Aus dem Inhalt der aktuellen Ausgabe
Jakov Bararon: Massada , Öl auf Leinwand
Der Künstler, geboren 1939 in Belgrad,
gestaltete bereits einige Titelbilder
für die INW. Er lebt seit 1992 in Wien
Nach fünfjähriger Tätigkeit beendete der Versöhnungsfonds seine Arbeit im Dezember 2005. Der 2000 errichtete Fonds mit Beiträgen des Bundes, der Länder und der österreichischen Wirtschaft betrifft vor allem die Personen, die während der Naziherrschaft in Österreich zur Zwangs- und Sklavenarbeit eingesetzt wurden. Rund eine Million Zwangsarbeiter aus ganz Europa mussten in Österreich unter schwersten teils unmenschlichen Bedingungen ihre Arbeit verrichten.
Es war allen bewusst, dass diese späten Zahlungen weder für das erlittene Unrecht noch für die bleibenden Schäden der Verfolgung entschädigen können. Es ging vielmehr darum, eine Geste der Anerkennung und Solidarität der jüngeren Generation mit den Opfern unter Beweis zu stellen.
Nach genauer Auswertung der Quellen wurde die Anzahl der noch lebenden Opfer auf 150.000 geschätzt. Dr. Maria Schaumayer, ehemalige Präsidentin der Oesterreichischen Nationalbank und Regierungsbeauftragte, konnte in Verhandlungen mit den betroffenen Ländern – Belarus, Polen, Russland, Tschechien, Ukraine und Ungarn –, den Vereinigten Staaten sowie mit den Vertretern der Wirtschaft eine Einigung erzielen. Vorsitzenden Botschafter Dr. Ludwig Steiner und Generalsekretär Botschafter Dr. Richard Wotova gelang es, wenn auch in mühevoller Arbeit und mit vielen Diskussionen innerhalb der Partnerorganisationen, vorbildlich die Aufgaben des Fonds zu verwirklichen. Das dominierende Prinzip des Büros war es, die lückenlose Kommunikation in der Sprache der Opfer zu gewährleisten. 22 verschiedene Sprachen wurden im kleinen aber höchst effizienten Büro in der Wiener Innenstadt praktiziert. Die sparsame Verwaltung und die geringen Repräsentationskosten erbrachten zusätzlich noch einen Zinsengewinn.
Der mit sechs Milliarden Schilling, 436 Millionen Euro, dotierte Fonds hat in seiner Laufzeit ungefähr 132.000 Anträge (€ 350 Millionen) ausbezahlt. Die Auszahlungen konnten erst nach Abweisung der letzten beiden Sammelklagen vor US-Gerichten aus dem Titel der Zwangsarbeit erfolgen. In den gesetzlichen Grundlagen des Versöhnungsfonds war vorgesehen, dass ein etwaiger Überschuss wieder zu Gunsten der Opfer des NS-Regimes verwendet werden muss. So wurden zusätzlich zu den Auszahlungen auch medizinisch- humanitäre Projekte für die Ärmsten unter den überlebenden Opfern, von denen viele in den ehemaligen Ostblockstaaten leben, verwirklicht. Mit Angeboten wie Kur- und Sanatoriumsaufenthalte, Operationen in den lokalen Spitälern, der Anschaffung medizinischer Geräte für den Hausgebrauch, aber auch finanzielle Unterstützung für die Anschaffung von Heizmaterial oder Kleidung konnte Österreich den hochbetagten Opfern spürbar ihre Lebensqualität verbessern. Engagierte Mediziner in der Österreichischen Orthopädischen Gesellschaft führten in ganz Österreich kostenlos Hüft- und Knieoperationen für ehemalige Zwangsarbeiter durch, denen so ein Leben im Rollstuhl erspart blieb.
In der letzten Sitzung des Kuratoriums konnte Generalsekretär Wotova stolz darauf hinweisen, dass ca. 96 Millionen € Restgelder noch zur Verteilung stehen. Von diesen geht ein Betrag an den Entschädigungsfonds, den Zukunftsfonds und einen Stipendienfonds. Zusätzlich wurden auch den Roma und Sinti ein Beitrag zum Ausbau des Erziehungs- und Ausbildungswesens bewilligt.
Der Zukunftsfonds soll wissenschaftliche und humanitäre Projekte unterstützen. Zum Abschluss der vielfältigen Tätigkeiten des Versöhnungsfonds wurden die maßgebenden Beteiligten der Partnerorganisationen mit dem Ehrenzeichen der Republik Österreich ausgezeichnet.
J. N.
Was zu feiern war, wurde gefeiert: Die Unterzeichnung des Staatsvertrags vor fünfzig Jahren, die Wiedereröffnung der Wiener Staatsoper vor fünfzig Jahren, ein halbes Jahrhundert Fernsehen in Österreich, zehn Jahre EU-Mitgliedschaft. Und natürlich auch das Kriegsende vor sechzig Jahren. Das auch… Mit feiner semantischer Verschiebung war nicht vom Gedenken oder Gedenkjahr die Rede, sondern vom Gedankenjahr. Denn nicht nur um Erinnerung sollte es nach offiziellem Willen in diesem denkwürdigen Jahr 2005 gehen, sondern vielmehr um Identität. Was ist aus diesem Österreich in den sechs Jahrzehnten nach dem Krieg geworden? Die Antwort darauf gab der ORF flächendeckend schon im Frühjahr mit seiner vierteiligen Portisch-Dokumentation über die Zweite Republik: Eine unglaubliche Geschichte. Erfolgsgeschichte versteht sich. Österreich ist heute wieder wer in Europa. Und erst recht im nächsten Halbjahr, wenn dieses Land die EU-Präsidentschaft stellt. Wer so seine Gegenwart und lichte Zukunft inszeniert, dem muß angesichts der dunklen Vergangenheit nicht bange sein. „Vergangenheit ist voller Leben, ihr Gesicht reizt, erzürnt, beleidigt uns, so dass wir es entweder zerstören oder neu malen möchten“ schreibt Milan Kundera. Das mag sonstwo sein, Österreich ist anders: Hier arrangiert man sich. Gerade auch mit dem entstellten Gesicht der eigenen Vergangenheit. Und delegiert die Auseinandersetzung mit der Opfergeschichte und der Geschichte der Täter an die wenigen Teilnehmer des einschlägigen akademischen Diskurses. Widerhall im gesellschaftlichen Bewusstsein hat dieser Diskurs keinen. Für die meisten in diesem Land sind die Opferzahlen der Shoah so wenig aufregend wie die aktuelle Krebsstatistik…
Und so wird – Gedankenjahr hin oder her – 1955 als das eigentliche Jahr der „Befreiung“ gesehen und nicht 1945, koaliert Schüssel weiterhin ungeniert mit der Partei eines Rechtspopulisten, lässt man sich selbstredend alle Optionen mit dem Haider-Epigonen Strache für die nächsten Wahlen offen, schweigt man weiterhin aus strategischem Kalkül heraus beharrlich dann, wenn sich der Ungeist des Juden- und des Rassenhasses zu Wort meldet und verwandelt, wie zum Hohn für die von Tag zu Tag weniger werdenden hochbetagten Holocaust-Überlebenden, den unerträglichen bürokratischen und juristischen Hürdenlauf bei der Restitution in einen Sieg später Gerechtigkeit.
Wir haben uns daran gewöhnt, dass sich der inszenierte Schein an der Realität politischen Handelns bricht. Erinnerung verkommt dann zur Farce, zur leeren Geste, wenn sie keine Entsprechung in der Lebenspraxis der Gegenwart hat. Wenn überhaupt, so liegt der einzige Sinn der Geschichte des unfassbaren Grauens der Nazi-Herrschaft in den richtigen politischen und moralischen Schlussfolgerungen für die Gegenwart. Daran, und nur daran hat sich „Erinnerungskultur“ zu bewähren und in ihrer Qualität zu bemessen. Tut sie dies nicht, verkommt sie zur bloßen Betroffenheitsrhetorik, zum facettenreichen Spiel inszenierter Gefühle. Beides konnte man bis zum Überdruss auskosten in diesem besonderen „Gedankenjahr“ 2005.
Wie aber soll man mit dem unermesslichen Leiden umgehen, wie mit dem „riesigen Friedhof“ (Paul Ricoer) der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts? Wissen ist wichtig, aber reicht nicht aus, weil es auch und vor allem um das Verstehen geht. Und verstehen kann man nur mit dem Herzen. Auschwitz lässt sich nicht begreifen. Es gibt nur eine einzige Haltung, in der man sich dem Unfassbaren nähern kann: Scham. Scham ist die einzige Verbindung zwischen Opfern und Tätern, wie der Schweizer Psychoanalytiker Arno Gruen deutlich macht: „Mit… Schuldentwicklung fühlen sich die meisten nur angegriffen, anstatt sich für etwas schämen zu können. Durch Scham aber kann ein gemeinsames Leiden empfunden und so eine Veränderung bewirkt werden. Dies ist die Scham, von der Primo Levi, der selbst als Häftling Auschwitz erlebt hatte, schrieb, dass er sie selbst fühlte, die Scham über Auschwitz, die Scham, die ein jeder Mensch darüber empfinden müsste, dass es Menschen waren, die Auschwitz erdacht und errichtet haben. Diese Art Scham bringt gemeinsames Leid, auch des Täters, zum Ausdruck.“
Wo in diesem Land gibt es solche Zeugnisse echt empfundener Scham? So wie in der modernen Gesellschaft die Fähigkeit zum Mitgefühl verkümmert ist, so ist ihr auch die Fähigkeit zur Scham verloren gegangen. Damit fehlt der vielbeschworenen „Erinnerungskultur“ aber die sie tragende und damit unverzichtbare emotionale Basis. Ohne sie bleibt es auch weiterhin bei bloßen Inszenierungen – mit erwartbar abnehmender Strahlkraft. Was heute schon kaum jemanden im Land wirklich überzeugte, wird morgen noch viel weniger bewegen.
