Dorit Feldman: The Wandering Library 2004
Die Chefredakteurin und Herausgeberin der INW Joanna Nittenberg wurde mit dem Goldenen Ehrenzeichen des Landes Wien für ihre über 30-jährige Tätigkeit geehrt. Stadtrat Andreas Mailath-Pokorny unterstrichbei der Überreichung von Ehrenzeichen und Urkunge den unermüdlichen Einsatz Nittenbergs für den Dialog der Kulturen. Heute sei es wichtig nicht nur von Toleranz zu sprechen – ein Ausdruck, dem etwas Herablassendes anhafte –, viel mehr gelte es Respekt vor dem Anderen zu zeigen.
Untenstehend finden Sie die Laudatio von Univ.-Prof. Dr. Anton Pelinka, die humorvolle Rede von Doron Rabinovici, der heuer von der Zeitschrift Buchkultur zum Autor des Jahres gewählt wurde, sowie die Dankesrede der Geehrten.
Joanna Nittenberg ist Österreicherin, und sie ist ganz speziell Wienerin. In Wien besuchte sie Volksschule und Gymnasium. An der Universität Wien studierte sie Publizistik und Germanistik – und promovierte 1971 mit einer Dissertation über „Kurt Tucholsky und die publizistische Auseinandersetzung mit der Weimarer Republik in der ‚Weltbühne’“. In Wien begann sie ihre berufliche Karriere. Und es ist Österreich, ganz speziell die österreichische Politik, mit der sie sich besonders intensiv – und das heißt natürlich besonders kritisch – auseinandersetzt. In Wien gründete sie ihre Familie. In Wien lebte sie, nach dem frühen Tod ihres Mannes, als allein erziehende Mutter zweier Kinder. Doch Joanna Nittenberg konnte dabei auch auf eine größere Familie zurückgreifen – auf ihre Eltern. Ihr 2002 verstorbener Vater, Dr. Anton Winter, war ein prominenter Anwalt, insbesondere im Wien der Nachkriegsjahre. Prominent und engagiert vor allem in der und für die Israelitische Kultusgemeinde. Und das erklärt einen weiteren, den zweiten zentralen Aspekt von Joanna Nittenbergs Identität:
Joanna Nittenberg ist Jüdin, genauer, um mit Moshe Dayan zu sprechen, eine sehr jüdische, weil für ihr Judentum besonders engagierte Jüdin. Ihr Judentum begründet ihre besondere – selbstverständlich keineswegs unkritische – Loyalität mit dem Judenstaat, mit Israel, und mit dem Zionismus. Nittenberg lebt vor, dass Identität und damit Loyalität nicht eindimensional sein müssen, ja gar nicht eindimensional sein können. Und dass eine mehrfache Loyalität – am Beispiel Nittenberg: ihre Loyalität gegenüber Österreich und ihre Loyalität gegenüber Israel – einander ergänzen, einander bereichern. Joanna Nittenberg erregt sich, freut sich, ärgert sich über österreichische Politik genauso wie sie sich über europäische, über amerikanische und natürlich ganz speziell über israelische Politik erregt, freut, ärgert.
Nittenbergs Judentum äußert sich in vielen Aspekten ihres Lebens. Sie ist aktiv in verschiedenen jüdischen, speziell auch zionistischen Organisationen. Sie ist Mitglied des Kuratoriums des Versöhnungsfonds. Sie schlägt, durch ihre vielen Tätigkeiten, immer wieder Brücken zwischen Israel und Österreich – so, wenn sie entscheidend mithilft, Ausstellungen aus Wien nach Israel, aber auch Ausstellungen von Beth Hatefutsoth, dem Diaspora-Museum in Tel Aviv, nach Wien zu bringen: Zum Beispiel diese Ausstellungen „Juden aus Ungarn“ und „Kafkas Prag“.
Doch das wohl wichtigste Merkmal von Nittenbergs doppelter Identität und Loyalität ist ihre berufliche Tätigkeit als Journalistin. Seit 1974 ist sie Herausgeberin und Chefredakteurin der „Illustrierten Neuen Welt“ – der Zeitung, die direkt auf Theodor Herzl zurückgeht; und der auch, unter dem Einfluss von Robert Stricker, in der Zwischenkriegszeit eine wichtige Rolle im jüdischen Leben Österreichs zukam. In dem von ihr 1997 herausgegebenen Buch „Wandlungen und Brüche – Von Herzls ‚Welt’ zur ‚Illustrierten Neuen Welt’“ wird diese spezielle Seite der Kontinuität des österreichischen Judentums nachgezeichnet und analysiert.
In Österreich gab es – allen Anfeindungen einer antijüdischen Umwelt zum Trotz – immer Platz für Menschen jüdischen Glaubens, jüdischer Herkunft, jüdischer Identität; zumindest solange es Österreich gab, und sicherlich seitdem es Österreich wieder gibt. Die Existenz jüdischer Identität war und ist an die Existenz österreichischer Identität geknüpft. Die radikalsten, die konsequentesten Kämpfer gegen die eine waren auch die radikalsten, die konsequentesten Kämpfer gegen die andere Identität.
Daraus ist wohl eine eindeutige Schlussfolgerung zu ziehen: Österreich ist Österreich, solange es, neben dem christlichen und agnostischen und neben dem zunehmend auch islamischen Österreich, immer auch ein jüdisches Österreich gibt. Zur österreichischen Identität gehört, dass sich in Österreich Menschen jüdischer Identität zuhause fühlen können – wie Menschen katholischer oder protestantischer, slowenischer oder kroatischer, speziell feministischer oder speziell Vorarlberger Identität auch.
Dass Menschen jüdischer Identität in Österreich immer wieder mit antisemitischen Tendenzen konfrontiert werden – das kann man in Joanna Nittenbergs Zeitschrift nachlesen. Die „Illustrierte Neue Welt“ ist die Chronistin des Ungeistes, der in Österreich nach wie vor lebt; der manchmal verschämt und versteckt, manchmal unverschämt und offen auftritt. Dass der Antisemitismus ein Übel ist, an dem zwar die Jüdinnen und Juden zu leiden haben – dass dieses Übel aber die gesamte Gesellschaft vergiftet; dass der Antisemitismus, nach Jean Paul Sartre, nichts über Juden – aber alles über Antisemiten aussagt: Das aufzuzeigen ist, neben der Förderung der Beziehungen zwischen Österreich und Israel, die wichtigste Aufgabe Joanna Nittenbergs und ihrer Zeitschrift.
Diesen publizistischen Kampf gegen den Ungeist führt Joanna Nittenberg nicht sosehr im eigenen Interesse, auch nicht sosehr im Interesse der Jüdinnen und Juden dieses Landes. Sie kämpft diesen Kampf auch und vor allem im Interesse Österreichs, im Interesse der Demokratiequalität in diesem Land, im Interesse von Österreichs Europa- und Weltoffenheit. Die Auseinandersetzung mit dem österreichischen Antisemitismus ist zuallererst eine Sache Österreichs – und zwar insbesondere des nicht-jüdischen Österreich.
Joanna Nittenberg – als Frau generell und als Journalistin speziell – ist zu einem der Zentren jüdisch-österreichischer Intellektualität geworden. Wären wir im Wien des Fin de Siècle, könnte man von einem Salon sprechen, dem sie Mittelpunkt ist. Nittenberg und ihre Zeitschrift stehen für ständige Auseinandersetzung mit den Tendenzen, die Österreich und Israel, die Europa und die Welt bestimmen. Diskussionen über den Zionismus und dessen verschiedene Strömungen, über Revisionismus und Sozialismus und Liberalismus; über Toleranz und deren Grenzen, über die Möglichkeit und Unmöglichkeit von Wiedergutmachung, über die Chancen eines Friedens im Nahen Osten, über das Zusammenspiel von Antiamerikanismus und Antisemitismus und Antiglobalisierungsaktivismus, kurz, über all das, worüber sich so trefflich streiten lässt – alles das wird durch Nittenbergs Persönlichkeit angeregt und gefördert.
Das ist das Gegenteil von all dem, was fundamentalistisch oder totalitär ist: immer mit Selbstzweifel und Skepsis versehen wird alles und jedes besprochen und ausgeleuchtet; alles ist erlaubt – nur nicht das Verbot von Zweifel und Skepsis. Was wäre das österreichische Geistesleben ohne diese auch und gerade von Joanna Nittenberg repräsentierte Form jüdisch-österreichischer Intellektualität?
