"Old City" aus dem Zyklus
Fantasien der Farbe
der israelischen Künstlerin Suly B. Wolff
Aus dem Inhalt der aktuellen Ausgabe
Ein Schritt zur Normalität
Die politische Landschaft in Israel hat sich bis zur Unkenntlichkeit verändert. Das rechte Lager unter dem Likud, das seit 30 Jahren die Geschicke Israels lenkte, liegt brach. Eine neue Partei der Mitte hat die Führung übernommen, allein wohin, bleibt noch offen. Zwei Trends haben zu dieser Entwicklung geführt. Unbeachtet von den Medien hat eine Revolution stattgefunden. Die Elite ehemaliger Generäle, die bisher das Land führte, ist spurlos verschwunden. Sechzig Jahre nach dem Holocaust, sieben Kriegen und zwei Intifadas haben die Israelis ihre Existenzangst abgelegt. Früher war militärischer Rang Bedingung für eine politische Karriere, sah der Judenstaat sich doch stets als kleine Insel in einem Meer arabischer Staaten, die ihn auslöschen wollen. Das Volk suchte Schutz unter den Fittichen fähiger Generäle, um sein Überleben zu sichern.
Diesmal ist alles anders. Nichts kann das kampferprobte Volk mehr schrecken. Hardliner Benjamin Netanyahu hat mit seinen dunklen Prognosen bezüglich der Räumung des Gazastreifens zwar Recht behalten. Sie verhalf den Islamisten der Hamas zur Macht und Raketen fallen täglich auf israelische Dörfer. Doch die Israelis kümmert das nicht. Sie schickten den Likud trotzdem in die politische Pampa. Obschon die Bedrohung der Hamas und eines nuklearen Iran tagtäglich heraufbeschwört wird, suchen die Israelis ihr Heil nicht mehr in Muskelkraft. Keine der acht großen Parteien hat Soldaten mit illustrer Vergangenheit auf den drei Spitzenplätzen platziert. Premier Ehud Olmert schrieb im Wehrdienst Artikel für die Armeezeitung.
Israelis stimmten mit ihrer bizarren Wahl und ihrer Apathie für zwei Dinge. Sie sind des Palästinenserproblems einfach leid und wollen die Araber hinter einer Mauer aus ihrer Sicht verschwinden lassen. Im Gegensatz zur besiegten Rechten streben die Wahlsieger Kadima, Arbeiterpartei und die rechte Israel Beiteinu eine baldige Trennung von den Arabern an. Falls Verhandlungen scheitern, dann notfalls oder eher vorzugsweise einseitig. Zum anderen zeigt der deutliche Wahlsieg der Rentnerpartei und die niedrigste Wahlbeteiligung aller Zeiten, dass die konfliktmüden Israelis ihre als korrupt empfundenen Politiker satt haben. Olmert hatte Recht, als er in seiner Siegesrede erklärte, dass Israel ein neues Kapitel begänne. Die Zeit der mythologischen Führer und der nationalen Wiederauferstehung ist vorbei. Israelis wollen keine Angst mehr haben und vergessen, dass sie im Nahen Osten leben. Ob die Vogel-Strauß-Politik der Alleingänge sie zum erhofften Ziel führen wird, „normal“ wie in Europa zu leben, bleibt fraglich. Die Hamas wird sich bemühen, die Israelis daran zu erinnern, dass sie trotz ihrer Wahl Nachbarn der Palästinenser bleiben.
Vorerst sind aber beide Seiten darum bemüht, der Welt als gemäßigt zu erscheinen. Insgeheim hoffen sie aber, ihrem Gegenüber die eigene Weltanschauung ohne Verhandlungen aufzuzwingen. Ismail Haniyeh, der neue Premier von der Hamas, überraschte kürzlich in einer Ansprache vor dem Parlament durch Pragmatismus. Er sprach zwar von Frieden, einer „neuen Gelegenheit zur Lösung des Konflikts“ und seinem Unwillen, mehr Blut zu vergießen. Gleichzeitig wiederholen jedoch alle Hamas-Sprecher das Mantra, erst einmal solle Israel alle Forderungen der Islamisten erfüllen, danach könne man reden. Kaum 24 Stunden nach der Friedensrede riefen Hamas-Parlamentarier in Sprechchören: Dschihad ist unser Weg, unser höchstes Bestreben ist es, für Allah zu sterben!
Olmert seinerseits hat Palästinenserpräsident Machmud Abbas zwar in seiner Siegesrede Verhandlungen und „schmerzvolle Zugeständnisse“ in Aussicht gestellt, sie aber an die Forderungen nach Gewaltverzicht und der Anerkennung Israels seitens der Hamas geknüpft. Im Hinblick auf den Wahlsieg der Islamisten ist es unwahrscheinlich, dass Abbas dies liefern kann. Seit einem Monat vergeht kein Tag, an dem die israelische Polizei nicht ein Selbstmordattentat in letzter Minute vereitelt. Schon hat der neue Hamas-Innenminister Said Siam versprochen, von nun an würden keine „Widerstandskämpfer“ mehr verhaftet. Wenn Raketen weiter auf Israels Süden fallen und Olmert so gezwungen wird, hart zu reagieren, wird die Hamas sich angesichts palästinensischer Opfer nicht mäßigen lassen.
Olmert ist sich sicher, dass es leichter sein wird, einen Kompromiss mit Washington als mit Rammallah auszuhandeln. Wenn auch beide Seiten vorerst vom Friedensprozess reden werden, ist jede Annäherung zum Scheitern verurteilt. So bereitet er die Welt bereits darauf vor, dass er mit der Hilfe der USA, und in kleinerem Maße auch Europas, die endgültigen Grenzen zu Ungunsten der Palästinenser alleine ziehen will. Wie er die Kosten und den vorgeschlagenen Zeitrahmen für ein solches Mammutunternehmen tragen will, hat er bisher niemandem erläutert. Um die 80.000 Siedler, die östlich der Grenzanlagen in der Westbank wohnen, wie geplant bis zum Jahr 2010 freiwillig in Siedlungsblöcke umzusiedeln, rechnen Experten mit Kosten in Höhe von mindestens 30 Milliarden US$. Dies entspricht dem Staatshaushalt eines Jahres. Ohne tatkräftige Hilfe der EU und der USA wird ein solcher Plan Utopie bleiben. Olmert wird auf mehr denn nur diplomatische Unterstützung angewiesen sein. Es ist aber unwahrscheinlich, dass die EU unilaterale Maßnahmen stützen wird, die den Palästinensern schaden.
Auch die Innenpolitik wird Olmert Sorgen bereiten. Allein kann er weder einen Friedensvertrag noch die wahrscheinlichere einseitige Trennung durchsetzen. Dafür benötigt er mindestens vier Koalitionspartner. Da diese aber völlig verschiedene Programme verfolgen, deutet sich bereits heute Instabilität an. Die Aussicht, dass eine solche Regierung genau wie ihre fünf Vorgänger vorzeitig fällt, erscheint erschreckend wahrscheinlich. So sollte der Plan, künftig eine Fünfprozent-Hürde einzuführen, zu einem der wichtigsten Projekte von Olmerts Regierung werden.