Aber da wartet ja schon Mozart und in seiner Geschichte fühlt sich Österreich ohnehin viel besser aufgehoben.
In Israel hat ein großer Urknall die politische Landkarte dauerhaft verändert. Alle bisher bekannten Maximen und Orientierungspunkte der Innenpolitik haben sich verschoben, so dass in den für März angesetzten Wahlen nichts mehr so sein wird wie früher. Das ganze System steht Kopf. So erklärte die links außen angesiedelte Partei Meretz, man könne sich eine Koalition mit Ariel Scharon künftig gut vorstellen, während Wähler des rechts-nationalen Likud in Massen zu einer Partei überlaufen, an deren Führungsspitze sich ihr ehemaliger Erzfeind Schimon Peres befindet. Die traditionellen Wähler des Likud, wirtschaftlich benachteiligte Einwanderer aus den arabischen Staaten, scharen sich hinter dem in Marokko geborenen Amir Peretz, der der Arbeiterpartei vorsteht, die einst Symbol einer schmarotzenden aschkenasischen Elite war. Zu guter Letzt erwägen auch noch die Araber, sich geschlossen von der Arbeiterpartei abzuwenden, die ihnen über Jahrzehnte alles versprach und nichts gehalten hat, just um sich zu Scharon zu gesellen. Ehedem war Scharon für ihr Volk der Inbegriff des Bösen, heute sagt der ägyptische Staatspräsident Mubarak von ihm, er sei die einzige Hoffnung auf Frieden.
Es ist hauptsächlich den Auswirkungen der Intifada zuzuschreiben, dass das politische Leben in Israel sich derart verändert hat. Seit Bestehen des Staates zog sich eine klare Linie mitten durch die Wählerschaft und teilte sie in der Mitte in Linke und Rechte auf. Rechts und Links unterschieden sich in Israel nur in einer Frage, nämlich im Lösungsansatz zum Palästinenserproblem. Während man links eher auf Friedensverhandlungen setzte, in deren Rahmen es letztendlich zur Aufgabe der besetzten Gebiete im Gegenzug für Frieden kommen sollte, verschrieb sich die Rechte einer Ideologie des „Groß-Israels“ und versprach sich den ersehnten Frieden von einem von militärischer Übermacht und Misstrauen diktierten Verhältnis zu den Arabern. Die seit dem Jahr 2000 anhaltende Intifada hat jedoch Rechten wie Linken bewiesen, dass ihr Lösungsansatz nicht die erhoffte Ruhe bringt. An Verhandlungen mit den Palästinensern glaubt heute fast niemand mehr in Israel, aber auch ihr blindes Vertrauen in die Allmacht ihrer Armee haben Israelis nach fünf Jahren Kampf aufgegeben. Nun bietet sich denen, die von den klassischen Alternativen enttäuscht sind, erstmals eine glaubhafte dritte Alternative
Freilich gab es in jeder Wahl den Versuch einer Partei des „dritten Weges“, als Auffangbecken für die enttäuschte stille Mehrheit der gemäßigten Mitte zu fungieren. Stets litten diese Parteien jedoch unter einem Mangel an charismatischer Führung und gerieten nach anfänglicher Euphorie des vermeintlichen Neubeginns schnell in Vergessenheit. Nun könnte sich das alles ändern. Friedensnobelpreisträger und Architekt des Osloer Friedensvertrages Schimon Peres hat sich zum historischen Gegner der israelischen Linken, dem Siedlungsbauer und Ex-General Scharon, gesellt, um mit ihm gemeinsam die israelische Politik umzukrempeln. Ihrer neuen Kadima („Vorwärts“) Partei fehlt es nicht an charismatischen, bewährten und befürworteten Persönlichkeiten, sie ist das „All Star Dream Team“ des israelischen Wählers, der sich in überwältigender Mehrheit hinter sie stellt. Von allen Parteien, egal ob Likud, Arbeiterpartei, Schinui, ja sogar Meretz und dem arabischen Sektor, strömen die Menschen nun zu Kadima, weil sie sich von der letzten Amtsperiode der zwei letzten Politiker der Gründergeneration die Antworten auf die dringlichsten Probleme ihres Staates erhoffen.
Die Regierung unter Scharon wird drei kardinale Probleme in Angriff nehmen. Erstens wird sie versuchen, die Ostgrenze des Staates festzulegen, entweder durch einen Friedensvertrag mit den Palästinensern oder durch weitere einseitige Maßnahmen wie dem Rückzug aus dem Gazastreifen. In diesem Punkt hat sie die besten Aussichten, fast vierzig Jahre nach dem Sechs-Tage Krieg den territorialen Ambitionen Israels endlich eine Grenze zu setzen. Angesichts der anhaltenden Anarchie auf Seiten der Palästinenser und der zunehmenden Machtlosigkeit ihres Präsidenten Machmud Abbas ist eher unwahrscheinlich, dass die Verpflichtung zu einer Fortführung des Friedensprozesses im Rahmen der „Road Map“ mehr als ein Lippenbekenntnis bleibt. Wahrscheinlicher ist, dass Israel in naher Zukunft weitere einseitige Rückzüge vornehmen wird, wie der engste Berater Scharons, Vizepremier Ehud Olmert, bereits angekündigt hat. Genau dies ist ja die Quintessenz des dritten Wegs: nämlich nicht mehr den erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen mit den Palästinensern abzuwarten, aber auch nicht ewig eine Bevölkerung von Millionen Palästinensern beherrschen zu wollen, sondern einseitig gemäß der Interessen Israels eine strategisch und demographisch sinnvolle Grenze zu ziehen, komme, was wolle.
An zweiter Stelle auf der Dringlichkeitsliste steht das wirtschaftliche Problem, das unerträgliche Ausmaße erreicht hat. Die israelische Gesellschaft, einst mit den Idealen der Gleichheit und Brüderlichkeit gegründet, ist eine der ungleichsten westlichen Gesellschaften geworden. Nur in Portugal und den USA sind die Unterschiede zwischen Arm und Reich größer als hier. Menschen würden vielleicht bereits Hunger leiden, versorgten von Spenden getragene Hilfswerke sie nicht täglich mit Nahrung. Die thatcheristische Politik Benjamin Netanyahus hat die Wirtschaft zwar gesunden lassen, diese sozialen Unterschiede aber noch vergrößert. So sind viele der künftigen Wähler Scharons und Peres Menschen, denen der soziale Frieden wichtiger ist als der mit den Arabern. Dies führt ebenfalls zu der erheblichen Schwächung des Likud und dem Stimmenzuwachs der Arbeiterpartei unter Amir Peretz, von dem die Verarmten sich einen wahren Kampf gegen die Reichen versprechen. Dies führt als Nebenprodukt dazu, dass laut ersten Meinungserhebungen erstmals in der Geschichte Israels eine homogene Koalition aus nur zwei Parteien, Kadima und der Arbeiterpartei, die nötige Mehrheit zum Regieren haben könnte.
Dies gibt den Menschen Hoffnung, dass auch ein drittes Problem gelöst werden könnte, nämlich die ungeklärte Beziehung zwischen Staat und Religion. Seit Staatsgründung leben die Menschen in einem schwankenden Status quo, in dem am Samstag die Geschäfte geschlossen bleiben müssen und unkoschere Hotels keine Betriebserlaubnis erhalten. Orthodoxe müssen nicht in der Armee dienen, da sie die Bibel studieren. Hochzeiten können nur von Rabbinern abgehalten werden, ein wachsendes Problem für mehrere Hunderttausend Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, von denen laut jüdischen Glaubensgesetzen viele keine Juden und deshalb nicht heiratsfähig sind. Der gesetzliche Status hunderttausender Einwanderer, die nach dem Rückkehrrecht nach Israel dürfen, dort aber nicht alle Rechte haben, da sie nicht als Juden anerkannt werden, schreit nach einer logischen Lösung. Die konnte man ihnen bisher deshalb nicht bieten, da stets die Religiösen die Macht hatten, Regierungen zu stürzen und neue Koalitionen zu bilden. Die Kadima Partei mit ihrer breiten Zustimmung könnte im Verbund mit Amir Peretz Israel in dieser Frage tatsächlich voran, in Richtung einer Lösung, treiben.