Die Liste der Autorinnen und Autoren der „Illustrieren Neuen Welt“ ist wie ein „Who is Who“ des österreichischen und des jüdischen, das heißt eben des österreichisch-jüdischen Diskurses. Es ist die Liste von Namen, die mit der neuen Aufklärung, mit dem Kosmopolitismus assoziiert werden; mit jenem Geist, den der Nationalsozialismus fast vernichtet hätte; mit jenem Geist, der nicht zufällig von Stalin zum Feindbild erklärt wurde; mit jenem Geist, der 1945 und danach zum Nachteil Österreichs nicht oder nur zögerlich zur Rückkehr eingeladen wurde; mit jenem Geist, aus dem das Konzept der universellen Menschenrechte kommt. Dieser Geist ist kein jüdischer – denn er entzieht sich allen Etiketten. Aber er wurde nie sosehr verletzt und bedroht wie im Vernichtungskampf des Nationalsozialismus gegen das Judentum.
Das alles führt uns Joanna Nittenbergs persönliches und berufliches Leben vor Augen. Sie kann in Österreich nur deshalb wirken, weil vor sechs Jahrzehnten Hitler-Deutschland, also das NS-Regime, seine Götterdämmerung, seinen Untergang erlebt hat, an den wir heuer wieder zu erinnern haben. Österreich ist nicht frei, weil 1955 die Alliierten abzogen und sich das Land für immerwährend neutral erklärte; Österreich ist frei, weil 1945 eben diese Alliierten dem nationalsozialistischen Terrorregime eine Ende bereitet und damit die Wiedererstehung Österreichs und die Entwicklung der österreichischen Demokratie ermöglicht haben. In diesem Sinne muss der Satz „Österreich ist frei“ auf das Jahr 1945 bezogen werden.
Das Jahr der Freiheit war 1945. Und diese Freiheit wurde uns von außen gebracht – von den Truppen, die Hitler-Deutschland bekämpften und besiegten. Dem österreichischen Widerstand alle Ehre – aber entscheidend waren die Armeen, die 1945 auf das Gebiet Österreichs vorrückten, um es zu befreien.
Den Alliierten sei Dank; Dank auch dafür, dass ihr Sieg die Voraussetzung und die Grundlage hergestellt hat, die Menschen wie Joanna Nittenberg ein Leben und Wirken in Wien erlauben – auch und vor allem zum Vorteil Wiens und Österreichs.
Laudatio, gehalten anmläßlich der Überreichung des Goldenen Ehrenzeichens im Wiener Rathaus, 19. Jänner 2005
Ergriffen und gerührt stehe ich vor Ihnen und möchte mich für Ihr Kommen bedanken. Danken möchte ich vor allem allen Mitarbeitern – und wir sind ein weit verzweigtes – sogar weltweit verzweigtes Team – ohne deren Einsatz die Herausgabe solch einer Zeitung gar nicht möglich wäre. Danken möchte ich an dieser Stelle auch den Förderern – wobei ich sowohl die materiellen als auch geistigen meine. Oft habe ich in vielen Gesprächen mit unterschiedlichsten Menschen meine Standpunkte, Ängste und aber auch Enttäuschungen diskutiert. Selbstverständlich kann ein Projekt wie die Herausgabe solch einer Publikation nicht ohne materielle Unterstützung verwirklicht werden. So möchte ich auch der Gemeinde Wien danken, die oft in kritischen Situationen aushalf. Aber auch allen anderen Förderern sei hier nochmals gedankt.
Besonders danke ich Anton Pelinka für seine Laudatio. Ich selbst sehe mein Leben eher als eine Gratwanderung, die schon in meiner Kindheit begann. Als Flüchtlingskind von Holocaust-Überlebenden in Wien aufgewachsen – erkannte ich sehr früh, wenn auch noch unbewusst, die Existenz verschiedener Wirklichkeiten. Meine Lehrer und Mitschüler äußerten ganz andere Meinungen über den Krieg als ich zu Hause oder in meiner jüdischen Umgebung hörte. Es gab auch in jüdischen Kreisen mehrere Überlebensstrategien nach dem Krieg. Die einen meinten sie hätten genug Leid erfahren und wollten ihr Judentum mehr oder weniger loswerden und die anderen, dazu gehörten auch meine Eltern, denen ich für diese Haltung dankbar bin, vertraten die Meinung – Jetzt erst recht – wir haben überlebt und dies müsse einen Sinn haben… In meiner Familie wurde das oft so schwer definierbare Judentum bewusst und nachdrücklich gepflegt, jedoch ohne übertriebene Regeln. Gleichzeitig fühlte ich mich integriert, und war fasziniert von Wien, dieser so facettenreichen Stadt. Leider blieben mir offene und versteckte antisemitische Äußerungen nicht erspart. So war es zwar ein Zufall, als ich die Zeitung übernahm, aber ich glaube nicht ganz an Zufälle, eher Bestimmungen – auf alle Fälle hatte ich Glück eine Arbeit zu finden, die meiner Lebenshaltung entspricht. Mir ging es immer darum Brücken zu schlagen – eine Brücke zwischen der jüdischen und nichtjüdischen Welt – eine Brücke zwischen Österreich und Israel – eine Brücke, um die Gratwanderungen sanfter zu gestalten. Dem Motto der Zeitung – durch Aufklärung mehr Toleranz zu erreichen – versuchten wir in der Illustrierten Neuen Welt gerecht zu werden. Es ging nicht nur darum vergessene KünstlerInnen und Persönlichkeiten aus verschiedenen Gebieten wieder in Erinnerung zu bringen – vor allem ging und geht es auch um Information – und mit dieser Aufklärung auch um die verschiedenen Wirklichkeiten – und immer wieder um die Bemühungen, eine Normalität in den oft belastenden Beziehungen zu erlangen. Gerade in letzter Zeit ist die Berichterstattung über Israel sehr einseitig – zumindest was die österreichischen Medien betrifft – so sehe ich es auch als Aufgabe, andere Aspekte in die Debatte einzubringen.
Wenn ich auch oft in verschiedenen Diskussionen mit gegenteiligen Äußerungen konfrontiert wurde, so kann ich dennoch sagen, dass ich in allen Lagern – außer in einem – Freunde gefunden habe. Für manche war ich manchmal zu links, zu progressiv, für andere wiederum zu konservativ und rechts – auch das eine Gratwanderung, der Versuch, in dem Angebot verschiedener Anschauungen den eigenen Charakter zu bewahren. Ich glaube, dass dieses gelegentliche kontroversielle Miteinander, die Kritik und der Versuch, durch den Austausch von Gedanken, Verständnis und Toleranz zu fördern, auch ein Beitrag zur Vielfalt dieser Stadt ist.
Sie werden verstehen, was es für mich bedeutet, diese Auszeichnung nicht nur als Journalistin, Herausgeberin einer Zeitung, also für meine Arbeit, als Anerkennung für eine persönliche Leistung zu erhalten, sondern als Herausgeberin gerade dieser Zeitung, deren Wurzel auf Theodor Herzl zurückreichen. Neben der persönlichen Genugtuung, die ich empfinde, unterstreicht diese Stadt damit auch die Bemühungen, auch weiterhin der Toleranz und Vielfalt verpflichtet und aufgeschlossen zu bleiben.
Ich hoffe auch in Zukunft durch meine Tätigkeit weiter ein wenig dazu beitragen zu können. Nochmals herzlichsten Dank.
Liebe Hania,
wenn Theodor Herzl nach beinah hundert Jahren wieder auf der Erde wandelte, wäre er vielleicht nicht so erstaunt von der Existenz des Judenstaates, denn dessen Gründung hatte er ja vorausgesagt, aber er wäre erstaunt, dass seine Zeitung: „Die Neue Welt“ immer noch erscheint. Vielleicht wäre er ein wenig verwundert, dass die Zeitung nun eine Illustrierte ist, doch vollkommen überrascht wäre er von ihrer Herausgeberin, besser gesagt von ihrem Lachen. Denn – es geht nicht an und ich werde es nicht zulassen – dass wir heute von Hania sprechen und sie feiern, ohne von diesem Lachen zu reden, der Fanfare des Wiener Zionismus, jenem einschüchternden Kampfsignal gegen alle Antisemiten und alle Israelfeinde, die Alarmanlage der Israelitischen Kultusgemeinde.