Gil Yaron
Einst kommandierten sie eine Unzahl motivierter und treuer Aktivisten. Im Handumdrehen mobilisierten sie zehntausende Demonstranten, sperrten Kreuzungen und färbten das ganze Land mit dem Orange ihrer Wahlposter. Sie waren die heilige Kuh der israelischen Politik, an die sich kein Premier wagte. Sie diktierten den Staatshaushalt, die Verteidigungs- und Außenpolitik, und sie waren sich einig. Doch nichts ist mehr übrig von dem angsteinflößenden Apparat der ideologischen Siedlerbewegung, die machtvollste und am besten organisierte Politmaschine liegt brach. Zum ersten Mal seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 spielen sie vor den Parlamentswahlen keine Rolle mehr im öffentlichen Diskurs.
Ihr Zustand lässt sich mit dem des noch amtierenden Premiers Ariel „Arik“ Scharon vergleichen, der sie mitgegründet hat und seit zwei Monaten wegen einer Gehirnblutung im Koma liegt. Mit ihrem „Arik“ im Rücken war sie unantastbar. Doch ihr Gründervater war auch für ihren Niedergang verantwortlich. Seitdem er ihren Widerstand gegen die Räumung des Gazastreifens niederwalzte, ihren Zorn als ineffektiv bloßstellte und ihre Plädoyers in der Knesset ignorierte, haben die Israelis ihre Angst vor ihnen verloren und die Siedler ihren Glauben an sich selbst. Die ideologischen Bewohner der Westbank fühlen sich vom Volk im Stich gelassen. Bis zur letzten Minute hatten sie auf ein Wunder gehofft: Unsere Liebe wird gewinnen, hatten sie noch einen Tag vor der Räumung im August überzeugt erklärt. Doch obschon der mythologische Arik längst die politische Bühne verlassen hat, bleibt die Mehrheit der Israelis davon überzeugt, dass die Siedler weg müssen aus der Westbank. Je schneller, desto besser.
Immer mehr Ideologen kehren dabei ihrem politischen Heim den Rücken und gesellen sich just zu der Partei, die für die Räumung weiterer Siedlungen steht. Es ist zwar kein Strom frustrierter Siedler, die zu Kadima, der von Scharon gegründeten neuen Partei strömt, jedoch ein stetes Rinnsal Abtrünniger, die ihren messianischen Glauben gegen Pragmatismus eingetauscht haben. Der Rabbiner Yoel Bin Nun war einer der wichtigsten geistigen Führer und Gründer der Siedlerbewegung. Jetzt unterstützt er Kadima öffentlich: Ich möchte zwar jüdische Souveränität über das ganze Land. Aber man muss den Realitäten ins Auge sehen, erklärt er, und macht sich zur Zielscheibe seiner ehemaligen Mitstreiter, die ihn des Verrats bezichtigen. Es geht gar nicht darum, ob ich bereit bin, Teile des Landes aufzugeben. Natürlich nicht! Heute geht es darum, wie viel wir am Ende behalten können.
Die meisten treten Kadima bei, um von innen die neuen Grenzen mitbestimmen zu können. Diejenigen, die in die extreme Rechte abgedriftet sind, haben das politische Feld der Linken überlassen. Wir müssen zur Kadima, um die Zukunft mitzubestimmen, erläutert Ben Nun seine Wahl. Otniel Schneller, der selber in der Siedlerführung war und in der Westbank lebt, empfindet auf eigenem Leib die tiefe Unsicherheit, die viele Siedler seit dem Rückzug aus dem Gazastreifen erfasst hat: Ich weiß nicht, ob mein Haus sich nach dem nächsten Rückzug noch in Israel befinden wird. Heute ist Schneller Nummer 27 auf der Liste von Kadima und versucht, andere gläubige Siedler zu überzeugen, für seine Partei zu stimmen. Meine Weltanschauung stützt sich auf drei Pfeiler: die jüdische Religion, Israel als jüdischer Staat und das heilige Land. Der Staat ist nicht nur Mittel, sondern ein Ziel. Ich möchte zwar alles, kann es aber nicht haben. Man muss Kompromisse machen, um andere Wünsche zu verwirklichen.
Schneller ist wichtig, dass die nächste Räumung nicht so aussehen wird wie die traumatische „Entkopplung“ aus Gaza. Keine Soldaten mehr, die weinende Kinder aus Häusern tragen. „Zusammenführung“ nennt er den Plan seines Parteichefs Ehud Olmert, kleine Siedlungen in wenige große Blöcke zusammenzufassen. Wir sagen den Siedlern nicht, dass ihr Lebenswerk umsonst ist. Im Gegenteil, wir zeigen ihnen, wo sie es fortführen können. Keine Umsiedlung von heute auf morgen, sondern graduell, über vier Jahre. Wir werden niemanden gewaltsam zwingen, sondern setzen auf Dialog und Verständnis, so Schneller.
Die meisten Mitglieder von Kadima sind überzeugt davon, dass man mit den Palästinensern keinen Frieden aushandeln kann. Mein Glaube erlaubt mir nicht, Krieg gegen ein Nachbarvolk zu führen, nur gegen seine Führung. Wir tragen weiterhin dafür Verantwortung, dass die Palästinenser ehrenvoll leben können. So zielen wir auf eine ruhige Koexistenz ab. Angesichts der großen Animosität zwischen beiden Völkern kann nur eine demographische Trennung dies ermöglichen, sagt Schneller.
Ben Daniel
Vor einem Jahr besuchte Harold Basser zum ersten Mal nach 67 Jahren wieder Wien. Im Mai dieses Jahres wird er wiederkommen, da er die Aktion „Hand anlegen an die Geschichte“ am 5. Mai auf dem Zentralfriedhof unterstützen will.
Am 5. Mai, dem Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus in Österreich, startet auf dem Wiener Zentralfriedhof die Aktion „Hand anlegen an die Geschichte“. Am Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen werden Wiener SchülerInnen und andere InteressentInnen schwer zugängliche und verwachsene Gräber beim 1. und 4. Tor des Wiener Zentralfriedhofes pflegen und damit die Arbeit des Vereins „Shalom“ unterstützen. Aufgerufen zu dieser Aktion haben die Wiener Volkshochschulen, der Verband Wiener Volksbildung und Erinnern.at
60.000 Gräber auf 260.000 qum sind für eine jüdische Gemeinde von 7.000 Mitgliedern unmöglich zu bewältigen. Würden alle Wienerinnen und Wiener mithelfen, würde lediglich einen Arbeitsaufwand von 20 Minuten nötig sein.
Ein Ziel ist es auch, Kontakt mit im Ausland lebenden Menschen aufzunehmen, um die Gräber ihrer Vorfahren zu pflegen. Mit dieser Aktion, die in Zukunft jährlich durchgeführt werden soll, bekommen die TeilnehmerInnen das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun und Verantwortung für die Geschichte zu übernehmen. Gleichzeitig wird auch eine Brücke zu den vertriebenen Österreicherinnen und Österreichern gelegt und ein sichtbares Zeichen gesetzt, dass die Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus auch nach dem Gedankenjahr fortgesetzt wird.