Um ein viertes existentielles Problem anzugehen, dazu sind leider gerade Scharon und Co. ungeeignet. Immer weiter greifen Korruption und Werteverfall um sich und drohen, die Errungenschaften des jungen Staates zu zerstören. Die erfolgreichen Politiker, egal welcher Schattierung, stecken aber allesamt selber zu tief in diesem Sumpf, um ihn glaubhaft trockenlegen zu wollen. So muss dieses Problem wohl noch mindestens eine Wahl abwarten, bevor es in den Vordergrund der israelischen Politik gerät und einen Vorkämpfer findet, der es glaubwürdig an der Tagesordnung belässt. Bis dahin hat Scharon aber noch einiges zu tun. Na dann vorwärts!
Mitten in der Wüste: Monument von Dani Karavan
Ben Gurions Traum, die Wüste zu beleben, gewinnt immer mehr an Realität. Israel ist zweigeteilt – im Norden ein dicht besiedeltes Gebiet mit bestorganisierter Infrastruktur und im Süden weite ausbaufähige Wüstenlandschaften. Angesichts der Enge des Landes gab es schon immer Bestrebungen, der Wüste mehr Leben einzuhauchen. Einem Schüler und Weggefährten von Ben Gurion, Lova Eliav, gelang es, einige dieser Visionen zu verwirklichen. Lova Eliav, dynamisch und ideenreich, engagierte sich zeit seines Lebens für die Verbesserung der Beziehungen zwischen den Menschen, Völkern und für den Frieden. Gleich nach dem Krieg 1945 war er maßgebend an der illegalen Einwanderung nach Palästina tätig – während Asher Ben-Natan die Einwanderung von Österreich organisierte, war es Eliav, der in Italien tätig war. Interessanterweise trugen beide den Decknamen Arthur. Lova setzte sich auch als einer der ersten für intensive Gespräche mit den Palästinensern ein und erhielt 1979 auch dafür gemeinsam mit dem später ermordeten Issam Sartawi den Bruno Kreisky- Preis für Menschenrechte. In den achtziger Jahren initiierte er die Gründung der Stadt Arad, die heute wegen ihres hervorragenden Klimas für Asthmatiker großes Ansehen genießt und vor allem vielen Neueinwandern eine neue Heimat bot. Sein jetziges Baby heißt Nitzana, eine in Sichtweite der ägyptischen Grenze gelegene Siedlung, deren Ansätze zukunftweisend für die Region sind. Nitzana – viele Israelis wissen nicht einmal, wo es genau liegt – kann auf eine glorreiche Vergangenheit zurückblicken, war immer einer der wichtigsten Schnittpunkte der Region, eine Verbindung zwischen Asien und Afrika. Strategische und kulturelle Bedeutung erlangte dieses Gebiet bereits 100 v. Chr., unter dem Königreich der Nabateaner und auch später unter byzantinischer Herrschaft kam es zu einer wirtschaftlichen Blüte. Erst das Osmanische Reich brachte einen Niedergang dieser Gegend mit sich. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erkannten die Türken wieder die wichtige strategische Lage und auch die Briten zogen sich 1917 nach dem Rückzug aus dem Negev hier zurück.
Das heutige Nitzana geht auf eine Initiative von Lova Eliav, der hier ein Zentrum für die Erziehung sowohl für Juden als auch für Araber schaffen wollte. Darüber hinaus wurde es eine Zufluchtstätte für junge Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, Äthiopien und anderen Länder, die ohne Eltern ins Land kamen. Hier können sie die Wüstenlandschaft erforschen und ein Ulpan (intensiver Hebräisch-Unterricht) bietet ihnen die Chance, sich schneller in die Gesellschaft zu integrieren. Aber auch viele junge Israelis aus allen Teilen des Landes kommen, um die Faszination der Wüste zu erleben und sich mit deren Möglichkeiten auseinander zu setzten. Große Chancen für eine zukunftweisende Entwicklung bietet die Verwertung des einzigartigen Grundwassers dieser Gegend, das aus einem großen unterirdischen See hervorgeht, dessen Salzgehalt zwar größer als normal ist, aber gerade dies fördert den Anbau gewisser Gemüse- und Obstsorten. So werden z. B. die Cherry-Tomaten von hier in die ganze Welt exportiert. Auch ein reger Weinanbau wird hier betrieben, da die gleichmäßigen Temperaturen sich fördernd auf die Reben auswirken. Ferner gibt es noch eine Bienenzucht, aus der hochwertiger Honig sowie andere Produkte wie Seife, Cremen und Medikamente gewonnen werden. Friede – Shalom – Peace ist die Hauptmotivation von Lovas Aktivitäten und sein Freund, der weltberühmte Bildhauer Dan Karavan, hat dies auch künstlerisch und im wahrsten Sinne des Wortes plastisch dargestellt. Auf hundert Säulen, die bis zur ägyptischen Grenze führen, ist das Wort Frieden in hundert Sprachen verewigt – sogar in Blindenschrift. Also Symbol dafür, dass nur der Friede dem Land Wohlstand und Erfolg bringen kann.
Zentrum all dieser Aktivitäten wird nun ein sich im Entstehung befindendes riesiges offenes Museum bilden, ein wissenschaftlicher Themenpark, in dem Jugendliche und interessierte Erwachsene mit der Sonnenenergie experimentieren können. Unter anderem ist es das Ziel, zukünftige Genies zu animieren, neue Forschungen in dieser Richtung zu betreiben. Kurse und Workshops mit Universitätsprofessoren unterstützen diese Intensionen. Prophetisch meint Lova dazu: „In absehbarer Zukunft wird man sich wundern, dass die Sonne, die offenkundig für alle sichtbar ist, nicht besser genutzt wurde und man stattdessen unnötig kostspielige und umwelt -verschmutzende Methoden zur Energiegewinnung einsetzte.“
Der Keren Hajessod Österreich sowie die Sacta Raschi Foundation sind an diesem Projekt maßgebend beteiligt, das bereits jetzt eine Touristenattraktion ist und in einigen Jahren noch weiter ausgebaut werden soll. Anlässlich einer vom Keren Hajessod organisierten Reise hatten die Teilnehmer, allen voran Mag. Leon Widecky, der dieses Projekt seit den Anfängen unterstützt, vor Ort Gelegenheit, sich von den enormen Leistungen, die hier vollbracht wurden, zu überzeugen. Der faszinierende Eindruck einer Wüste, die vor unseren Augen zum Leben erwacht, wird allen unvergesslich bleiben.
Joanna Nittenberg
Rundum Zustimmung brachte die Ernennung von Dr. Ben Bernanke zum Nachfolger von Alan Greenspan als US-Notenbank-Chef (Fed). Die Börsen zeigten mit deutlichen Kursanstiegen, wie sehr man mit dieser Ernennung einverstanden war und auch von den wissenschaftlichen Kollegen kam Zustimmung. Politisch hat sich Präsident Bush mit dieser Ernennung ein wenig aus dem Kreuzfeuer seiner letzten Personalentscheidungen zurückziehen können.
Dr. Bernanke, geboren in Augusta, Georgia und aufgewachsen in Dillon, South Carolina (S.C.), fiel schon in früher Kindheit durch seine Begabung auf. Lesehungrig schon im Vorschulalter, übersprang er die erste Klasse in der Schule und blieb bis zum Abschluss seines Studiums ein Klassen- und Studiumsbester. In der sechsten Klasse gewann er einen Buchstabier-Wettbewerb für ganz South Carolina und seine Punkteanzahl für den College-Einstieg war mit 1590 von 1600 möglichen Punkten die höchste des ganzen Staates. Ben Bernanke verdiente sich sein College als Kellner in den Sommerferien und weiß den Wert der Arbeit sehr wohl zu schätzen. Nach dem College führte ihn sein Weg nach Harvard, wo er mit summa cum laude sein Studium der Wirtschaftsgeschichte abschloss. Sein Doktorat in Wirtschaft erwarb er am renommierten MIT (Massachusetts Institute of Technology) in Boston.
Seine Frau Anna, geborene Friedmann, eine Absolventin des Wellesley College, wo sie ihren Bachelor erwarb und in Stanford ihren Master machte, versorgte nicht nur die junge Familie während Bernankes erster Professur an der Stanford University, sondern zu Anfang auch noch zwei Kollegen ihres Mannes, die als Junggesellen dieses Angebot sehr genossen. Später kamen die Kinder Joel A. Bernanke (1982) und Alyssa Gale Bernanke (1986) hinzu, die das Glück haben in einem harmonischen Elternhaus aufzuwachsen.
Zwar hat Ben Bernanke bis jetzt die höchste Stufe der Karriereleiter in seiner Familie erklommen, aber außergewöhnliche Menschen sind in seiner Familie nichts Neues. Sein Großvater emigrierte nach seiner Militärzeit unter Kaiser Franz Joseph aus Wien in die USA, wo er eine erste Stelle in einer Apotheke fand. Es fiel ihm schwer, nicht sein eigener Herr zu sein und so kaufte er dem Besitzer der Apotheke, der sich zur Ruhe setzen wollte, die Apotheke kurzerhand ab. Zwar fehlte ihm der volle Kaufbetrag, aber der Besitzer war von dem jungen Mann und seinen Fähigkeiten so überzeugt, dass er ihm die Summe lieh und darauf vertraute, sie aus den künftigen Gewinnen rückerstattet zu bekommen. Sein Großvater besaß noch einige Drugstores, bevor er sich endgültig in Dillon niederließ und später nach dem gleichen Modell das Geschäft seinen Söhnen überließ.