Ich kenne diesen Sirenengesang des alpenländischen Judentums seit meiner Kindheit. Ich hörte ihn auch vor achtzehn Jahren, bei jenem historischen Ereignis, als Hania Nittenberg auf Teddy Kollek traf, sich ihm von hinten anpirschte und mit ihrer glockenhellen, aber um so eindringlicheren Stimme sprach: „Guten Tag, ich bin auch aus Wien.“ Teddy Kollek drehte sich kaum um und sagte über die Schulter hinweg: „Na, da tun Sie mir aber leid.“
Es war genau dieser Moment, in dem Hania loslachte und wenn manche meinen, es sei die diplomatische Offensive des Wiener Bürgermeisters und Amtskollegen Helmut Zilk, die Dröhnstimme des künftigen Krone-Ombudsmannes gewesen, die Teddy Kollek niederzwang, die ihn von seinem Vorsatz, sich nie wieder mit Österreich zu versöhnen, abbrachte, die ihn gegenüber seiner Geburtsstadt kapitulieren und resignieren ließ, der irrt. Ich weiß, ich kann und werde es bezeugen, es war eigentlich Hanias Lachen, dessen Wirkung nach vielen Jahren das Abwehrsystem des zionistischen Pioniers ausgehöhlt hatte und ihn in die Knie sinken ließ. Letztlich hätte sie allein für diese Großtat die Ehrenbekundung der Stadt Wien verdient, denn was sind schon die Posaunenorchester Jerichos gegen diese Schalmeienklänge aus der Josefstadt? Sie brachten Kolleks Prinzipien und Dogmen zum Einsturz.
Hania ist eben eine Wunderwaffe, wenn es darum geht, Juden und Nichtjuden, Österreichern oder Israelis vor Augen zu führen, wie kleinformatig hierzulande das Ressentiment ist, dass ein Dichand die heimische Maßeinheit für Geschichtsverleugnung ist und warum Österreich letztlich die wissenschaftliche Widerlegung der geotektonischen Erkenntnis ist, dass ein Sumpf keine Gipfel hat. Hania kenne ich seit langer Zeit, und zwar in verschiedenen Rollen. Sie ist erstens die Freundin meines Vaters und meiner Mutter. Sie ist weiters die Mutter zweier meiner Freunde, aber sie ist vor allem eine meiner besten Freundinnen; oder wie Saddam Hussein jetzt gesagt hätte, wenn er nicht gerade heute verhindert wäre: Sie ist die Mutter aller Freunde.
Sie ist als Freundin und als Aktivistin unermüdlich. Es mag vorkommen, dass wir an einem Abend nicht wissen, ob wir zu einer Podiumsdiskussion über den Rechtsextremismus, einer Lesung gegen Neonazismus oder der Vernissage eines israelischen Künstlers gehen sollen. Aber wir wissen zumindest eines, wohin wir auch gehen werden, Hania wird schon dort sein. Sie schafft es, jedem Termin gerecht zu werden und über alle Ereignisse zu berichten.
Für mich ist Hania deshalb seit Jahren allgegenwärtig. Zu Yom Kippur sehe ich sie oft zuerst in der Synagoge darben, danach beim Ausfasten und Sattessen gemeinsam mit meinen Eltern, aber später, wenn alle nach Hause gegangen sind und schlafen, noch mit Elfriede Gerstl und Robert Schindel im Engländer. Überall, an jedem Platz, braucht es aber ihre unverbrüchliche Freundschaft, braucht es ihr Lachen, braucht es ihre Treue und Beständigkeit, mit der sie die Welt, die Neue illustriert.
Danke, Hania
Laudatio, gehalten anlässlich des Festes im Wiener Ensembletheater, 23. Jänner 2005
Die Revolution begann mit einem Gesangswettbewerb im Libanon. Die arabische Mischung von „Eurovision“ und „Deutschland sucht den Superstar“, die letzten Sommer zum zweiten Mal ausgestrahlt wurde, löste eine beispiellose Ekstase aus. In der gesamten arabischen Welt SMSten Menschen sich die Finger wund, um ihren bevorzugten Sänger in die nächste Runde zu befördern. Die reaktionären Strömungen im Orient lehnten den Wettbewerb entschieden ab, aber der Samen revolutionärer Ideen war breits gesät: die erste wirklich freie Wahl weckte nur den Appetit der Massen allerorts, die nun ihr gutes Recht auch im Alltagsleben fordern.
Nach 50 Jahren politischer Stagnation gibt es Anlass zur Hoffnung, dass das menschliche Drama im Nahen Osten eine überraschende Wende nimmt. Auf gleich fünf verschiedenen Bühnen spielen sich Prozesse ab, die noch vor zwei Jahren undenkbar waren. Im Irak, in Palästina, Syrien/Libanon, in Ägypten und Saudi Arabien finden lokale Umwälzungen statt, die miteinander verbunden sind und sich von einander abhängig gegenseitig beschleunigen. Wie der friedlich erzwungene Rücktritt der libanesischen Regierung zeigt, haben die Vorgänge schon begonnen sich zu verselbstständigen. In wenigen Jahren könnte so eine der rückständigsten Regionen der Welt die alte Maske der ignoranten, reaktionären und rückständigen Autokratien ablegen und für die eigenen Bevölkerungen ein hoffnungsvollerer neuer Akt beginnen.
Vier Entwicklungen haben dazu beigetragen, die Idee politischer Emanzipation für die Massen in der arabischen Welt so greifbar zu machen, dass sie nun bereit sind auf den Straßen zu demonstrieren und Folter und Gefängnisstrafen dafür in Kauf zu nehmen. Der Auslöser war der Angriff Bin Ladens auf die USA und der daraufhin stattfindene Wechsel in der Nahostpolitik des Westens, insbesondere die pro-aktive Haltung des US-Präsidenten George W. Bush. Die eskalierende Konfrontation führte zu einer herben Diskussion innerhalb der arabischen Welt, die zunehmend wagte, bisherige Dogmen in Frage zu stellen. Bestes Beispiel hierfür sind die Arab Human Development Reports der UNO. In unverblümter Direktheit benennen in diesen für die Araber skandalösen Berichten arabische Intelektuelle drei Ursachen für die Rückständigkeit, Ungleichheit und Armut in der gesamten arabischen Welt. Solange nicht Emanzipation, Meinungsfreiheit und Mitbestimmung in der Region Einzug hielten, würden sich die Araber ständig weiter zurück entwickeln, so die Forscher. Auch der Westen erkannte, dass das wachsende Freiheits- und Gelegenheitsgefälle zu den Arabern den eigentlichen Nährboden für internationalen Terror bildet.
Die Leichtigkeit des Erfolges der amerikanischen Invasion des Irak und die neue Bush-Doktrin, die aggressiv die Demokratisierung des „größeren Mittleren Ostens“ propagiert, beeindruckten die Massen wie autokraten Regime im Nahen Osten. Bush implementiert den römischen Leitspruch: „Oderint dum metuant“, „Sollen sie nur hassen, solange sie fürchten“. Sein Ärger ist so überzeugend, dass kein arabischer Potentat es mehr wagt, sich in seinen Weg zu stellen. So haben fast alle Herrscher in Nahost die vorsichtige Gratwanderung zwischen der kompromisslosen amerikanischen Forderung nach Demokratisierung und der Erhaltung der eigenen politischen Macht begonnen.
Die Manövrierfähigkeit der Diktatoren, die ehedem nach freier Lust morden und verhaften konnten, wird weiter durch das arabische Satellitenfernsehen eingeschränkt. Die hauseigene Opposition kann nicht mehr völlig mundtot gemacht werden. Es ist im Gegensatz zu noch vor zehn Jahren schier unmöglich geworden, demonstrierende Menschenmengen brutal niederzuwalzen. Hinzu kommen die erfolgreichen Wahlen in Palästina und im Irak, Ausdruck des Hungers der Bevölkerung nach Mitbestimmung. Unter schwersten Bedingungen haben mutige Iraker und Palästinenser bewiesen, dass Demokratie auch unter Arabern möglich ist. Dass diese erfolgreichen Experimente nur unter westlicher Besatzung stattfinden konnten, ist allen Arabern ein Dorn im Auge.