Die Wiederbegegnung mit Wien im Mai des Vorjahres brachte auch für Harold Bassers Tochter Barbara einige Aha-Erlebnisse. Es regnet in Strömen, aber Schönbrunn war trotzdem auch durch das Autofenster zu erkennen. „Jetzt weiß ich erst, warum jedes Haus von Dir gelb gestrichen war.“ Eine Einsicht wie ein Schnitt mit einem Seziermesser, dass alles plötzlich offen legt. Gelb ist nicht unbedingt eine gebräuchliche Farbe in den Vereinigten Staaten um sein Haus zu streichen, doch für Harold Basser war es die einzige Farbe. „Alles was mich ausmacht ist aus Wien, alles was mir etwas bedeutet, hat mit Wien zu tun.“ Wenn man etwas so liebt, braucht es seine Zeit, bis man darüber hinwegkommt, verstoßen worden zu sein. Bei Harold Basser, dem Bauingenieur und Architekten, hat es 67 Jahre gedauert. Nicht ganz ein Jahr nach dem Tod seiner Frau besuchte er mit seiner Tochter Wien. Nicht als Tourist, sondern auf den Spuren der Vergangenheit.
Für Barbara, die Tochter, die als Investmentbankerin in New York gearbeitet hat und sich zur Betreuung der kranken Mutter ein Sabatical genommen hat, ist Wien keine fremde Stadt, sie ist mit Wien aufgewachsen, wenn auch nicht in Wien. Von der Sprache bis zu den Mehlspeisen ist ihr alles vertraut, wenn es auch nicht leicht ist dem süßen Geschmack a la Österreich in New York zu frönen. Da die Elterngenerationen auch die entsprechende österreichische Mischung aus ungarischen und tschechischen Vorfahren hatten, geht es hier nicht nur um die Sacher-, sondern auch um die Doboschtorte. Die Eltern sprachen Deutsch immer dann, wenn sie wollten, dass die Kinder etwas nicht mitbekommen. Doch die Geheimsprache war bald für die Kinder kein Problem und so wechselten die Eltern ins Wienerische, doch auch der Dialekt bot bald keine Sicherheit.
Die Liebe zu Wien ist groß, doch das Sensorium geschärft. Warum muss der Kellner so einen Witz mit den Mazzesknödeln machen? Würde die Begegnung in der Stadt neben den Bauwerken und den Spuren der Vergangenheit nur aus derartigen zufälligen menschlichen Bemerkungen am Rande bestehen, würde ein Puzzlestein bald ins gefertigte Bild passen. Welche andere als zufällige Begegnungen sollte geben? Wir haben hier nur mehr Grabsteine, um die können wir uns kümmern. In der Zwischenzeit sind es Grabsteine und Menschen.
Jeder trägt seine Landschaft der Kindheit mit sich herum.
Dass Harold Basser auch der Volkshochschule Hietzing einen Besuch abstattet, hat nicht nur mit dem Projekt „Juden in Hietzing“ zu tun.
Zentralfriedhof – Alter jüdischer Friedhof
Nach seiner Pensionierung gibt Harold selbst Kurse für den Harvard Club in Massachusetts und in Arizona über Nietzsche, über Kafka, über Philosophie. Darüber erzählte er im Kurs Easy Konversation in der Volkshochschule Hietzing. Aus dem kurzen Hallo – um einfach einen Eindruck von der Lernatmosphäre zu bekommen – wurde mehr als eine halbe Stunde Fragen und Antworten.
Am 5. Mai wird Harold Basser mit seiner Tochter den Friedhof besuchen und er hofft dort im Rahmen der Aktion „Hand anlegen an die Geschichte“ auf Menschen zu stoßen, die bereit sind, Verantwortung für die Vergangenheit zu übernehmen.
Robert Streibel
Information über die Aktion am 5. Mai 2006: Dr. Robert Streibel (Netzwerk Wien: Erinnern.at), Volkshochschule Hietzing, Hofwiesengasse 48, 1130 Wien, Tel. 01/804 55 24-12.
INW: Wie sieht die Situation in Österreich aus?
Vladimir Vertlib: Österreich geht es wie immer gemischt. In den letzten fünf, sechs Jahren ist viel Positives geschehen. Sechzig Jahre nach Kriegsende bekommen die Nachkommen jener Juden, die von den Nazis aus Österreich vertrieben wurden, endlich ihr Vermögen zurück oder werden entschädigt. Statistiken belegen außerdem, dass der Antisemitismus nicht mehr so stark ist wie früher. Aber noch wichtiger ist, dass die ehemaligen Zwangsarbeiter entschädigt werden, auch wenn es sich bei diesen Zahlungen in vielen Fällen nur um symbolische Beträge handelt. Andererseits lösen heute antisemitische oder ausländerfeindliche Äußerungen, die noch vor fünfzehn, zwanzig Jahren einen Skandal bedeutet hätten, keine großen gesellschaftlichen Kontroversen mehr aus, auch wenn sich seitens des Establishments oder der intellektuellen Elite in solchen Fällen fast immer Widerstand regt.
INW: Ist der rechte Rand in die Mitte gerückt?
Vertlib: Nein, ich habe vielmehr den Eindruck, dass sich das liberale Österreich mit der Tatsache abgefunden hat, dass es in diesem Land immer einen gewissen Prozentsatz an Antisemiten, Chauvinisten und Rechtsradikalen geben wird.
INW: Haben sich die Lager arrangiert?
Vertlib: Nein, aber seit den 90er Jahren ist ein Abstumpfungsprozess zu beobachten.
INW: Sind die Österreicher von Politikmüdigkeit befallen?
Vertlib: Ich denke, sie sind optimismusträge geworden. Der Staat verhält sich einigermaßen korrekt: David Irving wurde zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Es wurde sogar die Verfassung geändert, damit der Abgeordnete Kampl, der gemeint hat, Wehrmachtsdeserteure seien „Kameradenmörder“ gewesen, nicht turnusmäßig zum Präsidenten des Bundesrats gewählt werden muss. Andererseits macht diese Regierung den Staat kaputt. Das Sozialsystem wird ruiniert, das Exilrecht ausgehöhlt. Es gibt eine wachsende Ausländerfeindlichkeit. Das alles wird von viel zu vielen Menschen einfach hingenommen. In meinem neuen Buch wollte ich unter anderem zeigen, dass es andere Möglichkeiten des menschlichen Verhaltens gibt, dass sich Zivilcourage oder einfach nur Engagement auch lohnen kann.
INW: Ist dieses Nebeneinander von Unvereinbarem ein Auslöser für Dich gewesen?
Vertlib: Zum Teil. Ich habe drei Menschen interviewt: Durch Zufall lernte ich den „ersten Mörder“ kennen, einen Mann, der vor vielen Jahren wegen Totschlags eine Gefängnisstrafe absitzen musste. Ich sprach mit Renate, einer Frau aus Mähren. Sie ist eine gute alte Bekannte, die in Wirklichkeit anders heißt, und mit dem Maler Roman Haller, dem Vater eines ehemaligen Schulkollegen. Ihre Lebensgeschichten scheinen mir symptomatisch für die Abgründe, Absurditäten und Katastrophen des 20. Jahrhunderts zu sein. Es geht um Mehrfachidentitäten und die menschliche Existenz als solche. Die NS-Zeit dient dafür nur als Folie.