Ebenso ungewöhnlich jedoch ist das Leben der Großmutter Bernankes. Sie war eine der ersten Frauen, die in Wien 1919 ein Medizinstudium abschloss, bevor sie in die USA auswanderte. Aber auch auf Seiten seiner Frau Anna gab es bemerkenswerte Persönlichkeiten. Annas Großvater, ein Rabbi, der streng nach jüdischer Tradition lebte, war nicht nur in seiner Heimatstadt Charlotte, N.C., ein wohlgeachteter Mann, sondern auch in Dillon, wohin er nach dem Tod seiner Frau zog. Wegen seines religiösen Wissens allseits respektiert, wurde er von den nichtjüdischen Bewohnern gerne „Reverend“ genannt. Annas Vater unterrichtete Hebräisch und unterwies junge Bar Mitzva-Studenten. Die Bernankes, gläubige Juden, leben nach jüdischer Tradition, jedoch bleibt ihr Glaube dem Privatleben vorbehalten.
Dr. Bernanke, ein Milton Friedman-Schüler und ausgewiesener Makroökonom, der als Vorsitzender des Beraterstabes für Präsident Bush in Wirtschaftsfragen in wenigen Punkten mit seinem Vorgänger Greenspan uneinig war, wird allerdings für die Einführung eines festen Zieles für die Inflation plädieren. Eine klassische Inflationssteuerung wird so sicherlich wahrscheinlicher als unter seinem Vorgänger Greenspan, berührt jedoch kaum die gegenwärtige Geldpolitik. Aber auch unorthodoxe Methoden gehören zu seinem Repertoire. So gilt er als Architekt jener geldpolitischen Strategie, die 2003 den Ankauf von Staatsanleihen in Aussicht stellte, um eine Deflation zu verhindern. Allerdings, nicht nur Friedman hat seine Spuren bei Bernanke hinterlassen, auch die Ansichten Keynes fließen bei Bernanke ein, wenn er für eine aktive Konjunkturpolitik in Krisenzeiten eintritt.
Ein Ärgernis bereitet dem neuen Notenbankchef, dass weltweit zu viel gespart und zu wenig konsumiert wird. Die zu starke Orientierung vieler Länder am Export, bei schwacher Binnenmarkt-Nachfrage, ist für ihn maßgeblich für das große Außenhandelsdefizit der USA verantwortlich. Differenzen gibt es mit der EZB (Europäische Zentral Bank), die vorwiegend der Preisstabilität verpflichtet ist, während sich die USA auch noch um das Wirtschaftswachstum zu sorgen haben. Es ist allerdings kaum anzunehmen, dass es hier zu einem Kurswechsel kommt.
Wie sehr der Professor aus Princeton auch im Umgang mit Menschen auf ungewöhnliche Mittel zurückgreift, zeigt eine kleine Anekdote mit Präsident Bush. Der Präsident machte ihn ein wenig verärgert darauf aufmerksam, dass beigefarbene Socken, wie sie der Professor trug, nicht zu einem dunklen Anzug passen. Ben Bernanke machte sich umgehend auf den Weg Socken zu besorgen, beigefarbene. Die verteilte er dann im ganzen Haus, womit das modische Dilemma wenigstens für den Moment mit einem Schmunzeln gelöst war.
Sonja Wanner
Der Orpheus Trust wurde 1996 auf Initiative von Dr. Primavera Gruber in Wien gegründet. Als Kulturmanagerin hatte sie erkannt, dass die Erinnerung an Leben und Werk der vom NS-Regime verfolgten und aus Österreich vertriebenen Musikschaffenden für immer aus dem Musikleben zu verschwinden drohte. In den fast zehn Jahren seit seiner Gründung hat der Orpheus Trust seine Pionierrolle beim Anliegen, Musik und Musikern, die Opfer des nationalsozialistischen Terrors wurden und oftmals bis an ihr Lebensende vergessen blieben, den gebührenden Raum wieder zu geben, mit so großem Erfolg ausgeübt.
Da die meisten vertriebenen Musikschaffenden nach 1945 in Österreich keine Akzeptanz fanden und nicht zurückgekehrt sind, erstreckte sich die Forschung des Orpheus Trust über alle Kontinente. Darüber hinaus gab es eine intensive Zusammenarbeit mit ausländischen Institutionen, Forschenden und Künstlern. Auszeichnungen wie die Torberg-Medaille der IKG, ein Preis aus der Dr. Karl-Renner-Stiftung sowie im Oktober 2005 der Premio Nazionale „Silvio Sammarco Springer“ spiegeln die Anerkennung für eine Tätigkeit wider, die kulturell, historisch und menschlich von großer Bedeutung ist. Das Musikland Österreich wäre – sechzig Jahre nach dem Ende des Naziterrors – um vieles ärmer, hätte es den Orpheus Trust nicht gegeben.
Der Orpheus Trust verfügt über eine Datenbank mit der weltweit größten Informationssammlung zu über 5200 NS-verfolgten Musikschaffenden und ihren Werken, die einen Bezug zu Österreich oder der ehemaligen „Donaumonarchie“ aufweisen. Zahlreiche Nachlässe, Dokumente, Partituren, Fotos und andere Materialien wurden dem Orpheus Trust von Exilanten und ihren Angehörigen anvertraut. Jährlich werden über 300 Forschungsanfragen beantwortet, StudentInnen werden bei der Themenauswahl für Diplomarbeiten und Dissertationen, Musiker bei der Programm- und Repertoiregestaltung beraten und Musikveranstalter über ihre Programme informiert.
Musik wird nur durch Hören Musik: Seit 1996 wurden in 300 Veranstaltungen über 1500 NS-verfolgte Musikschaffende in Kooperation mit Veranstaltern in ganz Österreich der Öffentlichkeit vorgestellt. Darunter waren 130 Ur- und österreichische Erstaufführungen und große Projekte wie beispielsweise das Fritz Spielmann-Festival, Masterclasses mit Karl-Ulrich Schnabel an den Musikuniversitäten Salzburg und Graz, sowie mit der Theresienstadt-Überlebenden Edith Kraus an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Weiters wurde unter anderem die Klanginstallation Orpheus.Klangwege präsentiert. Zuletzt wurde mit zahlreichen Konzerten, zwei Ausstellungen und einem internationalen Symposion im Rahmen des Frankreich-Festivals „Douce France?“ Frankreich als Exilhttp://www.neuewelt.at/bilder/logo_klein.gif- und Durchgangsland für NS-verfolgte Musikschaffende in den Mittelpunkt gestellt.
Der Orpheus Trust konnte damit seine knappen Ressourcen anderen Musikschaffenden und ihren Werken zuwenden. In einigen Jahren wird es nicht mehr möglich sein, den Vertriebenen gegenüber eine unmittelbare Geste der Anerkennung zu setzen.
Der Orpheus Trust wird im Ausland gerne als Beispiel für ein gerechtes Österreich herangezogen. Während aber die Anerkennung durch die Öffentlichkeit zunahm, drückte sich dies jedoch nicht in entsprechend steigenden Subventionen aus.
Aufgrund des knappen Budgets kann der Orpheus Trust nicht das Leben und das Werk von über 5000 NS-verfolgten Musikschaffenden erforschen, vermitteln, bekannt machen. Große Veranstaltungen, geplant für den Herbst 2004 und 2005, mussten bereits aus finanziellen Gründen abgesagt werden.
Österreichs Kulturpolitik ist am Weg, seine Exilmusik ein zweites Mal zu verlieren. Werden wieder jüdische und kulturelle Belange in die zweite Reihe gestellt? Verpasst diese Republik immer noch die Chance, ein wenig über ihre Vergangenheit hinaus zu wachsen?
Mit Ihrer Unterschrift können Sie eine Unterstützungserklärung abgeben. Das Formular finden Sie auf der Website des Orpheustrust.
Inseinem neuen Roman erzählt Peter Stefan Jungk von Gustav Rubin, das Kind einer wahrlich elternreichen Familie, das Muttersöhnchen einer sprichwörtlichen Mame. Sie, die der Vater, „Frau ohne Filter“ nannte, spricht auf „Burschi“ ein, weiß immer, was das Beste für ihn ist. Für sie muss er das Mietauto wechseln, für sie hat er sogleich ein Unterhemd anzuziehen. Nie kann er es ihr recht machen, denn ihre Parole, ihr Schlachtruf lautet: „Hättest Du...“ Gustav Rubin ist aber vor allem der ewige Sohn eines berühmten Wissenschaftlers und Publizisten. Während der Vater die Entwicklungen der Zukunft erforschte, wollte der Sohn als Historiker die Geschichte studieren, um letztlich als ein Pelzhändler zu enden.
Der Titel stimmt uns ein und warnt uns vor. „Die Reise über den Hudson“ läßt an jene sprichwörtlich letzte Überfahrt über den Jordan, an den Übergang ins Jenseits und an den sagenumwobenen Charon denken. Gustav Rubin steckt im Stau, steckt in der Autokolonne, steckt fest mit seiner Mutter, die auf ihn einredet und an ihm herumzerrt. Ein Unfall legte den ganzen Verkehr lahm. Die Zeit wird zäh. Er steht auf einer Brücke, auf einer jener stählernen Spinnweben des zwanzigsten Jahrhunderts und schaut hinab in den Strom, zu den Flußfelsen. Hier, im riesigen Laufgitter von einem Ufer zum anderen, wird er zum ewigen Kind, der auf die Steinformationen im Wasser blickt, bis er unten nichts als den übergroßen Vater sieht, bis auch seine Mutter dort ihren verstorbenen Mann samt seinem Gemächt ausmacht, und so eindringlich wird in diesem Buch diese „Vater Morgana“ geschildert, dass wir ebenfalls bald den nackten Wissenschaftler und Publizisten Ludwig Rubin zu erkennen glauben, der Gustav vor den Füßen liegt, der ihm seit seinem Tod im Wege steht.