Das Zusammenwirken dieser vier Faktoren, die Überprüfung der eigenen Mängel, die glaubwürdige Militanz der USA und ihre konsquente Unterstützung der Demokratie, die Verbreitung der Massenmedien sowie erfolgreiche Beispiele der Mitbestimmung in Ländern unter westlicher Okkupation haben eine kritische Masse erreicht, die die marode Stagnation der arabischen Politik in Bewegung bringt. In Ägypten stellt Hosni Mubarak erstmals die Aufstellung von Gegenkandidaten in den Präsidentschaftswahlen in Aussicht. In Saudi Arabien fanden ein Achtel Wahlen statt: die Hälfte der Bevölkerung wählte die Hälfte der Mitglieder einer Anzahl von lokalen Gremien. In Palästina fanden freie Präsidentschaftswahlen statt und das Parlament diktierte dem Premier die Zusammenstellung der Regierung. Im Libanon setzten Demonstrationen eine Regierung ab.
Der Schuss Bin Ladens ist letztendlich nach hinten losgegangen: er wollte die Amerikaner und ihre Ideen aus dem Herz Arabiens verbannen. Doch jetzt sitzen westliche Ideen von Demokratie in den Köpfen der Araber fest. Die Welt wird Zeuge eines vorsichtigen Neubeginns im Nahen Osten. Es ist alles andere als sicher, dass die Massen in ihrem Bestreben, die Diktatoren zu entmachten, erfolgreich sein werden. Zu zaghaft sind noch die Schritte Richung Rechtsstaat, zu klein die Zugeständnisse gegenüber dem Volk und zu groß die Korruption. Der Erfolg der Demokraten hängt vom eigenem Mut wie von der Entschlossenheit und Glaubwürdigkeit der westlichen Forderungen nach Veränderung ab. Sollten die neuen Entwicklungen fortschreiten, wäre ein demokratischer, freier und vor allem friedlicher Naher Osten auf lange Frist keine Fata Morgana mehr.
Gil Yaron
Libyens Staatschef Moammar Gadaffi traf sich unlängst erstmals mit Vertretern der von ihm in den 60-er Jahren ins Exil vertriebener Juden, denen er nicht nur die „Heimkehr” in ihre einstige „Heimat” nahe legte, sondern auch Entschädigung für das durch ihre Flucht verlorene Eigentum in Aussicht stellte. Sollte Gadaffi zu seinem Worte stehen, wäre Libyen der erste der arabischen Staaten, die ihre vertriebenen jüdischen Bürger entschädigt.
Die American-Libyan Jewry Association, die Vertretung der in den USA lebenden ex-libyschen Juden, schätzt das zurückgebliebene Eigentum auf eine Milliarde Dollar. Dieser Betrag umfasst nicht nur das Vermögen von 623 jüdischen Familien, das vom libyschen Staat beschlagnahmt wurde, sondern auch das jüdische Gemeindeeigentum, das aus mehr als 50 Synagogen, 20 Friedhöfen, zwei Gemeindezentren, einem jüdischen Krankenhaus, mehr als 10 Schulen, einem Altersheim und zwei rituellen Bädern bestand.
Was Gadaffi wirklich zu zahlen bereit ist, dürfte sich im Laufe der Verhandlungen herausstellen, die noch in diesem Jahre in Rom stattfinden sollen. Das Hauptproblem besteht darin, dass Gadaffi erst am 1. September 1969 an die Macht gekommen war und es ablehnt jene 4327 Juden zu entschädigen, die nach Ausbruch des Sechstagekrieges im Juni 1967 nach Italien geflüchtet waren, um sich vor den judenfeindlichen Pogromen zu schützen. Bei Kriegsausbruch war noch König Idris an der Macht. Der Vorsitzende des Verbandes der libyschen Juden in den USA, Shalom Naim, war mit seinen Eltern und einer Reihe anderer Juden wenige Monate später nach Libyen zurückgekehrt, sie mussten aber alsbald feststellen, dass es für Juden dort keinen Platz mehr gab. Nach Gadaffis Machtübernahme hatten so gut wie alle Juden Libyen endgültig verlassen; eine alte Frau ist die einzige Jüdin, die heute noch in Libyen lebt.
Gadaffis Versuche einer Versöhnung mit den einst libyschen Juden, denen bereits Fühler seitens seines Sohnes Saad vorausgingen, kamen nicht von ungefähr. Obwohl Präsident Bush die auf exekutive Verordnung basierten Sanktionen gegen Libyen nach der Aufgabe von Gadaffis nuklearer Aspirationen aufgehoben hatte, blieben die vom Kongress verhängten wirtschaftlichen Sanktionen nach wie vor in Kraft. Ebenso in Kraft blieb der Status Libyens als eines Terroristenstaates. Gadaffi ist sich der Tatsache bewusst, dass er irgendeine Regelung mit der jüdischen Gemeinschaft finden müsse, um Aussicht auf die Aufhebung der seit 35 Jahren bestehenden Sanktionen zu haben, wie Gadaffi Junior in einem Gespräch mit Gerald Steinberg, dem Professor für politische Wissenschaften an der Bar Ilan Universität in Ramat-Gan, gestanden hatte.
Die Sanktionen waren eine Folge staatlicher Förderung von Terrorismus durch das Gadaffi-Regime, einschließlich des Anschlags auf das 1988 über Lockerbee abgestürzten Pan Am-Flugzeuges, bei dem 270 Menschen ums Leben kamen. Dieser Anschlag, sowie ein zusätzlicher Anschlag auf eine Berliner Bar, bei der Amerikaner ums Leben kamen, hatte damals auch den US-Präsidenten Reagan zu einem Vergeltungsschlag der amerikanischen Luftwaffe auf das Beduinen-Zeltlager Gadaffis veranlasst, bei dem eine Adoptivtochter des libyschen Staatschefs ums Leben gekommen war.
Seit Gadaffi im vergangenen Dezember offiziell auf die Fortentwicklung von Massenvernichtungswaffen verzichtet und mit der Zahlung von Entschädigungsgelder an die Erben der Opfer der libyschen Terroranschläge begonnen hatte, begannen die USA die Sanktionen gegen Libyen zu lockern und die EU hob das 18 Jahre dauernde Waffenembargo auf. Am gleichen Tage trafen sich Gadaffi und sein Sohn Saadi, ein Berufs-Fußballspieler, mit einer sechsköpfigen Delegation ex-libyscher, derzeit in Italien lebender, Juden im Berogia Hotel von Tripoli.
Die jüdischen Gäste wurden auf Staatskosten in VIP-Suites untergebracht und von Gadaffi persönlich als „libysche Brüder” gefeiert. Saadi Gadaffi soll eine Hauptrolle bei der Organisierung des Treffens von Tripoli gespielt haben. Er hatte sich zuvor mit einer Delegation ex-libyscher Juden in Italien getroffen und hatte auch für die Einladung von deren Vertretern zu Empfängen in der libyschen Botschaft in Rom und in der Vatikanstadt aus Anlass des libyschen Staatsfeiertages am 1. September gesorgt.
Ob Gadaffi irgendwelche Entschädigungszahlungen an die vertriebenen Juden zahlen wird, bleibt abzuwarten. Es wäre ein Präzedenzfall für die arabische Welt. Im ägyptisch-israelischen Friedensvertrag von 1979 wurde zwar die Beilegung von Vermögensansprüchen der Bürger beider Staaten vor ägyptischen Gerichten vereinbart, doch der diesbezügliche Vertrag wurde niemals implementiert.
Obwohl in dem Falle Libyens es die Regierung von Tripoli ist, die alle Schwierigkeiten auf dem Wege zur Entwicklung wichtiger wirtschaftlicher Beziehungen mit den USA beseitigt sehen möchte und eine Restitution jüdischen Eigentums dabei sehr nützlich wäre, herrscht auf jüdischer Seite nach wie vor erhebliche Skepsis. Der Umstand, dass Libyen weiterhin eine Anerkennung Israels ablehnt, ist mit ein Grund für solche Skepsis.