Ich wollte prüfen, wie Menschen in Extremsituationen reagieren, in denen sie vor moralischen, vor existentiellen Entscheidungen stehen, wie sie diese meistern oder daran zerbrechen. Da ich ein gelernter Österreicher bin, war es für mich nur folgerichtig, dies vor dem Hintergrund der jüngeren österreichischen Vergangenheit zu machen. Es geht in diesem Buch nicht in erster Linie um die Aufarbeitung der Vergangenheit. Ich wollte menschliche Verhaltensweisen – Mut wie Feigheit – im Angesicht grundsätzlicher Entscheidungen zeigen
INW: Du weist nach, dass „die Grenzen des Erlaubten und des Geduldeten nicht immer dieselben waren“.
Vertlib: Die Grenzen des Erlaubten sind klar definiert. Das ist auch in Österreich so. Das sehe ich positiv, denn früher gab es nicht einmal diese Grenzen. Ich will die größer gewordene Grauzone des Geduldeten aufzeigen. Das Schicksal der Frau aus Mähren in ein „Ein schöner Bastard“ ist ein gutes Beispiel dafür. Vor ein paar Jahren gab es in Österreich eine heftige Debatte rund um den Beitritt Tschechiens zur EU. Es ging um die Aufhebung der so genannten Benesch-Dekrete. Die beiden Lager, die „Rechten“ und die „Linken“, standen einander unversöhnlich gegenüber. Niemand war fähig, die Grenze in die Grauzone hinein zu überschreiten. Es ist aber wichtig darauf hinzuweisen, dass auch in der Tschechoslowakei während und nach dem Krieg Unrecht auf beiden Seiten passiert ist. Man darf aber nie vergessen, wer der Auslöser dieses Unrechts war – der Nationalismus, die Dummheit und vor allem das Naziregime. Manchmal ist es schwer zu unterscheiden, wer „die Guten“ und wer „die Bösen“ sind.
INW: Und Vorzeichen können sich verändern. Friedrich Reisner, Renates Vater, gerät immer wieder in Lebensgefahr, mal wegen seiner jüdischen Abstammung, mal wegen seiner deutschen, mal wegen seiner tschechischen Staatsangehörigkeit.
Vertlib: Die Frage der Zugehörigkeit ist eine nie klar zu definierende. Es gibt keine eindeutigen Antworten auf bestimmte existentielle Fragen.
INW: Außer der, dass man sich um persönlichen Anstand bemühen muss.
Vertlib: So ist es. Wie man Moral definiert und wie man diese Anständigkeit lebt, ist jedoch eine Grundfrage, die jeder Mensch sich wieder und wieder neu zu stellen hat.
INW: Im neuen Buch „Mein ersten Mörder“ geht es um das Nicht- oder erst Spätbekennen zu eigenen Untaten und unverhältnismäßiges Reagieren bei nichtigem Anlaß. Es gibt nur Ducken oder Zuschlagen.
Vertlib: Genau. Die Geschichte spielt in den Fünfzigerjahren, und der Protagonist lebt in einem Land, in dem permanent die eigenen Gefühle, die eigenen Erinnerungen verdrängt oder unterdrückt werden. Der jüngeren Generation, zu der der Protagonist gehört, wird nicht beigebracht, mit den eigenen Gefühlen umzugehen. Deshalb kann er auf diese immerwährende Verlogenheit nicht angemessen reagieren. Seine Reaktion kann nur falsch sein, weil es niemanden in seiner Umgebung gibt, der ihm einen Ausweg zeigt. Das ist ja die Tragik der Nachkriegsgeneration gewesen, die ja heute noch sehr stark darunter leidet, dass die Väter und Mütter geschwiegen haben.
INW: Zwei der drei Hauptpersonen neigen zu Selbstverletzung schon in ihrer Kindheit.
Vertlib: Wer keinen Zugang zu seinen Gefühlen findet und diese auch nicht nach außen tragen kann, ist dazu verdammt, entweder anderen oder sich selber weh zu tun.
INW: War Deine eigene Odyssee in der Kindheit der Lehrpfad solcher Erkenntnis? Du musst die Wanderungen Deiner Eltern ja auch ungefragt mitmachen.
Vertlib: Sicher, die Traumata, die ich in der Emigration erlebte, der Umgang meiner Eltern mit ihren Illusionen, als sie in den Westen kamen – all das hat mich emotionell verletzt und belastet mich bis heute, andererseits wahrscheinlich auch hellsichtig und hellhörig gemacht.
INW: Drei Grundmotive Deines Buches – Fremdbleiben, die Suche nach Heimat und Exil – waren auch die Dich prägenden Momente…
Vertlib: Das sind sie bis heute geblieben.
INW: In Deinem Buch „Zwischenstationen“ von 1999 heißt es: „Russland-Israel-Österreich-Italien-Österreich-Holland-Israel-Italien-Österreich und nun die USA. Ich bin des Reisens müde.“ Seit langem hast Du Wien verlassen, bist in Salzburg zur Ruhe gekommen.
Vertlib:Jemand, der eine Emigration in einem so prägenden Alter wie ich durchmachen musste, ist wahrscheinlich immer unterwegs. Ich habe manchmal das Gefühl, als Kind weggefahren, aber nie angekommen zu sein. Ob ich überhaupt irgendwo ankommen kann, das ist eine Frage, die ich mir immer wieder werde stellen müssen. Dennoch fühle ich mich in Österreich wohl, auch wenn ich dieses Land oft kritisch sehe.
In Salzburg zu leben bedeutet, dass ich mich dem Literaturauftrieb und den vielen Intrigen in Wien entziehen kann. Das kleine Österreich hat eine große Hauptstadt mit einer weit zurückreichenden historischen und kulturellen Tradition. Darum ist Wien oft selbstgenügsam und egozentrisch. Ein Wiener Künstler befindet sich vermeintlich im Zentrum des Kulturlebens des Landes, meint, er wäre am Nabel der Welt, verliert aber die Außenperspektive, die man von der Provinz aus hat. In der österreichischen Provinz bleibt einem ja nichts anderes übrig, als über die Grenze der eigenen Stadt oder des Bundeslandes hinauszuschauen.
Als Jude und als Zuwanderer erlebe ich bestimmte Dinge anders als Menschen, die schon seit Generationen hier leben und für die sich die Frage der Zugehörigkeit nie stellt. Ich sehe das aber nicht negativ. Ich habe meine Heimat in einem kulturellen Zwischenbereich, in einem Identitätszwischenraum, gefunden.
INW: Was ist, Deiner Ansicht nach, die Aufgabe von Kunst?
Vertlib: Mehr Fragen zu stellen als definitive Antworten zu geben.
Buchtipp: Vladimir Vertlib: „Mein erster Mörder. Lebensgeschichten“ , Deuticke , 2006. 255 S., € 20,50.
Heimat, sweet Heimat, eine leicht kabarettistische Musikrevue im Stadttheater: Der Kellner eines Wiener Caféhauses in New York und seine Chefin servieren Österreich-Nostalgie in Form von Couplets von Exilkünstlern wie Leopoldi, Bronner, Holländer. Beim Hinausgehen aus der Vorstellung hörte ich ein Gespräch. Rührselig, dem Thema der Emigration nicht gerecht werdend, die Emigranten hätten allen Grund gehabt, dankbar zu sein, dass sie in Amerika aufgenommen worden sind. Das Herumraunzen sei ein Hohn für die, die es nicht geschafft hätten. Das dürfen wohl Nachkommen der Opfer denken und sagen, ich erlaubte mir doch etwas milder zu urteilen.