Peter Stephan Jungk erzählt von einem jener Nachkommen, die das Überleben rechtfertigen und für das Leid entschädigen sollten. Die Eltern des Gustav gehören zu den letzten Überresten einer mitteleuropäischen Hochkultur, die zum Großteil jüdischen Familien entsprungen war, und entsetzt ist deshalb Ludwig Rubin, als er hört, dass sein Sohn, der Akademiker, in den Pelzhandel einsteigen will: „Das kommt mir vor wie beim einzigen Sohn meines Freundes Erwin Chargaff, Ted ist Polizist geworden, in Los Angeles, ein Spezialist zwar für ausgefallene Kriminalfälle, aber ein Polizist! Der Sohn eines der bedeutendsten Biologen und Philosophen unserer Zeit – ein Streifenpolizist! Genau wie der Sohn von Arnold Schönberg, armer Arnold Schönberg! Jean Amérys uneheliche Tochter, von der niemand weiß, wurde Fußpflegerin. Kein Wunder, dass er sich umgebracht hat.“ So spricht der Vater, erzählt von der Erbin Benjamins und den Söhnen von Adorno, Bloch und Marcuse, lauter schreckliche Beispiele, die er Gustav vor Augen hält.
Selbstironie durchzieht dieses tragikomische Buch über Tod und Versagen. Wie in seinen anderen Büchern arbeitet Peter Stephan Jungk, der Sohn des berühmten Publizisten Robert Jungk, an der Erinnerung.
Peter Stephan Jungk wurde in Kalifornien geboren, wuchs in Wien und Berlin auf und lebt seit 1977 in Paris. Vielleicht ist es diese örtliche Ungebundenheit, die ihn um so stärker an sein Deutsch bindet, denn es ist für Jungk kein bloßer Gebrauchsgegenstand, sondern die sprachliche Heimat.
Womöglich erklärt die frühe Weltläufigkeit auch seine Vielfalt, denn er ist ein Biograph, ein Romancier, verfasst Drehbücher und Hörspiele. „Meister der Nacht. Ein Lebensbild des Schriftstellers und Mathematikers“ heißt sein schöner Film über Leo Perutz, „Ein Weltfreund zwischen den Welten“ jener über Franz Werfel, über den er auch eine Biographie veröffentlichte. Wahrscheinlich ist die Rastlosigkeit, die seine Jugend kennzeichnete, ebenso dafür verantwortlich, dass sich in seinen Romanen räumliche Schranken auflösen, während sich die Zeiten übereinander legen und zusammenballen.
Obgleich etwa die Namen, die der Protagonist Gustav Rubin kennt, obgleich die ganzen Persönlichkeiten, von Adorno, Améry bis Chargaff zum erweiterten Familienkreis der Jungks, zur Geistesverwandtschaft der vertriebenen Vernunft gehörten, ist die „Reise über den Hudson“ dennoch kein Schlüsselroman wie manche anderen Bücher, die in den letzten Jahren den literarischen Entwurf durch billige Sensationshascherei zu ersetzen versuchten.
Hier ist das Gegenteil der Fall. Peter Stephan Jungk äußert sich, entäußert sich in diesem Text, weil er eben nicht Gustav Rubin ist, weil er in seinen Romanen keineswegs bloß der Nachkomme und Epigone bleibt, sondern zu einer eigenen Geschichte und zu einer eigenen Sprache findet. Mit diesem Buch wird das für mich noch viel offensichtlicher als in den anderen, die ich von Peter Stephan Jungk kenne. Indem er das Vermächtnis der Eltern abhandelt, ohne irgendein Familiengeheimnis zu enthüllen, offenbart sich uns ein Autor.
Nicht Peter Stephan Jungk ist Gustav Rubin, sondern wir, die diesen Roman lesen, die von der „Reise über den Hudson“ in Bann geschlagen werden, finden uns in Gustav und im Familiendrama der Rubin wieder. Wir, die wir diesen Roman lesen, entdecken den Schriftsteller Peter Stephan Jungk, entdecken ihn wieder und entdecken ihn neu.
Peter Stephan Jungk: Die Reise über den Hudson, Klett-Cotta, 2005, 226 S. Euro 20,10.
Vor zehn Jahren wurde die „Professor-Hilde-Goldschmidt-Stiftung“ in Innsbruck ins Leben gerufen. Der Stiftungszweck beinhaltet die regelmäßige Vergabe eines Anerkennungspreises oder eines Stipendiums an KünstlerInnen sowie die Unterstützung von Präsentationen, Dokumentationen und Publikationen des künstlerischen Werkes von Hilde Goldschmidt: Anlass, einen Blick auf Leben und Werk der Stifterin zu werfen.
Selbstportrait, 1931,
Ö l auf Hartfaser,
Die Künstlerin stammt aus Leipzig, wo sie 1897 als jüngstes von fünf Kindern einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie geboren wurde. Nach Abschluss der "Höheren Töchter Schule” studierte sie an der Akademie der bildenden Künste, schrieb Gedichte sowie Erzählungen und nahm Tanz- und Ballettunterricht in ihrer Geburtsstadt. 1920 wurde sie in Dresden an der Akademie der bildenden Künste aufgenommen, an der seit 1919 auch Frauen zugelassen waren. Dort lernte sie Friedrich Karl Gotsch kennen, mit dem sie eine Liebesbeziehung einging. Die beiden studierten zunächst in der Klasse von Otto Hettner und wechselten anschließend in jene von Oskar Kokoschka. Die Kunststudentin nahm weiterhin Tanzunterricht bei der Pionierin des Ausdruckstanzes, Mary Wigman, die 1920 in Dresden ihre erste Tanzschule gegründet hatte. Goldschmidt entschied sich aber dann doch für die bildende Kunst, wofür sicherlich ihr Lehrers Kokoschka ausschlaggebend war, dessen Meisterschülerin sie neben Friedrich Karl Gotsch, Hans Meyboden und Hugo Körte war.
Als Kokoschka 1923 die Akademie verließ, gingen Goldschmidt und Gotsch nach New York. Da sie dort aber mit ihrer Kunst wenig Erfolg hatten, kehrten sie wieder nach Deutschland zurück. Einige Reisen nach Frankreich und Italien folgten. Goldschmidt hatte sich eingehend mit Porträts und Landschaften im Stile Kokoschkas auseinandergesetzt. Das real Erblickte wurde, durch die eigene Gefühlswelt transformiert und farblich übersteigert, auf die Leinwand gebannt. Als 1930 ihr Vater starb, entstanden erstmals Selbstbildnisse der Künstlerin.
1933 fuhren Goldschmidt und Gotsch zum Skifahren nach Kitzbühel, wo die Künstlerin einen komplizierten Beinbruch erlitt und sie deswegen sieben Monate im Krankenhaus verweilen musste. Im Krankenzimmer, das zum Atelier umfunktioniert wurde, entstanden Bildnisse von Einheimischen. Während des Aufenthalts in Kitzbühel kam es zur Trennung zwischen der Künstlerin und Gotsch, was eine tiefe Wunde in Goldschmidt aufriss. Wegen der politischen Situation in Deutschland beschloss Goldschmidt in Kitzbühel zu bleiben. Mit finanzieller Hilfe ihres Bruders Fritz, der nach England ausgewandert war, kaufte sie ein Haus in Kitzbühel und holte ihre Mutter zu sich.
1939 wurden die beiden Frauen aber von den Behörden aufgefordert, das Land zu verlassen. Über Frankreich reisten sie nach England, wo Fritz Goldschmidt als Pelzhändler tätig war. Die Künstlerin lebte von der Anfertigung von Handschuhen und Pantoffeln aus Pelzresten. Während dieser Zeit entstanden einige Zeichnungen, aber keine Bilder. Oskar Kokoschka war bereits 1938 nach England emigriert, und so trafen einander wieder der ehemalige Lehrer und die Schülerin. Als im September 1941 die Bombenangriffe der Nazis auf England begannen, zog Hilde Goldschmidt mit ihrer Mutter in den Lake District. Ihre freundschaftliche Beziehung zu Kokoschka intensivierte sich in den nächsten Jahren. Die Kunsthistorikerin Silvia Höller konnte erotische Briefe Kokoschkas an Goldschmidt aus der Zeit von 1942–1950 einsehen; sie erwähnt deren äußerst intimen Charakter. Vermutlich wandte sich die Künstlerin aufgrund dieses Verhältnisses wieder der Malerei zu. Die Kompositionen wurden geschlossener und der Farbauftrag pastoser. Goldschmidt lernte Kurt Schwitters kennen, der Deutschland als „entarteter” Künstler verließ, um zunächst in Norwegen zu leben und anschließend nach England zu emigrieren, wo er sich ebenfalls im Lake District niederließ.