Rund 117.000 libysche Juden, die zumeist gleich nach Israels Staatsgründung aus Libyen geflüchtet waren, leben jetzt in Israel. An die 2000 Juden flohen in den späten 60-er Jahren nach den USA und etwa 6000 leben derzeit in Rom und dessen unmittelbarer Umgebung. Die meisten jener Juden, die vor dem Ausbruch des Sechstagekrieges ihre alte Heimat verlassen haben, waren imstande ihr Eigentum zu verkaufen. Bei der Restitution ist also vorwiegend von jenen die Rede, die nach dem 5. Juni 1967 flüchteten und ihr ganzes Hab und Gut zurücklassen mussten. Eine der jüdischen Forderungen an Gadaffi ist auch die Auslieferung der Gebeine von 14 Juden – Mitgliedern zweier Familien – die bei Kriegsausbruch von einem libyschen Polizeioffizier lebendigen Leibes begraben worden sein sollen. Die Hinterbliebenen dieser Opfer wollen schließlich auch Informationen über die Identität des Mörders.
Karin Gil
Das ist das Buch eines amerikanischen Linken, der mit der Linken in Europa seine Probleme hat; die Analyse eines europabewanderten Politikwissenschafters, der sich – trotz scharfer, kritischer Distanz zur Politik George W. Bushs und der Republikaner – den USA näher weiß als Europa. Andrei S. Markovits, Professor an der University of Michigan, rechnet mit Europas Haltung zu Amerika ab – bald traurig, bald zornig, aber immer mit der aufgestauten Energie dessen, der schon lange eine Wahrnehmung mit sich trägt, die er endlich loswerden kann: Europa definiert sich – nicht erst jetzt, nicht erst seit 2003 – durch das, was es nicht ist, dass es nicht Amerika ist. Die europäischen Linke aber begeht, in dieser Abgrenzung, eine Sünde wider den eigenen Geist: In ihrer Einstellung zu den USA gibt sich ein Gutteil der Linken Europas einer ihr sonst streng verbotenen Lust zur xenophoben Stereotypisierung und zur arroganten Überheblichkeit hin. Was in bestimmten europäischen Zirkeln niemand gegenüber Afrikanern oder Frauen oder den Islam zu denken und zu sagen wagt – wenn es um die USA geht, dann jagt in eben diesen Zirkeln ein Vorurteil das andere.
Markovits, mit den universitären und (links-)intellektuellen Milieus Europas sehr vertraut, schrieb dieses Buch auch aus der Erfahrung einer aktuellen Zurückweisung: Er ist Gegner der Todesstrafe, Befürworter von „Affirmative Action“, Kämpfer gegen jede Form von rassen- oder geschlechtsspezifischer Diskriminierung; er verabscheut das Bigotte in der amerikanischen Gesellschaft und sieht in Bushs Politik eine schlimme Fehlentwicklung. Dennoch bemerkt er eine wachsende Distanz Europas und der europäischen Linken zu seiner Person – weil er eben nicht bereit ist, die antiamerikanischen und (damit nur zu oft verbunden) antizionistischen Klischees Europas einfach hinzunehmen. Das Buch beschreibt, wie „sowohl Antiamerikanismus als auch Antizionismus (Antisemitismus noch nicht…) zu Grundbedingungen dafür geworden sind, wer und was sich in Europa ‚links’ nennen darf.“ (S. 11) Ja, mehr noch: „Der Antiamerikanismus ist zur Lingua franca Europas avanciert.“ (S.15) Europa wird – von links und von rechts – immer mehr aus seinem konstruierten Gegenteil definiert. Was immer Europa ist – es soll keinesfalls Amerika sein.
Das ist nicht Ausdruck eines friedlichen Wettbewerbs, in dem westlich und östlich des Atlantiks zwei verschiedene Modelle der Demokratie miteinander konkurrieren. Das ist – und Markovits bringt dafür eine Unzahl von Belegen – ein Bestandteil europäischer Identitätsfindung. Seine Zitate sind sehr aussagestark. Peter Zadek: „Mir ist Amerika zutiefst zuwider.“ (S. 34) Hätte Zadek das z. B. über China sagen können – ohne einen Aufschrei zu riskieren, ohne (wohl zu Recht) des Rassismus, einer völlig unzulässigen Verallgemeinerung bezichtigt zu werden? Und wo, wenn nicht in Europa, hätte der aktuelle Kronzeuge des europäischen Antiamerikanismus, Michael Moore, so einfach sagen können: „Sie (die Amerikaner) sind wahrscheinlich das dümmste Volk der Erde“(S. 40)? Da passt dann hinein, dass Markovits eine Reihe prominenter europäischer Intellektueller zitieren kann, die den 11. September als legitimen Protest und Widerstand oder – wie Karlheinz Stockhausen – als „das größte nur denkbare Kunstwerk im ganzen Kosmos“ geradezu feiern. (S. 160 f.)
Überall in Europa wird das „amerikanische Beispiel“ benutzt, um auf mögliche negative Entwicklungen hinzuweisen. „Wien darf nicht Chicago werden“ ist ein österreichischer Fall. Dass die deutsche Polizeigewerkschaft vor „amerikanischen Verhältnissen“ an deutschen Schulen warnt, ist ein anderer Fall. (S. 153) Dabei wird von europäischer Seite natürlich auf Columbine verwiesen. Ähnliche Mordtaten in Europa – wie in Dunblane, Nanterre oder Erfurt – führen zu keinen Warnungen vor schottischen, französischen oder deutschen Verhältnissen.
Das europäische Abgrenzungsbedürfnis führt Markovits nicht primär auf aktuelle Entwicklungen zurück. Der europäische Antiamerikanismus – in allen seinen Facetten – ist so alt wie das Bewusstsein Europas, dass es im Westen eine „Neue Welt“ gibt. Karl Mays Bilder, in denen eine heile Welt der „Indianer“ einer korrumpierenden Welt des weißen Amerikas gegenübergestellt wird, ist nur ein Beleg für die Kontinuität des europäischen Antiamerikanismus. Es geht dabei nicht um konkrete Kritik. Anders etwa als im latein-amerikanischen Bild von den „Gringos“ werden die Ressentiments nicht primär von den realen Erfahrungen amerikanischer Großmachtpolitik gespeist: Nicht, was Amerika tut, sondern das, was es – scheinbar, tatsächlich – ist, das beflügelt die negative Einstellung Europas.
Markovits argumentiert, dass die aktuellen Entwicklungen zwar auf einer Jahrhunderte alten Tradition aufbauen, dass aber in den letzten Jahren und Jahrzehnten das bis dahin vor allem von den (Bildungs-) Eliten Europas bestimmte Negativ-Klischee sich so verbreitert hat, dass es nun nicht nur Linke und Rechte, sondern die gesamte Gesellschaft erfasst. Nunmehr sind auch „oben“ und „unten“ in Europa in einer den USA feindseligen Attitüde vereint. Gestützt auf empirische Befunde (z. B. die Pew-Studien) argumentiert Markovits, dass Bushs Politik nur bestärkt (oder rechtfertigt), was ohnehin schon da war: „Der von der Bush-Administration in Gang gesetzte ‚overdrive’ hat dafür gesorgt, das Ansehen Amerikas in der Welt zu ruinieren. Derart gründlich und schnell konnte das allerdings nur deshalb vonstatten gehen, weil die dafür unabdingbaren Voraussetzungen und Rahmenbedingungen vor allem in Europa seit langer Zeit vorhanden waren.“ (S. 27)
Für Markovits sind Antisemitismus und Antiamerikanismus „Zwillingsbrüder“. Den Cover des Buches schmückt die Widergabe einer realen deutschen Schmiererei: Ein Davidstern, „USA“ im Zentrum, und der Satz „Kerry ist auch Jude!“ Der aktuelle Antisemitismus in Europa ist ein „Epiphänomen des Antiamerikanismus“. (S. 173) Die politische Allianz zwischen den USA und Israel liefert denjenigen, deren Einstellung an sich jede antisemitische Regung verbieten würde, die Rechtfertigung zu einer Kritik am Staat Israel, die in vielen (nicht allen) Fällen antisemitisch zu nennen ist: Immer dann, wenn Menschenrechtsverletzungen der israelischen Regierung kritisiert, die Menschenrechtsverletzungen arabischer Regierungen (oder auch der Palästinensischen Autonomieverwaltung) aber übergangen oder entschuldigt werden – immer dann, wenn es also einen Maßstab für den Staat der Juden, einen anderen aber für alle anderen gibt, dann wird eine konkrete Kritik an der Politik Israels zu einer Manifestation prinzipieller Feindschaft gegenüber „den Juden“.