"Heimat, sweet Heimat"
Anita Ammersfeld, Helmut Wallner
Ich musste da an John Baer denken, den Vertrauensanwalt des österreichischen Generalkonsulats in Los Angeles. Ich war Generalkonsul, John Baer, ein mehr österreichischer als preussischer Jude aus Breslau, der auf abenteuerlichen Umwegen über Südamerika in den USA gelandet war, verheiratet mit Ursula, die in der Schule zur Weihnachtsfeier immer das Christkind spielte, weil sie so blond war. Johns Vater, Rabbiner, war der erste Jude, den die Nazis in Breslau umgebracht haben. Gewiss, John war mit dem Leben davongekommen, aber auch die, die noch davongekommen waren, trugen schwer am Schicksal ihrer Angehrigen, die zurückgeblieben waren. So einfach war das Los der Gerade-noch-davon-Gekommenen wohl nicht abzutun. Vielleicht war es auch nicht so gemeint. Ich hatte immerhin während vier Jahre Zeit, die österreichisch-jüdische Emigration kennen zu lernen, zu versuchen, in ihre Gefühlswelt einzutauchen.
Für mich war es ein Rendezvous mit dem Großbürgertum, wie es heute nur mehr in der Literatur existiert. Einige der Exponenten wie Kelsen und Zweig waren schon gestorben, nicht ohne Spuren hinterlassen zu haben und da waren die Schönbergs, die Familie Ziesel, der Sohn Korngold, ein Arzt, da war die Familie Altmann, er, ein hochgewachsener Gentleman mit chevaleresken Manieren, sie die Grande Dame par excellence, die ich mir ebenso wie ihre Tante Adele sehr gut von Klimt gemalt vorstellen mochte. Da war Friedrich Hacker, der Terrorspezialist und Gründer der Freud-Gesellschaft, der Drehbuchautor Walter Reisch, Yvonne Jurmann, Bronislav Kaper, weltberühmt durch das Lied von San Franzisco, Frederick Loewe, der, wenn er nicht gerade mit Fair Lady belästigt wurde, mit viel Gefühl am Klavier eines seiner Lieblingslieder intonierte – den Erzherzog-Johann-Jodler. Da war Krenek, Gina Kraus, Paul Henried, Protagonist Humphrey Bogarts im Film Casablanca, die Brüder Kohner, die Witwe Feuchtwanger, zwar keine Österreicherin, aber uns doch nahestehend.
Man konnte sagen, in ihrem Lager war Österreich – nur befand sich das Lager in den USA. Und da waren die Unzähligen, die nicht zum Oberhaus zählten: Das Ehepaar Fuchs, Gründer des Viennese Culture Club, der durch viele Jahre einen Opernball organisierte; der kleine Inhaber einer Snack Bar, geboren in Przemisl. Seine Eltern hätten täglich für Kaiser Franz Jossele gebetet, weil er war gut for die Jidden.
Egon Breiner, der Prototyp des sozialdemokratischen Arbeiters, mit Kreisky in der schwedischen Emigration. Er sagte mir nach der Lektüre von Torbergs Erben der Tante Jolesch, er hätte nie ein so wenig anspruchsvolles Buch mit so viel Anteilnahme gelesen. Torberg habe den Ton richtig getroffen, wenn er eine Emigrantin sagen ließ, sie sei schon happy, aber nicht glücklich.
Sie waren alle dankbar, dass die USA ihnen Zuflucht gewährt hatte. Sie gaben dieser Dankbarkeit auch aus vollem Herzen Ausdruck, allerdings war der Ausdruck gehemmt, denn sie fanden bei den Adressaten wenig Resonanz. Die Durchschnittsamerikaner waren, das sind sie bis heute, hilfsbereit, nicht antijüdisch, oder nur ein bisschen, sie waren aber etwas nicht: mitfühlend.
Jedenfalls nicht für das, was die Emigranten verloren hatten. Dass man Hab und Gut verliert, na schön, das passiert bei einem Buschfeuer, bei einem Erdbeben, das baut man eben wieder auf. Heimat? Kein sehr gefühlvoller Begriff in einer Welt, in der Mobilität alles und Sesshaftigkeit ein Mangel ist, nun und die Kultur, europäische Kultur, was zählt das schon? Das sind intellektuelle Eierköpfe und schrullige Teesitten aus England.
Und gerade das Verständnis für diesen Verlust ging ihnen ab. Sie verloren nämlich nicht allein die Heimat, sie verloren eine ganze Welt.
Ihre Nostalgie galt sicher nicht dem Österreich, aus dem sie vertrieben worden waren, sondern dem Österreich im Abgangsglanz der Monarchie.
Es gab, so wie es eine Welt des Militärs, der Finanz, eine Welt der Abeiterbewegung gab, auch eine eigene kulturelle Parallelwelt, in der Zwischenkriegszeit ganz besonders stark geprägt durch das Wiener Judentum. Dieses stieß in ein Vakuum vor, das die abgedankte Aristokratie hinterlassen hatte. Ihr Mäzenatentum bestand dabei nicht nur darin, Künstler finanziell zu fördern, sie verbreitete eine Atmosphäre, die Literatur, Malerei, Musik und überhaupt das geistige Leben inspirierte.
Im Wien dieser Jahre kulminierte die Psychoanalyse, die Wiener Schule des Philosophie, der Nationalökonomie, des Rechtspositivismus, des Films, die Wiener Werkstätte und noch manches mehr. Es waren die letzten Atemzüge, mit denen das alte Österreich die Reste seiner spirituellen Größe aushauchte, bis es dann 1938 und den folgenden Jahren endgültig in Agonie verröchelte.
Es war, vergessen wir das nicht, auch das Wien des jüdischen Kabaretts, eines Berg, Eisenbach, Grünbaum, von denen Salten sagte, das Pathos des Leidens wandle sich in zynischen Witz, Verzweiflung kippe um und spotte ihrer selbst in gesalzenen Späßen, tausendjähriger Schmerz werde zum Gelächter des Abends.
Die Übersetzungen des stillen Zechers oder des kleinen Cafés in Hernals ins Englische waren vielleicht etwas naive, aber gut gemeinte Versuche, Stimmungen nach Amerika zu transponieren und für diese Menschen, die eine so enge Beziehung zur Sprache und Musik, zum Intellekt wie zum Sentiment hatten, ein kleines Refugium. Kitschig, wenn man will, man muss aber nicht. Man kann es auch interpretieren als eine wehmütig trotzige Erinnerung an eine Lebensart, aus der man sich nicht so leicht abnabelte, in der man Konversation führte, Damen die Hand küsste, während man in New York, so es einem dort einfiel, einen Handkuss zu applizieren, einen versehentlichen Nasenstüber riskierte oder die holde Maid einen Knicks versuchte und hauchte: Oh thank you so much. Man wusste schon, dass es vorbei war. Das Vorbeisein und das Bedauern darüber, das persiflierte man eben ein bisschen, mit etwas Staubzucker drüber.
Die Zeit heilte wohl nicht alle Wunden, aber sie rückte das Unheil aus dem Mittelpunkt.