1949 starb die wichtigste Person in Goldschmidts Leben, ihre Mutter, im achtundachtzigsten Lebensjahr. Daraufhin beschloss Goldschmidt nach Kitzbühel zurückzukehren und lebte in dem Haus, das sie schon vor ihrer Flucht bewohnt hatte. Der Neuanfang in Österreich gestaltete sich äußerst schwierig, und sie lebte anfänglich in Einsamkeit sowie in finanziellen Schwierigkeiten. Was hat uns die Zeit angetan – wir haben kein Vaterland mehr – ich bin keine Österreicherin – und ich bin keine Engländerin – ich gehöre keiner Nation an – Heimat ist hier – und drüben – aber dazugehören?, schrieb sie in ihr Tagebuch. Das Gefühl der Entwurzelung korrelierte im Werk mit der Suche nach einer neuen Bildsprache: Der Farbauftrag wurde flächiger, und die Plastizität trat zurück, die Formen begannen sich aufzulösen.
1953 gründete Oskar Kokoschka in der neuen Internationalen Sommerakademie für bildende Kunst in Salzburg die „Schule des Sehens“. Diese besuchte Goldschmidt zunächst als Teilnehmerin, anschließend lehrte sie dort auch. Zwischen 1956 und 1972 verbrachte die Malerin regelmäßig einige Wochen im Sommer in Venedig. Der Einfluss dieser Stadt führte zu einem endgültigen stilistischen Wandel: Die Arbeiten wurden abstrakter, ohne jedoch die gegenständliche Form gänzlich aufzulösen. Geometrische Formen fügte sie in Liniengerüsten ein. Die Farbgebung wurde intensiver und knalliger.
1968 stellte Goldschmidt in der Nora Gallery in Jerusalem aus und bereiste bei dieser Gelegenheit einen großen Teil Israels: Hier habe ich plötzlich das ,Land meiner Väter‘ gespürt, mit Ehrfurcht, und wohl mit dem Erkennen einer heimatlichen Zugehörigkeit, die ja an kein Land gebunden ist. Das hat mir eine neue Sicherheit gegeben.“ Ab 1971 hielt sich die Künstlerin jährlich auf der Insel Gozo auf, auf der ihre Nichte ein Haus erworben hatte, und malte Landschaftsbilder. In ihrer letzten Tagebuchaufzeichnung spielte sie mit dem Gedanken, nach Gozo zu fahren, dazu kam es aber nicht mehr. Hilde Goldschmidt starb 1980 dreiundachtzigjährig in Kitzbühel.
Helene Mayer
Silvia Höller: Hilde Goldschmidt, 1897–1980. Zwischen Kokoschka, Exil und Kitzbühel. Mit Beiträgen von Gert Ammann und Rolf Jessewitsch.
Tyrolia, 2005. 112 Seiten; 97 farbige und 9 sw.-Abbildungen; € 27,--
Der israelische Filmregisseur Amos Gitai im Gespräch mit Ditta Rudle über seine Motivation, die Rolle der Medien und das europäische Publikum
Amos Gitai ist einer der meist angesehenen und produktivsten Regisseure Israels. 1950 als Sohn des bekannten Bauhaus-Architekten Munio Gitai-Weinraub in Haifa geboren, studierte er am Technion seiner Heimatstadt Architektur und promovierte an der University of Southern California in Berkeley. In die Fußstapfen seines Vaters wollte er allerdings nicht treten und so begann er schon in den 70-er Jahren mit der von der Mutter geschenkten Kamera Super-8-Filme zu drehen. Nach dem Yom-Kippur-Krieg widmete sich Gitai verstärkt dem Film und drehte zahlreiche Dokumentarfilme, darunter auch „Feld Tagebuch“, ein filmisches Tagebuch über die Situation in den besetzten Gebieten vor und nach dem Libanon-Krieg. Der Film wurde, ebenso wie die 1979 gedrehte Dokumentation „Haus“, vom israelischen Fernsehen zurückgewiesen, obwohl es die Arbeit beauftragt hatte. Mit der Rohkopie zog Gitai nach Frankreich und vollendete das „Feld-Tagebuch“ in Paris. Zehn Jahre lebte und arbeitete Amos Gitai in Paris, doch als Yitzhak Rabin den Friedensprozess mit Palästina in Gang setzte, kehrte Gitai mit seiner Familie 1993 wieder nach Haifa zurück. Nicht nur in Israel, auch in Frankreich und England ist Amos Gitai ein bekannter und geachteter Regisseur, in deutschsprachigen Ländern ist er weniger bekannt, auch wenn Hanna Laslo für ihre Darstellung der Hanna in Gitais Film „Free Zone“ 2005 einen Goldenen Bären in Cannes erhalten hat. Nachdem die jüdische Filmwoche 2005 Amos Gitai Tribut zollte und eine Reihe Spiel- und Dokumentarfilme im Original vorstellte, wird zuerst Berlin und dann auch das österreichische Filmmuseum Ende Februar 2006 eine breit angelegte Retrospektive mit Werken Amos Gitais zeigen. Für diese Werkschau werden die Filme eigens synchronisiert. Für die INW sprach Ditta Rudle mit Amos Gitais anlässlich seines Wien-Besuchs zur Eröffnung der Jüdischen Filmwochen 2005 und fand einen gebildeten Mann, der trotz der schwerwiegenden Thematik seiner Filme immer wieder mit hintergründigem Humor aufwartet. Zum Beispiel mit der Antwort auf die Frage, warum er Filme mache: Weil ich Architekt bin. Die ernsthafte Antwort gibt er dann auch:
Gitai: Israel und der gesamte Nahe Osten (Middle East) sind inspirierende, bewegende, verwirrende Plätze, sie legen Zeugnis ab. Ich beobachte gern, sehe mir meine Umgebung und die Gesellschaft genau an, kritisch, erkennend, mit leidend. Mit meinen Filmen kann ich davon berichten.
INW: Sie sind ein engagierter Filmemacher. Was ist Ihr Ziel als Regisseur?
Gitai: In meinem kleinen Mikrokosmos versuche ich Klischees zu vermeiden. Vor allem gibt es für mich nicht Schwarz und Weiß. Es ist nicht so, dass nur die einen Recht haben und die anderen Unrecht, oder umgekehrt: die anderen Recht und die einen Unrecht. Vielleicht haben beide Unrecht, sonst würde ja der Krieg nicht so lange dauern. In Europa gibt es so viele Richter, da wissen fast alle, was gut und böse ist. Sie benötigen ein wenig mehr Bescheidenheit uns gegenüber. „Uns“, damit meine ich Israelis und Palästinenser. Ich denke, vor 15 Jahren, da war Europa auch ganz anders, vor der „Wende“. Da war die Welt eine andere, man kann von außen nicht alles sehen. Deshalb sind die Europäer nicht in der Lage andere zu beurteilen. Wir – Israelis und Palästinenser – sind da bescheidener.
Dreharbeiten zu "Free Zone"
mit Natalie Portman und Hanna Laslo
INW: Es leben doch viele Juden in Europa.
Gitai: Es ist ein großer Unterschied zwischen der Community in der Diaspora und den Israelis. Ich urteile aber nicht über die jüdischen Gemeinschaften in anderen Ländern. Die Situation in Israel ist nicht zu vergleichen.
INW: In Ihren Filmen werden oft die Medien kritisiert. Was haben Sie auszusetzen?
Gitai: Die Medien, vor allem aber das Fernsehen, weniger Print und Radio, das sind die wahren Fiction-Produzenten. Jede Nachricht wird unter einem spektakulären Aspekt gebracht. In den Abendnachrichten wird nicht analysiert, es gibt keine Meldungen, sondern nur Event-Berichte. So entsteht in den Köpfen der Menschen ein ganz falsches Bild. Zum Beispiel: Alle Israelis sind Soldaten, alle Palästinenser sind Terroristen. Die Realität ist viel komplexer, aber wir sind nicht informiert. Die EuropäerInnen glauben, sie wissen etwas über den Nahen Osten, und buchen eine Reise. Dann sind sie geschockt. Die Realität ist nämlich ganz anders. Und für uns ist das wie eine Selbstvergiftung – die falschen Vorstellungen wirken zurück.
INW: Sie haben mit Dokumentarfilmen begonnen und machen jetzt Spielfilme, aber Ihr Zugang ist noch immer ein sehr dokumentarischer.
Gitai: Mein Problem ist, dass bei reiner Fiktion das Produkt zu glatt wird. Für einen Kinospielfilm müssen immer alle Hindernisse entfernt werden, doch Hindernisse sind anregend. Ich will keine „schönen Bilder“, meine Aufgabe ist es, Filme zu machen, die mit der Realität übereinstimmen und sie nicht beschönigen oder glätten. Ich will das Publikum aufregen, aber ihm nichts vorkauen. Ich meine, die ZuschauerInnen können selber denken. Wenn nicht, dann ist das nicht mein Problem. Ich will nicht indoktrinieren, ich will das Publikum nicht mit dem Flascherl füttern. Ich bin nicht Mc- Donald!
INW: In Israel und Frankreich werden Ihre Filme hoch gelobt, in Deutschland ist das nicht so, da gibt es eine kritische Distanz.