Markovits provoziert. Und er provoziert mit Argumenten, die sich auf empirisches Material stützen. Markovits Analysen widersprechen der herrschenden Sichtweise – gerade deshalb aber sollte sich Europa provoziert fühlen.
Andrei S. Markovits: „Amerika, dich haßt sich’s besser. Antiamerikanismus und Antisemitismus in Europa.“ Verlag Konkret, Hamburg 2004, 239 S. € 15, 50.
Ziel dieser vom Bund Sozialdemokratischer AkademikerInnen, Intellektueller und KünstlerInnen (BSA) in Auftrag gegebenen Untersuchung ist es, die Haltung des BSA und vor allem der BSA-Bundesgremien zu den ehemaligen Nationalsozialisten nach 1945 kritisch zu hinterfragen.
Insbesondere sollte geklärt werden, unter welchen Bedingungen und in welchem Ausmaß deren Integration erfolgte bzw. welche Konsequenzen für den BSA damit verbunden waren. Autorenaussage: "Zunächst war es die eigene Betroffenheit: Nach Fällen wie dem des Psychiaters und ehemaligen NS-Euthanasiearztes Heinrich Gross ist der BSA jahrelang damit in Verbindung gebracht worden, ehemaligen Nationalsozialisten Unterstützung geboten zu haben. Als Folge davon hat eine Historikerkommission unter der Leitung von Wolfgang Neugebauer im Auftrag des BSA dessen Rolle bei der gesellschaftlichen Integration ehemaliger Nationalsozialisten untersucht. Die Frage geht aber noch weiter: Wie geht man grundsätzlich mit jenen um, die nach dem Wechsel von einem verbrecherischen Regime zu einem demokratisch-rechtsstaatlichen vom vorigen belastet sind? Die Veranstaltungsreihe des BSA „Der Wille zum aufrechten Gang“ unter der Leitung von Andreas Schwarcz versuchte den Umgang, insbesondere auch des sozialdemokratischen Österreich, mit diesen Herausforderungen nach 1945 zu beleuchten und letztendlich in einen internationalen Kontext zu stellen. Denn nur wenn wir uns der Wahrheit stellen, können die Wunden der Vergangenheit heilen. Caspar Einem, Präsident des Bundes sozialdemokratischer AkademikerInnen, Intellektueller und KünstlerInnen (BSA).
© Czernin Verlag
Wolfgang Neugebauer
Hon. Prof. für Zeitgeschichte, und ehemaliger wissenschaftlicher Leiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes 1983-2004. Forschungsschwerpunkte: Widerstand und Verfolgung in Österreicht 1934-1945, NS-Justiz, NS- Euthansie, …
Peter Schwarz
arbeitet seit 1995 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes. Seine Forschungsschwerpunkte sind NS-Judenverfolgung, Emigration und Exil, NS-Euthanasie, NS-Justiz.
Lesen Sie eine ausführlichen Bericht über die Dokumentaion in der Printausgabe des aktuellen Heftes.
Wolfgang Neugebauer, Peter Schwarz (Hrsg.):
Der Wille zum aufrechten Gang. Offenlegung der Rolle der BSA bei der gesellschaftlichen Reintegration ehemaliger Nationalsozialisten. Herausgegeben vom Bund sozialdemokratischer AkademikerInnen, Intellektueller und KünstlerInnen (BSA). Czernin Verlag, 2005, 336 S. € 23
Im Februar fand das Symposium „Eugenie Goldstern und ihre Stellung in der Ethnographie” statt. Auch zeigte das Österreichische Museum für Volkskunde endlich – nach einem halben Jahrhundert – die Sammlung von Eugenie Goldstern. Es handelt sich dabei um eine sehr später Würdigung der russisch-österreichischen Volkskundlerin, über die bereits 1999 eine Biographie von Albert Ottenbacher im Mandelbaum Verlag erschien.
Eugenie Goldstern wurde 1883 als jüngstes von 14 Kindern eines jüdischen Kaufmanns in Odessa geboren. Sie flüchtete 1905 vor den Pogromen in ihrer Heimat nach Wien – durch ihren aus Lemberg stammenden Vater war sie Österreicherin – wo sie Ethnologie bei Michael Haberlandt, damaliger Direktor des Volkskundemuseums, studierte. Da sie in Österreich aufgrund ihrer russischen Matura nicht promovieren konnte, setzte sie ihre Studien in Neuchâtel fort. Ihre Promotion erfolgte im Fach Humangeographie in Fribourg über das Thema „Hochgebirgsvolk in Savoyen und Graubünden”. In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und in den zwanziger Jahren bereiste sie Hochgebirgstäler Österreichs, die Schweizer Alpen des Oberrheingebietes, aber auch des schweizerisch-italienischen Kontaktraumes, Frankreichs, Italiens und der Schweiz. Sie betrieb Feldforschung, teilnehmende Beobachtung, zeichnete, fotografierte und vermaß. Ihre Dissertation, die auch ins Französische übersetzt wurde, schrieb sie über Bessans /Hochsavoyen. In Goldsterns wegweisenden Arbeiten wird die traditionelle Unterscheidung in „Zivilisierte” und „Barbaren” aufgehoben, nicht zuletzt durch den Nachweis einfacher Kulturen im Herzen Europas. Das Gegenteil davon hatte die deutsche Volkskunde nach dem Ersten Weltkrieg im Sinn, auch in Wien, wo sich in der Völkerkunde Nationalismus breit machte. Am Österreichischen Museum für Volkskunde bemühte man sich um den Nachweis der Überlegenheit der „germanischen Rasse”.
Goldstern schuf eine einmalige Sammlung aus der höchstgelegenen französischen Gebirgsgemeinde und baute eine Vergleichssammlung auf, die Verbindungen aufzeigt, die nationale Schranken überwindet und regionale Sonderformen in größere Zusammenhänge stellt. Sie veröffentlichte 1924 zum letzten Mal unter dem Titel „Alpine Spielzeugtiere”. Sie überließ dem Wiener Museum für Volkskunde nicht nur ihre rund 800 Objekte umfassende wertvolle Sammlung, die sie in monographischen Abhandlungen wissenschaftlich und fotografisch dokumentiert hatte, sondern unterstützte das Haus auch finanziell. Es wurde ihr nicht gedankt. Für eine jüdische Forscherin war in der Volkskunde, die bereits vor der Zeit des Nationalsozialismus in den Rassismus verfiel, kein Platz. Die von ihr geschenkten Objekte stießen im Museum auf wenig Gegenliebe, wobei sie jedoch bis 1930 damit fortfährt, als die letzten drei Spielzeugtiere vermerkt werden. Arthur Haberlandt, Sohn ihres ehemaligen Lehrers, der 1924 die Museumsleitung übernommen hatte, verbannte ihre Sammlungen sofort in kaum zugängliche Räume und ins Depot. In seinen Veröffentlichungen bezog er sich auf ihre Forschungsergebnisse, allerdings ohne ihren Namen zu nennen. Eugenie Goldstein zog sich immer mehr ins Privatleben zurück. Nach dem Anschluss Österreichs konnten viele ihrer Familienmitglieder ins Ausland flüchten, doch Eugenie Goldstern blieb in Wien, sie wurde 1942 nach Polen deportiert und im Vernichtungslager Izbica ermordet.
Im Ausland gewürdigt, fand Goldsterns Arbeit in Österreich aber auch nach 1945 wenig Beachtung. Etwas anders erging es dem Wiener Volkskundler Richard Wolfram. Für den Nazi der ersten Stunde, führenden Mitarbeiter beim NS-Großprojekt „Ahnenerbe” und Vertrauten Himmlers bedeutete 1945 allenfalls einen kleinen, bald begradigten Karriereknick. 1959 wurde er außerordentlicher, 1963 ordentlicher Professor für Volkskunde an der Uni Wien. Das obligatorische Österreichische Ehrenkreuz 1. Klasse für Wissenschaft und Kunst erhielt er 1977, in Salzburg trägt eine Forschungsstelle seinen Namen.