Schon 1970 sah manches anders aus als 1938 und noch viel mehr im Jahr 2006 und so lässt sich Torberg zitieren: Neben unseren Gesetzesbüchern wird gewöhnlich unserem Familiensinn ein Hauptverdienst zugeschrieben, dass es uns noch gibt. Unser Humor darf mindestens ein gleiches Verdienst in Anspruch nehmen.
Für mich war Heimat sweet Heimat eine heiter-besinnliche Einkehr in ein besseres Österreich.
Dr. Heimo Kellner war in den Jahren 1974–78 österreichischer Generalkonsul in Los Angeles
Rabbinerin Eveline Goodman-Thau
ist Professorin für jüdsche Religiongs-
und Geistesgeschichte.
Sie lehrt an der Universität Wien und
ist Direktorin der Hermann-Cohen-
Akademie für Religion, Wissenschaft
und Kunst in Buchen / Odw.
Die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche der letzten Jahrzehnte in Europa markieren das Ende der Nachkriegsordnung. Im gemeinsamen Suchen nach einem Ethos im Haus Europa hat dies auch Konsequenzen für eine Reflexion über den Ort des jüdischen Denkens in der Europäischen Geistesgeschichte. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Shoah wird es immer deutlicher, dass wir über das verlorene jüdische Erbe in Europa nicht mehr allein unter den Stichworten „Opfer“ und „Täter“ reden können, sondern weit umfassender den jüdischen Beitrag zur europäischen Geistesgeschichte bewusst zu machen und zu bedenken haben.
Die Reihe 100 Jahre jüdische Denker will neben den öffentlichen Debatten bezüglich Gedenkfeierlichkeiten, Erinnerungsgesten und einem angemessenen kollektiven Gedächtnis die jüdischen Denker in den Mittelpunkt rücken – an den Punkt, wo Geschichte und Biografie sich kreuzen, wo die historischen Ereignisse ihr Leben als Menschen und Juden radikal änderten, Ereignisse, die ihr Denken und Wirken geprägt haben und bis in unsere Zeit weiterwirken.
Es stellt sich heraus, dass eine große Zahl dieser um die Jahrhundertwende geborenen Denker einen wichtigen Stellenwert in der gegenwärtigen geistesgeschichtlichen Debatte einnehmen. Zu ihnen gehören zum Beispiel Viktor Frankl, Elias Canetti, Manès Sperber, Arthur Koestler, alle 1905 geboren, wie auch Emmanuel Lévinas und Hannah Arendt, geboren 1906. Diese Rubrik ist ihnen und vielen anderen gewidmet.
Emmanuel Lévinas
1906–1995
Dieser universalistische Anspruch verbindet Lévinas unmittelbar mit der Tradition der Antike, die in der Bibel von Anfang an weniger einen Glaubensinhalt im religiösen Sinn sah, sondern vielmehr eine Bestätigung, dass das menschliche Leben einen Sinn hat. Die Arbeit des menschlichen Kommentars besteht darin, diesen Sinn als göttlichen und menschlichen Sinn zu entschlüsseln: dibra Tora kilschon bnei adam – die Tora redet wie in menschlicher Sprache – lautet das öfters von Rabbi Jischmael wiederholte Diktum.
Lévinas wendet sich hier gegen das Systematische im abendländischen Denken, ob religiös oder profan, gegen jegliche historische oder meta-historische Entwürfe der Wirklichkeit, gegen die Festlegung der Geschichte und der Ethik in einem System und gegen die christliche Lehre von Mystik und Innerlichkeit als Quelle und Ursprung der Lebensdeutung. Er erinnert in diesem Zusammenhang an die entscheidende Bedeutung der so genannten Nationalliteraturen, wie die Werke von Shakespeare und Molière, Dante und Cervantes, Goethe und Puschkin für die Anthropologie des Menschen, da sie zur Exegese herausfordern. Das „sprachbegabte Tier“ Aristoteles’ findet seine irreduzierbare Bedingtheit einzig und allein in der Sprache. Dies bedeutet jedoch nicht ein Eingebunden-Sein in Welt und Geschichte für Lévinas, sondern eine Voraussetzung für die Beziehung zum anderen:
Ausgehend von einem präverbalen Ausdruck ruft sie meine Verantwortung für den anderen ins Bewusstsein... Verantwortlichkeit, aus der meine Antworten aufsteigen... Schrift ist immer Vorschrift, Ethik, göttliches Wort, das mir gebietet und mich den anderen weiht, heilige Schrift, noch bevor sie geheiligter Text wird. Wort ohne Verhältnis zum politischen Diskurs, Informationen übersteigend – Riß meines guten Gewissens da zu sein, im Seienden, das bin ich.
Nach dem Bruch im europäischen jüdischen Denken ist es der französische Philosoph Emmanuel Lévinas, der sich um ein Kontinuum bemüht. Er plädiert für eine Zurückgewinnung des Ontologischen, nicht als ein Jenseits des Seins, sondern in einem Denken, welches ein Erwecktwerden durch das Antlitz des anderen ist, durch die Forderung also, die der andere an mich stellt. Betroffenheit von der Transzendenz bedeutet für Lévinas nicht ein Dasein, welches dem Sein unterworfen und ausgeliefert ist, sondern versteht es als Ereignis, welches seinen Ausdruck findet in der Einmaligkeit des Ich, die die Unmöglichkeit bedeutet, sich dem anderen zu entziehen. Solange es keinen anderen gibt, kann man weder von Freiheit noch von Unfreiheit sprechen, gibt es noch keine Identität der Person, die eine Identität des ‚Ununterscheidbaren’ ist, im Inneren dessen, der um so einmaliger ist, je weniger er sich dem anderen entziehen kann. Das Mich-nicht-entziehen-Können ist genau das Kennzeichen der Einmaligkeit in mir: die erste Person bleibt erste Person selbst dann, wenn sie sich empirisch entzieht. Und etwas weiter heißt es: Ich spiele nicht auf das Gefühl der Sünde an, um zu sagen, dass man in diesem Gefühl der Sünde bezeugt, dass man für den anderen ist; ich will sagen: man ist ausgeliefert, weil man Ich ist.“
Das Individuum wird erst zum Individuum in der Erfahrung mit dem anderen, noch vor jeglicher ethischen Kategorie – wir werden hier erinnert an die Schöpfungsgeschichte in Genesis, wo der Mensch, als Gottesebenbild geschaffen, seine Identität als Mann und Frau erst findet, wenn Isch (Mann) der Ischa (Frau), die ihm Gott aus seinem Inneren geschaffen hat, begegnet. Erst dann kann er die Welt benennen, bewerten. In diesem Sinne ist das Ich absolut nicht begrifflich zu konstruieren. Zwar gibt es in der Erkenntnis Rückkehr vom Ich zu sich selbst, doch wenn es im Bewußtsein ein Zentrum gibt, zu dem hin die Rückkehr möglich ist, so stammt der Knoten dieser Rückkehr aus einer anderen Verflochtenheit. Durch das Ethische, durch die Emphase meiner Verpflichtung bin ich Ich.
Wir wollen nun kurz zwei Aspekte hervorheben, die für unser Thema von Bedeutung sind: Erstens die Frage nach dem Tod des anderen und zweitens die Frage nach der Verbindung zwischen Sein und Ethik. Beide werden eng miteinander verbunden und bilden, wie wir sehen werden, den jüdischen Kern der Philosophie Lévinas’.
