes Fragment, jedes Bild als einen Text zu sehen, der zum Studium und Nachdenken auffordert. Die Bilder lassen genügend Raum für fantasievolle Assoziationen, die bei den BetrachterInnen hervorgerufen werden. Brenner ging in dem Projekt der Frage nach, wie sich Jüdischkeit erkennen ließe. Anfangs nahm er die archaischen Zeichen auf, um dies darzustellen. Er versuchte, die anschaulichsten Elemente jüdischen Brauchtums, welche die jeweilige Gruppe bewahrt hatte, aufzuzeigen. Er fand ein breites Spektrum von Ausdrucksweisen und Formen des Judentums. Je länger sich Brenner mit dem ethnografisch angelegten Projekt beschäftigte, desto mehr war er gezwungen, den Mythos vom „einen Volk“ aufzugeben und Identität aus Konstrukt anzusehen – je mehr Juden er traf, desto weniger wusste er aufgrund deren Individualität, wie ein Jude aussieht. Oder mit Kafka gesprochen: Was habe ich mit Juden gemeinsam? Ich habe kaum etwas mit mir gemeinsam.
Petra M. Springer
Frédéric Brenner: Diaspora. Jüdisches Leben heute. 2 Bände im Schuber. Knesebeck Verlag 2004, 520 S., Euro 100,80
Letzte Änderung: 03.01.2012
Webmeisterin+Redaktion: Mag. Ditta Rudle
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