Die Bemühungen Albert Ottenbachers, die Ende 1999 zur Veröffentlichung von „Eugenie Goldstern, eine Biographie“ führten, hatten mehrere Ziele. Mit Hilfe der Nachkommen von Eugenie Goldstern und im Kontakt mit den Verantwortlichen am Museum für Volkskunde in Wien hat er versucht, das Werk dieser Frau bekannt zu machen, die zeitlebens keinen Platz im Universitätsbereich und in der Wiener Museographie hatte. Insbesondere hat er angeregt, eine Ausstellung der Sammlungen zu organisieren, die sie dem Wiener Museum für Volkskunde geschenkt hatte. Vage Versprechungen wurden ihm gemacht, Daten wurden angegeben, die dann verschoben wurden.
Direktor Franz Grieshofer bemühte sich, zu erklären, wieso die Sammlung Goldstern so lange nicht gezeigt wurde: „Verschiedene Umstände hatten es mit sich gebracht, dass der größte Teil der Sammlung während des letzten halben Jahrhunderts in der Reserve lagerte. Die Sammlung teilte damit das Schicksal vieler anderer Objekte unseres Museums, die ebenfalls deponiert bleiben mussten.“ Er wies darauf hin, dass vergleichbare Sammlungen aus dem Baskenland, Italien oder Irland „aus diesem Grund zurückstehen“ mussten. Er bezog sich auf die üppigen Geschenke des Rudolf Trebitsch, der 1908 seine 273 Objekte umfassende Sammlung aus der Bretagne dem Wiener Volkskundemuseum widmete.
Schlussendlich wurde Eugenie Goldstern doch noch mit einer Ausstellung und einem Symposium gewürdigt, spät, aber doch, schreiben wir doch heuer bereits das Jahr 2005. Dies zeigt deutlich die tabuisierten Beziehungen österreichischer Wissenschafter zum NS-Regime und verweist auf das fehlende Unrechtsbewusstsein jener, die dem Regime gedient hatten und deren Karriere auch nach 1945 kontinuierlich weiterging. Im Gegensatz dazu stehen die unter den Nazis Verfolgten, Emigrierten und in diesem Fall Getöteten, deren Lebenswerk oftmals bis heute unsichtbar blieb.
Petra M. Springer
Albert Ottenbacher, Eugenie Goldstern. Eine Biographie, Mandelbaum, 1999. 218 S. € 16,30
Mehr über Eugenie Goldstern im Dokumentationsarchiv des österreichischen Winderstandes
Am 14. März 2005 wurde dem israelischen Schriftsteller Amos Oz der Bruno Kreisky-Preis für das politische Buch überreicht. Oz wurde der Hauptpreis für "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis", erschienen im Suhrkamp Verlag, verliehen.
Im letzten Kapitel seines neuen, monumentalen Romans berichtet Amos Oz vom Selbstmord von Fania Klausner, seiner Mutter, im Januar des Jahres 1952. Er ist zu diesem Zeitpunkt zwölf Jahre alt. Die möglichen Gründe für diesen Akt der Verzweiflung sucht Amos Oz, der Erzähler, aufzuhellen durch eine Vergegenwärtigung der Geschichte seiner Familie, die sich zu einem Panorama des Lebens osteuropäischer Juden, der Situation der Einwanderer in Palästina und in einem immer gefährdeten Staat ausweitet.
Der Roman setzt ein im Jerusalem der vierziger Jahre, dem Fluchtpunkt all jener, denen es gelungen ist, den Pogromen und den Nationalsozialisten zu entkommen, und die entschlossen sind, sich nie wieder demütigen zu lassen. Ihre Geschichte, die alle menschlichen und politischen Triebkräfte zwischen Liebe und Finsternis geprägt haben, stellt Amos Oz mal traurig, mal ironisch, mal heiter, mal bitter vor Augen. Anhand von eigenen Erinnerungen, von Berichten von Verwandten und Bekannten präsentiert er dem Leser die großen und kleinen Gestalten nicht nur seiner Familie in den letzten 120 Jahren. Dabei zieht er Verbindungslinien zwischen Ereignissen im 19. Jahrhundert und solchen in der Gegenwart, wechselt zwischen Rußland und Jerusalem, Polen und Tel Aviv, Litauen und der Ukraine, dem Kibbuz Hulda und Arad.
Eine Geschichte von Liebe und Finsternis: eine große Familien-Saga, ein Epos vom Leben und Überleben, ein Archiv persönlicher und politischer Ambitionen, ein Buch der Enttäuschungen und der Hoffnung.
© Suhrkamp Verlag
Lesen Sie einen Bericht über das Buch von Ralf Balke in der Printausgabe dieses Heftes.
Amos Oz: Eine Geschichte von Liebe und Finsternis, Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama (Ssipur al ahava wechoschrech) Suhrkamp 2004. 768 S. € 27,70
Eva steht vor einem Feigenbaum, splitternackt. Sie schaut auf die vielen Blätter und beklagt sich: „Ich habe nichts anzuziehen.“ Eva bietet Adam einen Apfel an. Er sitzt auf dem Boden ganz verhärmt, gebückt und müde. Vor ihm liegen Hunderte von angebissenen Äpfeln. Er kann einfach nicht mehr. In einem dritten Werk posieren verschiedene nackte Männer mit ihrem Feigenblatt, darunter der Pessimist (das Blatt zeigt nach unten), der Sadist (das Blatt ist mit einem Sicherheitsnadel befestigt) und der Jude (mit einem abgeschnittenen Blatt).
Karikaturen an sich sind kurzlebig.
Ein ganzes Buch widmete Friedel Stern 1983 dem Treiben von Adam und Eva im Garten Eden. Jetzt sitzt sie sehr aufgeregt in ihrer bescheidenen Dachgeschosswohnung in Tel Aviv und fragt sich, ob die Besucher des Stadtgeschichtlichen Museums in Leipzig ihre Werke verstehen werden. Würden sie schmunzeln? Und wie würde sie selbst bei ihrem allerersten Besuch seit ihrer Emigration 1936 reagieren?
Ihre Erinnerungen aus Deutschland sind mit Angst vor der Gestapo verbunden, die sie einmal verhörte und vor dem Kindermädchen, das die Familie erpresste. Mit 19 begann sie ein neues Leben in Palästina, studierte an der Kunsthochschule in Jerusalem und begann 1948 Karikaturen in allen israelischen Zeitungen zu veröffentlichen. In den ersten Jahren verdiente sie ihr Brot im Vermessungsamt. Humorlos aber sicher war das Zeichnen der Berge und Höhenzüge auf Landkarten. Jahrelang unterrichtete sie an der Kunsthochschule, wo sie als sehr streng galt. Erst Jahre später erkannte ihr Student Michel Kichka, dass es Stern gelang, seinen Stil zu verbessern. Als Vorsitzender des israelischen Karikaturistenvereins verlieh er ihr im vergangenen September einen Preis für ihre 50-jährige Karriere. Ein anderer Student, Yossi Lemel, heute erfolgreicher Grafiker und Mitinhaber einer Werbeagentur, sagt, die Qualität ihrer Werke erwächst daraus, „dass sie universelle Themen behandelt. Daher werden sie auch in 100 Jahren ihre Existenzberechtigung nicht verlieren“. Der Karikaturist Avi Katz bewundert, dass ihre Arbeit Optimismus und positive Lebensenergie ausstrahlt, „ohne jemals böse, gemein oder erniedrigend zu sein.“
Auch das Privatleben von Friedel Stern ist eher ungewöhnlich. Sie hat niemals geheiratet, „weil mir die Freiheit sehr wichtig ist“. Sie wohnt noch mit 88 Jahren allein in einer bescheidenen Dachgeschosswohnung und klettert mehrmals täglich die vielen Treppen rauf und runter. Bis vor kurzem reiste sie allein durch die Welt mit Stift und Zeichenpapier. Bei ihren vielen Reisen durch die Welt machte sie um eine Stadt einen Bogen, trotz mehrerer Einladung der Stadtverwaltung: Leipzig. Weil sie über die Ermordung ihrer Mutter Luisa nicht hinwegkommen kann, hat sie ihre Heimatstadt immer gemieden.