Sein Seinrecht zu verantworten haben, nicht in Bezug auf die Verallgemeinerung irgendeines anonymen Gesetzes, einer juristischen Abstraktion, sondern in der Furcht für den anderen. Ist mein ‚In-der-Welt- Sein’ oder mein ‚Platz an der Sonne’, mein Zuhause, nicht bereits widerrechtliche Inbesitznahme von Lebensraum gewesen, der anderen gehört, die ich schon unterdrückt oder ausgehungert, in eine Dritte Welt vertrieben habe: ein Zurückstoßen, ein Ausschließen, ein Heimatlos-Machen, ein Ausplündern, ein Töten?
Die Furcht für den anderen, nicht vor dem anderen, verwandelt das anonyme Gesetz in eine Verantwortlichkeit, die eben kein juristisches Prozedere ersetzen kann, da das Sein des Menschen vom anderen her bestimmt wird und daher nie ein abstraktes Sein sein kann. Das Antlitz des anderen ist für Lévinas der Ort der Sinngebung. Das nackte Antlitz bedeutet eben die Grenze des Menschseins, wo keine Flucht vor mir selbst, weder nach Innen noch nach Außen, möglich ist, es ist die letzte Station, „die Verletzung selbst“. In diesem Augenblick ist der Mensch allein, wehrlos, ausgeliefert, seinem Tod ausgesetzt. Wie in vielen philosophischen Texten von Lévinas steht auch hier der biblische Mythos im Hintergrund. Die beiden Protagonisten werden nicht beim Namen genannt, und doch wissen wir, dass es sich hier um den ersten Brudermord handelt. Der erste Mörder kennt vielleicht noch nicht das Ergebnis des Schlages, zu dem er ausholt, aber seine Gewaltabsicht lässt ihn die Linie finden, auf der der Tod in nicht zu parierender Geradlinigkeit das Antlitz des Nächsten trifft ...
Die Absicht ist bereits da im Ausdruck der Ausgesetztheit des anderen, dessen Sterblichkeit noch vor jedem Wissen vom Tod mich vor Gericht zitiert, mich herausfordert zu einer Antwort, meine Sache ist. Es betrifft mich, unmittelbar, ist die Antwort auf die erste Frage Wo bist du, Mensch? und Antwort auf die zweite Bin ich denn meines Bruders Hüter?, Fragen, die im Antlitz des Todes keine Antwort bekommen können, da ich ja der Angeklagte und der Ankläger bin: Ich, der Täter und das Opfer. Fragen, die mich für den Tod des anderen zur Verantwortung rufen, meine Existenz von seinem Tod abhängig machen, mein Leben durch den Tod des anderen bedingen.
Lévinas verbindet hier die Paradiesgeschichte – die Herausforderung an den Menschen durch sein Wissen um den Tod im Antlitz Gottes – und die Geschichte des ersten Brudermordes. Die erste ist die Konfrontation mit Gott, die zweite die mit dem anderen. Beide handeln vom Tod. Der Sinn des Todes ist aber jenseits der abstrakten Dialektik des Seins, er ist untrennbar von der Verantwortung gegenüber Gott und den anderen Menschen. Die Gewalt ist eben nicht auf die Vernichtung zu reduzieren, auch nicht auf die Schuld oder die Frage von Opfer und Täter. Sie betrifft in ihrer Konkretheit, was für mich die unmögliche Preisgabe des anderen bedeutet, wo Verzicht Selbstverzicht bedeutet. Vernichtung des anderen, Selbstvernichtung. Der Sinn des Todes beginnt und endet im Zwischenmenschlichen. Wo bist du, wer hat dir gesagt, dass du nackt bist, sind eben keine Drohungen Gottes. Die Sterblichkeit des Menschen kann doch nicht in der Strafe für ein Verbot aufgehoben werden, genau so wie jede Strafe für einen Mörder ihn nicht von seiner Sterblichkeit erlösen kann, eine Sterblichkeit, die das Zeichen der Verantwortung für den anderen trägt. Sie betrifft den Menschen in seiner Menschlichkeit, Einzigartigkeit, in seiner Berufenheit vom Tod zu wissen und zu leben im Antlitz des Todes des anderen, der ja sein Tod ist.
Die Furcht für den anderen Menschen kehrt nicht zurück zur Angst um meinen Tod, sagt Lévinas. Es überschreitet das Sein-zum-Tode in einem ethischen Erwachen, so dass die Angst vor meinem Tod nicht umschlägt in einen Todesschlag gegen meinen Nächsten. Dies bedeutet, so meinen wir, kein Ende des Seins, sondern ein Eingebettetsein in einer Empfindlichkeit – nicht in einer Befindlichkeit, welche wiederum nur eine abstrakte Kategorie wäre. Eine Empfindlichkeit, die nicht in meiner Befindlichkeit, meinem Sein, sondern in meinem Empfinden, meiner Empathie für den anderen, aufgeht. Der Mensch – Adam – ist als Einzelner seiner Gattung, der Menschheit, geschaffen, und im Tod des anderen begegne ich dem Tod von Millionen…
So folgt in der Bibel auf die Geschichte von der Erkenntnis von Gut und Böse, vom Wissen um den Tod, die Geschichte vom Tod in seiner nackten Realität. Kein Verbot, keine Warnung kann Kain retten, und am Zeichen auf seiner Stirn begegnet von nun an ein jeder dem Tod des anderen als Furcht für den anderen, als Furcht vor Gott. Abel ist tot, der Bruch ist da, aber Kains Leben geht weiter, eine Kontinuität ist geschaffen. Kain fürchtet um sein Leben, jemand könnte ihn umbringen – das Zeichen auf seinem Antlitz ist nun sein Schutz… Die Frage nach dem Menschen findet so bei Lévinas ihre Antwort in der Verantwortung für den anderen, die in der Furcht für den anderen Ausdruck findet.
In diesem Zusammenhang bekommt Der Tod ist ein Meister aus Deutschland eine neue Bedeutung, die nicht in der Schuldfrage um Auschwitz aufgehen kann. Auch nicht in der Erinnerung an die sechs Millionen: In den Namen der Ermordeten sind ja die Namen der Mörder eingraviert als Gebot der Verantwortung. In den Worten von Lévinas: So wie das Gebot, durch das Gott in mein Denken einfällt, mir vom Antlitz des anderen her bedeutet wird , so fallen die Furcht für den anderen und die Furcht für Gott zusammen. Im Anblick seines toten Bruders begegnet Kain nicht Gott, sondern sich selbst.
Es ist ein tragisches Paradox, dass diese Einsicht gerade dem jüdischen Philosophen Emmanuel Lévinas nach Auschwitz als Erneuerer des jüdischen Denkens in der Europäischen Geistesgeschichte so deutlich wurde. Bis zum Ende glaubte er an die Erneuerung des jüdischen Denkens im Abendland, trotz allem, da für ihn authentisches Denken immer Erneuerung darstellte, ein Aufmerken auf die Jugend der Welt, welches in der Fortdauer des Judentums sichtbar wird.