Gitai: Ich sage ja, ich erwarte ein denkendes Publikum. Wenn meine Filme in Österreich gespielt werden, dann wird sich zeigen, dass die Österreicher sehr intelligent sind.
INW: Das ist schon wieder ein Beispiel für Amos Gitais feinen Humor. In Ihren letzten beiden Filmen spielen Frauen die Hauptrollen, Frauen und Grenzen, glauben Sie, dass diese Grenzen bald fallen werden und es Frieden oder eine Art von Frieden im Nahen Osten geben wird? Gitai: Inschallah.
Dann erzählt er, was der Bürgermeister von Nablus ihm auf die gleiche Frage geantwortet hat: Wir können uns nicht erlauben, Pessimisten zu sein, seien wir also Optimisten, auch wenn das, was wir sehen, uns nicht glücklich macht. Vielleicht, so meint der Regisseur und Autor Amos Gitai, kann er mit seinen Filmen kleine Brücken bauen, damit wir unterschiedlicher Meinung sein können, ohne gleich Gewalt anzuwenden.
Bocks österreichischer Pass
Friedrich Bock, alias Frédéric Bordes, alias Fred Bordy war absolut kein Held und auch kein Abenteurer. Dass er dennoch ein aufregendes Leben führte (führen musste) , die meiste Zeit fern seiner Heimat Österreich, verdankt er seinem glühenden Patriotismus und der Mitgliedschaft bei der Vaterländischen Front, der von Bundeskanzler Dollfuß 1933 geschaffenen „überparteilichen“ politischen Organisation zur Zusammenfassung aller „regierungstreuen“ Kräfte Österreichs. Damit war Bock nicht nur ein Gegner des Anschlusses Österreichs an Hitler-Deutschland, sondern nur zwei Tage nach dem „Einmarsch“ Hitlers auch schon von der Gestapo gesucht.
Mit knapper Not entkommt er der Verhaftung, darf durch einen Schreibfehler in seinem Pass sogar die Grenze nach Italien passieren und landet kurze Zeit später in Paris.
Die Nazis haben den Rundfunk als breitenwirksames Propagandamittel schnell erkannt (Im modernen Krieg kämpft der Gegner nicht nur mit militärischen Waffen, sondern auch mit Mitteln, die das Volk seelisch beeinflussen und zermürben sollen. Eben dieses Mittel ist der Rundfunk, zitiert Pistor aus einer Verordnung des Ministerrats für die Reichsverteidigung) und bald erkennt man auch in Paris die Bedeutung der Radiowellen. Die Österreicher erhalten die Erlaubnis für einen Österreichischen Sender. Gegen die in allen Sprachen donnernden Propagandanachrichten des Reichsfunks soll es eine Stimme geben, eine österreichische Stimme. Fritz Bock meldet sich als Sprecher und gestaltet eine tägliche Nachrichtensendung für Österreich: Mit Harret aus! Österreich wird wieder frei! beendete er jede Sendung. Hoffnung für alle Schwarzhörer.
Weil auch Frankreich von den Nazis besetzt wird, flieht Bock, inzwischen französischer Staatsbürger, über Spanien, Portugal und Kanada in die USA. Dort wird er im Schnellsiedekurs vom „Office of War Information“ zum Rundfunkfachmann ausgebildet. Er nimmt die US-Staatsbürgerschaft an und berichtete in der „Voice of America“ für Österreich.
Als sich das Ende des Krieges abzuzeichnen begann wurde Bock als Radioreporter nach London geschickt. Von dort aus schilderte er die Befreiung Wiens. Immer noch hatte Fritz Bock, der nun Fred Bordy hieß, seinen österreichischen Pass, doch sein sehnlichster Wunsch, wieder in seiner Heimat leben und arbeiten zu können, erfüllte sich nicht. Fritz Bock starb im Februar 1967 in Bad Godesberg. Friedrich (Fritz) Bock, geboren 1901, auch wenn in seinem Pass 1900 steht, ist übrigens lediglich ein Namensvetter, doch kein Verwandter des 1993 gestorbenen ehemaligen Handelsministers und VP-Vizekanzlers gleichen Namens.
Der Wiener Journalist Gerhart Pistor hat viele Gespräche mit Bock geführt und seine Lebensgeschichte (samt den Liebesgeschichten) aufgeschrieben. Pistor erzählt in diesem Buch nicht nur vom„Harretaus“ (so nannte ihn der Gärtner Otto von Habsburgs, als Bock bei diesem vorstellig wurde) sondern zugleich ein Stück österreichische Geschichte. Pistor erzählt mit Engagement, oft mit hintergründigem Humor, doch ohne zu werten. Seine akribischen Recherchen der Atmosphäre im Vorkriegsösterreich und den Emigrantenzirkeln nach dem Einmarsch, die zahlreichen im Wortlaut wiedergegeben Belege politischer Noten, Verträge, Manifeste, und persönliche Briefe (etwa der Briefwechsel Anfang 1938 zwischen Otto von Habsburg und Kanzler Schuschnigg, der in der Pariser Emigrantenzeitung „Österreichische Post“ zum ersten Mal auf Deutsch wiedergegeben worden ist) und schließlich die von Bock dem Autor noch persönlich anvertrauten Fotos und Dokumente ergänzen und stützen die Lebensgeschichte des ehemaligen Druckereiverantwortlichen und Kasperlsprechers im Wiener Wurstelprater. Sie liest sich wie ein Roman ohne den Anspruch auf ein Sachbuch zu verraten.
Ditta Rudle
Gerhart Pistor: „Harret aus!“ Eine Stimme für Österreichs Freiheit“, Verlag Pollischansky (Dreyhausenstraße 16, 1140 Wien), 208S., 48 Abbildungen. € 19,80.
Hans Keilson, Schriftsteller und Therapeut, muss entdeckt werden. Die neue zweibändige Werkausgabe macht die bereichernde Bekanntschaft möglich.
Erst im Juni 2005 hat ihn die deutsche Akademie für Sprache und Dichtung mit dem Johann Heinrich Merck-Preis ausgezeichnet. Da war Hans Keilson bereits 95 Jahre alt.
Immer noch rege und aktiv, kann Keilson, trotz seines hohen Alters, als junger Schriftsteller gelten, wird er doch gerade erst so richtig entdeckt. Zu danken ist diese lohnende und bereichernde Auflesung dem S. Fischer Verlag und den Literaturwissenschaftlern Heinrich Detering und Gerhard Kurz. Gemeinsam haben sie das Werk Hans Keilsons in einer zweibändigen Ausgabe herausgebracht. Sorgfältig editiert, lobt die Kritik.
Keilson, Nervenarzt, Psychoanalytiker und Schriftsteller, wurde am 12. Dezember 1909 als Sohn eines jüdischen Textilhändlers in Bad Freienwalde an der Oder geboren. Über seine Eltern schreibt er, dass sie ihr ehrbares, von äußeren Zwängen bedrohtes Leben, liberal gelöst von der jüdischen Orthodoxie, im Bewusstsein ihrer inneren und äußeren Zugehörigkeit zur gleichgestimmten Gruppe, der sie entstammten, führten. Der Sohn durfte nach Berlin gehen, um Medizin und Sport zu studieren. 1933 erschien sein erster Roman, „Das Leben geht weiter“, bei S. Fischer, das letzte Debüt eines jüdischen Autors im Verlag. Das Buch über seine Jugend in der Zwischenkriegszeit, erinnert sich der Autor, erschien gerade noch zeitig genug, um verboten zu werden. Das Staatsexamen als Mediziner kann er 1934 noch ablegen, doch praktizieren darf der junge Arzt nicht mehr und muss überdies – ein Treppenwitz der Geschichte –nach Kriegsende neuerlich Medizin studieren, da seine deutschen Zeugnisse in Holland nicht anerkannt werden. Bis 1936 arbeitet er noch als Sportlehrer an jüdischen Schulen in Berlin, doch dann gibt er auf. Mit seiner Frau flieht er in die Niederlande, wo er sich als Kinderarzt durchschlägt, holländische Anthologien herausgibt und Gedichte auf Deutsch schreibt. Es gelingt ihm, eine Einreiseerlaubnis für seine Eltern zu erhalten. Dann besetzen die Nazis auch die Niederlande. Die Eltern werden deportiert und ermordet. Keilson muss sich, getrennt von seiner Frau, verstecken. Er lebt im Untergrund und arbeitet als Arzt und Kurier für eine Amsterdamer Widerstandsgruppe.
Nach dem Krieg gründet Hans Keilson gemeinsam mit anderen Überlebenden die Organisation „Le Ezrat Ha Je led / Zur Hilfe des Kindes“, zur Betreuung jüdischer Waisenkinder, die den Holocaust überlebt haben. Mit den Erkenntnissen aus der Arbeit mit den Kindern beschäftigt sich auch seine Doktorarbeit über die „Sequentielle Traumatisierung bei Kindern“, längst ein Standardwerk und immer wieder neu aufgelegt (Psychosozial-Verlag, 2005).