Zum ersten Mal tritt sie jetzt die Reise nach Leipzig an. Im Stadtgeschichtlichen Museum will Friedel Stern beweisen, dass der deutsch-jüdische Humor trotz allem noch existiert. Durch die Ausstellung und das Gespräch mit den Besuchern will sie versuchen, mit einem Augenzwinkern den Schmerz zu überwinden. Beides ist ihr auch gelungen. Die Besucher waren begeistert und Stern erleichtert: „Damals war ich eine unerwünschte Jüdin, jetzt bin ich eine gewollte Israelin und wurde gebeten, mich ins Goldene Buch der Stadt einzutragen. Igal Avidan
Sterns erste Ausstellung in Deutschland wurde am 8. Februar im Rahmen der KARICARTOON, der Biennale der Satirischen Zeichnung Leipzig im Stadtmuseum Leipzig eröffnet. Die Ausstellung dauert bis zum 3. April.
Eine Schicksalsgemeinschaft – die Juden hier in Deutschland und in Israel? Henryk M. Broder gießt ein bisschen Wasser in den Wein des Wir-Gefühls: Ja sicher, sagt der Autor aus Berlin, das ist eine Schicksalsgemeinschaft, weil „wir Juden in Europa keine zwei Wochen in Sicherheit leben könnten, wenn es Israel nicht mehr gäbe”. Keine Schicksalsgemeinschaft seien wir aber, insofern es einen großen Unterschied mache, „ob ich in Berlin im Einstein sitze oder ob man in Jerusalem im Atara sitzt und überlegt, was der Mann da mit der Plastiktüte ins Café trägt.“
Der winzige Ort in den bayrischen Alpen hat es geschafft, in kurzer Zeit ein überaus wichtiger Punkt auf der Landkarte der deutsch sprechenden Juden zu werden. Geschafft hat das natürlich nicht der Ort, sondern die Initiatoren der Tarbut-Kongresse auf Schloss Elmau, die an die vierhundert Teilnehmer in die Berge lockten. Sie suchten Antworten und stellten vor allem Fragen zu der wahrlich nicht neuen Frage, ob die gegenwärtige Welt „gut oder schlecht für Juden“ sei.
Tarbut ist das hebräische Wort für Kultur. Die Tarbut-Kongresse 2001 und 2003 hatten nach jüdischer Selbstdefinition in Europa und nach der Rolle gegenwärtiger jüdischer Literatur im deutschen Sprachraum gefragt. Das waren also im engeren Sinn eher „kulturelle” Themen als in diesem Jahr, wo nach unserem Verhältnis zu den USA, zu Israel, zum Terrorismus, zur deutschen Politik gefragt wurde.
Trotzdem hatten die Tarbut-Organisatoren Rachel Salamander und Michael Brenner zweifellos eine gute Wahl getroffen. Die vielen Teilnehmer und die noch größere Zahl der Interessierten (der Platz im Schloss war arg begrenzt) spricht dafür.
Unser Verhältnis zu den großen Chancen und Gefahren für die Juden in der Welt – können wir uns da überhaupt auf gemeinsame Standpunkte einigen, gibt es so ein „Wir”? Wenn quer durch die politischen Lager und Standpunkte schließlich alle etwas lernten in Elmau, dann sicher die Erkenntnis, dass Klärungen und Diskussionen im Herzen weh tun müssen, wenn es um Dinge geht, die uns allen am Herzen liegen.
Da wurde in der Diskussion um unser Verhältnis zu Amerika die These vertreten, wer wissen wolle, was Deutsche wirklich über Juden denken, solle sie nach ihrer Meinung über die Politik der USA fragen. Und dieser deutschen Meinung wurde entgegengehalten, die wirkliche große Gefahr für die Juden in den USA und darüber hinaus sei eher die Tendenz zu einem christlich motivierten Heiligen Krieg, also „Dschihad“, als Programm von Anhängern der heutigen amerikanischen Regierung. Die Zuhörer, die derlei aufregte, mussten sich Zügel anlegen, weil man amerikanischen Juden wie der Philosophin Susan Neiman nur schlecht Antiamerikanismus oder Antisemitismus vorwerfen kann.
So schlecht, wie Natan Sznaider, Soziologieprofessor in Tel Aviv und Einwanderer aus Mannheim, für seinen Hinweis auf die Menschenrechtssituation im israelischen Staat als Antizionist oder Schlimmeres beschimpft werden kann. Vielleicht auch so schlecht, wie man nach dem Mord an Theo van Gogh in Amsterdam dem holländischen jüdischen Romancier Leon de Winter böswillige Motive für seine Polemik gegen den Islam unterstellen kann.
Der Blick über die deutschen Grenzen, zu dem Podiumsgäste wie Neiman, de Winter und der ungarische Schriftsteller György Dálos verhelfen sollten, fällt in Deutschland offenbar schwer (der Autor dieser Zeilen bezieht diese Selbstkritik ausdrücklich auch auf sich). Auf Israel und seine Nachbarn blicken wir durch überscharfe, manchmal auch durch weichzeichnende und immer irgendwie gefärbte Brillen – ein Sachverhalt, mit dem die Israelis in Elmau wie die Podiumsteilnehmer David Vizthum und Eran Tiefenbrun offenbar wenig anfangen konnten. Auch zum Problem für die beklagenswert wenigen aus dem Kreis der heutigen Mehrheit unter der jüdischen Minderheit in der Bundesrepublik: Juden aus der früheren Sowjetunion.
Im Publikum blieben sie fast stumm; ihr einziger Repräsentant auf dem Podium, Sergej Lagodinsky, verdankte seinen Auftritt letztlich nicht dem osteuropäischen Background, sondern ausgerechnet seiner Mitarbeit beim American Jewish Comittee in Berlin. Wogegen sich die Österreicher nicht beklagen konnten, weil sich „Tarbut” offenbar nach Wien noch nicht herumgesprochen hat. Kompensiert wurde das durch zwei Podiumsteilnehmer, die Schriftsteller Doron Rabinovici und Robert Schindel. Beide erzählten bei sich bietender Gelegenheit die gleiche Anekdote über den früheren österreichischen Kanzler Bruno Kreisky: Der, bekennender Assimilant und Antizionist, pflegte zu sagen: Ich bin kein jüdischer Bundeskanzler, sondern ein österreichischer. Aber da muss ich einen Witz erzählen: Will, vor dem Krieg, ein orthodoxer Jude mit Bart, schwarzem Hut und Pajess aus dem ganz jüdisch geprägten zweiten Bezirk über die Schwedenbrücke in die Wiener Innere Stadt gehen, hält ihn ein anderer Jude an und warnt ihn, auf der anderen Seite warteten die Antisemiten schon darauf, ihn zu verprügeln – worauf der Bärtige antwortet: „Ich werd’ mich nicht zu erkennen geben!
Ein „Machaneh für Erwachsene“ nennt Rachel Salamander die Veranstaltung, gelungene Fortsetzung der Jugendlager und Ferienfreizeiten in den Nachkriegsjahrzehnten. Und inzwischen ist Elmau wirklich – auch – ein Familientreffen der deutsch sprechenden Juden, wo Erinnerungen aufgefrischt, Klatsch ausgetauscht, heranwachsende Kinder bejubelt und Babys – ja, es gab junge Teilnehmer mit Säugling im Wickeltuch – gehätschelt werden.
Der Zentralrat gehört zu den finanziellen Förderern von Tarbut: Um so bemerkenswerter, dass Spiegel die Veranstalter aufforderte, vom bisherigen 18-Monats-Rhythmus abzugehen und schon für den Dezember 2005 zu planen. Nötig ist Tarbut alle Male, nicht nur der Blick nach innen, sondern auch der in die Außenwelt wie in diesem Jahr. Dort, wo in Bruno Kreiskys Witz die Juden an der Brücke stehen, hat die arabische Kaffiyah schon lange den Strajmel abgelöst. An der Wiener Schwedenbrücke steht das Hauptquartier der OPEC.
Hans Jakob Ginsburg
Letzte Änderung: 03.01.2012
Webmeisterin+Redaktion: Mag. Ditta Rudle
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