Die Themenkreise, die Keilson als Schriftsteller am Herzen liegen, haben einen weiten Radius, doch besticht sein literarisches Werk durch einen wohlwollenden, ja nahezu gütigen und vor allem vorurteilslosen Blick auf die Menschen. Keilson fragt nicht nach Schuld, sondern sucht nach Gnade; er predigt nicht Hass, sondern Versöhnung und er ist sich der Gemeinsamkeiten (vor allem des kulturellen Erbes) und Verbindungen von Tätern und Opfern bewusst. Nicht alle seine Leser sind mit dieser versöhnlichen Haltung einverstanden. Hans Keilson weigert sich zwar zu verallgemeinern und neigt mehr zur Analyse als zum schnellen Urteil, doch ist seine Haltung gegenüber verwurzeltem und neu aufkeimendem Antisemitismus eindeutig. Auch der milde Blick hat seine Grenzen. Keine Zweifel gibt es an Keilsons Beherrschung der deutschen Sprache, ein wahrer Souverän, ist er seiner Muttersprache treu geblieben, auch wenn er nun niederländischer Staatsbürger ist.
Dennoch musste er die bittere Erfahrung mit dem Ende der Sprache machen: Ich habe als Arzt und als Psychiater meine erste Erfahrung mit einem Kind, das aus Bergen-Belsen zurückkam, wo es seine Eltern und vier Geschwister verloren hat, diesen Jungen, ich hab’ ihn genau beschrieben in meiner Untersuchung. Das war im November 1945, dass ich dieses Kind sah, einen Jungen von zwölf Jahren, schon also sehr früh, als es zurückkam. Das Gespräch, diese Untersuchung, ist völlig zusammengebrochen, weil ich die Worte nicht fand, die gemäß waren der Sprache, die der Junge im Konzentrations- und Vernichtungslager erfahren hatte... (Dr. Hans Keilson in einem Interview mit Ulrike Müller am 8. 4. 1995. Quelle: www.exil-archiv.de/). Verarbeitet hat Keilson seine Erfahrungen (und seinen Schmerz über eigene Verluste) im Gedichtzyklus „Sprachwurzellos“ und in der Essaysammlung „Wohin die Sprache nicht reicht“. Allerdings wehrt er sich im gleichnamigen Aufsatz gegen Wittgensteins Diktum Worüber man nicht reden kann, darüber soll man schweigen: Ich teile diese Meinung nicht, man sollte es immer wieder aufs neue versuchen. Dass das Leben oft nur mit (bitterem) Humor zu ertragen ist, beweist Keilsons erste Prosa nach Kriegsende. „Komödie in Moll“ ist eine tragikomische Geschichte über einen jungen Juden, der während der Besatzung von einem niederländischen Ehepaar versteckt wird. Als er plötzlich stirbt, muss das Paar die Leiche los werden, ohne dass die NS-Besatzer aufmerksam werden. Nicht nur grotesk sondern auch zutiefst menschlich, wie alles, was Keilson, seien es die Gedichte, die Essays oder die Romane, geschrieben hat, und immer noch schreibt.
Wenn Hans Keilson sagt Die Literatur ist das Gedächtnis der Menschheit: Wer schreibt, erinnert sich, und wer liest, hat an Erfahrungen teil, so darf das als persönliches Credo gehört werden. Seit 1951 lebt er im holländischen Bussum, einer kleinen Stadt zwischen Amsterdam und Utrecht, betreut holländische KlientInnen und schreibt immer wieder auf Deutsch. Von 1985 bis 1988 war er Präsident des PEN-Zentrums „German Speaking Writers Abroad“, Gastprofessor in Kassel und wurde 1999 korrespondierendes Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Neben seinem Dr. med trägt er auch den Titel eines Ehrendoktors der Universität Bremen.
Hans Keilson: Werke in zwei Bänden. Bd. 1: Romane und Erzählungen, Bd. 2: Gedichte und Essays. Herausgegeben von Heinrich Detering und Gerhard Kurz. S. Fischer, 2005. 1097 S., 66,80 EUR.
Für den amerikanischen Geheimdienst war er der „Dirigent“, seine Mitarbeiter trugen die Codebezeichnung „Orchester“. Gemeint war damit Asher Ben-Natan, der in Wien stationierte Leiter der „Bricha“, zu Deutsch „Flucht“. Diese im Untergrund operierende zionistische Organisation versuchte alles nur Menschenmögliche, um die Überlebenden der Shoah irgendwie nach Palästina zu bringen. Kein leichtes Unterfangen, denn Europas Infrastruktur war zerstört, die Flüchtlingsströme schwollen nach erneuten Pogromen wie beispielsweise in Polen gewaltig an und die britische Mandatsmacht zeigte sich recht innovativ wenn es darum ging, Juden an der Einreise nach Palästina zu hindern. Last but not least standen die Operationsgebiete der „Bricha“ unter der administrativen Oberhoheit der vier Siegermächte, so dass die Bewegungsmöglichkeiten zwischen den Besatzungszonen bereits für den Einzelnen äußerst eingeschränkt waren, von Gruppen, die nach Hunderten zählten, ganz zu schweigen.
Asher Ben-Natan, 1921 selbst in Wien geboren, erweist sich in den Jahren zwischen 1945 und 1947 trotz all dieser widrigen Umstände als wahres Organisationsgenie, wenn es darum geht, überlebenden Juden zu helfen. Immerhin 120.000 Personen konnte das „Reisebüro im Untergrund“ während seiner Amtszeit helfen. Das Rezept seines Erfolges war das gezielte Ausnutzen antisemitischer Ressentiments, insbesondere der österreichischen Behörden, sowie des Wunsches der Besatzungsmächte, die jüdischen Flüchtlinge so schnell wie möglich wieder loswerden zu wollen. Bemerkenswert war dabei sein äußerst selbstbewusstes Auftreten gegenüber allen Offiziellen. Asher Ben-Natan wirkte in den zahlreichen Verhandlungen nicht selten wie der Vertreter einer „fünften Besatzungsmacht“ in Österreich und das, obwohl die „Bricha“ eigentlich nichts anderes war als die mit spärlichen finanziellen Mitteln ausgestattete und dazu noch illegale Fluchthelferorganisation eines nicht existierenden Staates. Chuzpe war offensichtlich alles. Sie haben die Wahl zwischen organisierten Flüchtlingstransporten, von denen ich Ihnen immer die genaue Anzahl der Reisenden mitteilen kann oder unorganisierten Massenwanderungen. Ihnen wird dann einiges blühen: nicht 150 von uns versorgte Menschen erreichen Ihre DP-Camps, sondern eine nicht kontrollierbare Anzahl Flüchtlinge wird von kriminellen Schleppern in Ihre Zone gebracht. Wollen Sie das wirklich? Mit diesen Worten skizzierte er beispielsweise einer amerikanischen Delegation, die sich mit dem Problem der Flüchtlinge beschäftigen sollte, das Szenario vor Ort und ließ ihnen keine andere Wahl, als die „Bricha“ zu unterstützen.
Asher Ben-Natan legte einen geradezu sportlichen Ehrgeiz an den Tag, wenn es darum geht, den Besatzungsmächten immer eine Nasenlänge voraus zu sein oder aber die Rivalitäten der Alliierten rechtzeitig zu erkennen und irgendwie für die eigenen Zwecke auszunutzen. Davon weiß er aus erster Hand eine Menge zu berichten. Und wie man bei der Lektüre des Buches rasch erkennen kann, hatte der „Bricha“-Chef im Erfolgsfall nicht selten seine diebische Freude dabei. Doch Asher Ben- Natan war sich die ganze Zeit bewusst, dass es sich bei all den Ränkespielen nicht um einen sportlichen Wettbewerb handelte, sondern um Menschen, die in den Konzentrationslagern oder auf der Flucht Schreckliches erlebt hatten. Während ihres befristeten Aufenthaltes in Österreich und vor der weiteren strapaziösen Flucht Richtung Eretz Israel sollten sie auch ein Stück Normalität erfahren können. Deshalb leitete die „Bricha“ in Wien und anderen Orten auch Kindergärten und sorgte für einen geregelten Nachschub mit Lebensmitteln. Und dennoch: Es war nicht einfach für Überlebende und die Juden aus Palästina, zueinander zu finden. Asher Ben-Natan, der stolze „Neue Hebräer“, ist voller Empathie für die Flüchtlinge, ein Phänomen, das bei vielen Organisatoren der illegalen Einwanderung zu beobachten ist, aber für Juden, die bereits in Palästina lebten, nicht immer etwas Selbstverständliches. Zu oft wurden damals Vorwürfe gegenüber Shoah-Überlebende artikuliert, nicht ausreichend Widerstand geleistet zu haben.
Geschickt verwebt Asher Ben-Natan, übrigens später der erste israelische Botschafterin der Bundesrepublik, die eigene persönliche Lebensgeschichte mit seiner Rolle als oberster Fluchthelfer von Wien. Genau deshalb hinterlässt das Buch auch einen besonders starken Eindruck, denn er erweist sich dabei als sehr authentischer Erzähler, der Geschichte aus erster Hand spannend und sehr plastisch zu berichten vermag.
Ralf Balke
Asher Ben-Natan, Susanne Urban: Die Bricha – Aus dem Terror nach Eretz Israel. Ein Fluchthelfer erinnert sich. Droste 2005, S. 272 mit 25 s-w Fotos. € 19,50.
Letzte Änderung: 03.01.2012
Webmeisterin+Redaktion: Mag. Ditta Rudle
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