Er wusste, bis zum Ende in der Diaspora, diese Fortdauer ins Licht der Ewigkeit zu stellen, um auch dem modernen säkularen Juden im Land Israel einen alten Weg zu zeigen:
Nichts ist lächerlicher als der eingesessene Jude, dessen Herz an allen Nichtigkeiten der Welt hängt, der schwierige Lehren vergisst, sich jedoch immer noch für ein prophetisches Bewusstsein hält. Wie seriöser erscheint dagegen ein Wille, der sowohl auf jene maßlosen Gefahren und jene Auserwähltheit verzichtet, um sich Gefahren im Maßstab der Geschichte und der politischen Tat zu stellen.
Leider erreichte uns die traurige Nachricht, dass Elfriede Sturm am 11. März für immer von uns gegangen ist.
Elfriede Sturm (DDr. Hofrat) hatte bis zu ihrer Pensionierung einen sehr hohen Posten bei den Österreichischen Bundesbahnen und ihr Kontakt mit Israel bestand infolge ihrer jahrzehntelangen Tätigkeit als Generalsekretärin der Österreichisch-Israelischen Gesellschaft in Wien. Diese Funktion übte sie aus, wie sie einmal dem Verfasser dieser Zeilen erzählte, infolge eines Vermächtnisses: Als der damalige Präsident der ÖIG Wien, Heinz Nittel (Stadtrat von Wien), von arabischen Terroristen ermordet wurde, beschloss sie das Amt der Generalsekretärin, so lange sie dazu in der Lage sei, ihm zu Ehren auszuüben.
Sie war sehr aktiv in allen Bereichen, welche Israel betrafen und ihre Tatkraft, Energie und ihr Fleiß waren entscheidende Faktoren in allen pro-israelischen Veranstaltungen und Treffen in Wien.
In der mährischen Stadt Mikulov (seinerzeit Nikolsburg) sorgte sie für die Wiederinstandsetzung der ehemaligen Synagoge, wenn auch als Zentrum zur Erinnerung an die jüdische Kultur, sowie der Errichtung eines sogenannten „Lehrpfads“ (mit genauer Beschilderung und ausführlichen Erklärungen) durch das ehemalige Getto. Dies geschah zur Erinnerung an ihre Familie – Spielberg – welche von dort stammte.
In Elfriede Sturm hat das jüdische Volk und der Staat Israel eine wahre Freundin verloren und wir werden ihr Angedenken stets hochhalten.
Peter F. Michael Gewitsch
Beim Thorastudium, 1880
Isidor Kaufmann wurde am 22. März 1853 in der österreichisch-ungarischen Monarchie in Arad, heutiges Rumänien, geboren und starb am 16. November 1921 in Wien. Zunächst wurde er Bankangestellter. Mit 21 Jahren kopierte er einen Moseskopf, der in der Auslage der Tabaktrafik seiner Verwandten ausgestellt wurde. Dadurch nahm die Umwelt Notiz von seiner künstlerischen Veranlagung. Der Arader Polizeichef Baron Aczél unterstützte daraufhin Kaufmann finanziell und schickte ihn auf die Budapester Landeszeichenschule. Nach einem Jahr zog Kaufmann, wie viele andere JüdInnen, nach Wien, wovon sie sich bessere Lebensbedingungen und größere Chancen versprachen. In der Reichs- und Residenzhauptstadt studierte er bis 1882 an der kaiserlichen Akademie der bildenden Künste bei dem Historienmaler Josef Trenkwald. Kaufmann wurde anschließend von Friedrich Schwarz, einem Kunst- und Gemäldehändler, unter Vertrag genommen.
Die jüdische Kultur wird als eine des Wortes verstanden – als eine von einem göttlichen Bilderverbot bestimmte. Somit stellt sich die Frage, wie die Überlieferungen zu dem Faktum stehen, dass es im 19. Jahrhundert zu einer Wende kam, innerhalb der gleichzeitig eine jüdische Kunst entstand, das Sammeln und Ausstellen von Judaica einsetzte und jüdische Museen – das erste 1895 in Wien eröffnet – gegründet wurden. Zu dieser Zeit war Antisemitismus weit verbreitet: Die JüdInnenhetze im westlichen und Pogrome im östlichen Europa nahmen zu. Obwohl sich damals die JüdInnen emanzipierten, teilweise assimilierten und akkulturierten, blieben sie weiterhin AußenseiterInnen, was als Gefährdung der eigenen Existenz gesehen werden kann. Trotz Assimilation hielten sie aus diesem Grund an der eigenen Kultur fest, sie bewahrten ein Stück Vergangenheit oder Familiengeschichte. Bestimmte Gegenstände wurden dem religiösen Impetus entzogen und zur Erinnerung an eine im Verlust befindliche eigene Geschichte gesammelt und gezeigt. Verbildlichung, Sammlung und Ausstellung sind somit ein Blick in die Vergangenheit und in die Gegenwart der JüdInnen, wobei das Orthodoxe im Begriff war zu verschwinden.
Stilistisch kann das Werk von Kaufmann in zwei Phasen eingeteilt werden: Die erste Phase der Genrebilder ist zeitlich in den 80-er und frühen 90er Jahren des 19. Jahrhunderts angesiedelt, die zweite beginnt ab 1894/95.
Für den aus Budapest stammenden Kunsthändler Schwarz schuf Kaufmann kleinformatige Bilder mit meist alltäglichen Szenen aus dem Wiener Volksleben in der Tradition Ferdinand Georg Waldmüllers und Carl Spitzwegs. Während die Biedermeierbilder eine durchaus moralisierende Wirkung hatten, können Kaufmanns Bilder als humorvolle und amüsante Blicke auf die WienerInnen verstanden werden, obwohl diese Genrebilder die BetrachterInnen auch mit sozialen Inhalten konfrontieren. Isidor Kaufmann malte seine Werke in Feinmalerei – jede Einzelheit ist in einer Weise gemalt, die eine Vorstellung von der Materie ausdrückt. Detailgenau malte der Künstler streng naturalistisch. In „Alter schützt vor Torheit nicht“ beispielsweise wurde ein bürgerlicher, christlicher Haushalt – an der Wand befindet sich ein Bild mit der Kreuzigung Christi, und über diesem steckt ein Palmzweig – dargestellt. Ein älterer Freier in Sonntagskleidung sitzt einer jungen Näherin gegenüber, welche sich über seinen Antrag sichtlich amüsiert. Kaufmann hat gerne Interieurs immer wieder neu kombiniert – ein ähnliches taucht in einer Darstellung aus dem jüdischen Volksleben, in „Der Besuch des Rabbi“, wieder auf: In beiden Bildern sind eine Kommode mit einer Standuhr, ein Kasten im Hintergrund, ein Tisch mit Stühlen und ein offenes Fenster dargestellt. Statt des christlichen Bildes oberhalb der Kommode malte Kaufmann in der jüdischen Wohnstube einen Spiegel, eine Abbildung von Moses mit den Gesetzestafeln und eine Misrach.
Nach den Genrebildern wandte sich Kaufmann der ostjüdischen Frömmigkeit zu, die er in seinen Bildern darstellte. Der Künstler unternahm mehrere Studienreisen nach Ungarn, Galizien, Russisch-Polen und in die Ukraine. Er malte dort Bilder oder Skizzen, die er im Wiener Atelier malerisch umsetzte, wie etwa das „Knabenbildnis“, in dem sein Sohn Eduard Modell für einen chassidischen Jungen stand. Dass diese Werke damals bei KäuferInnen begehrt waren, beweist ein zweites „Knabenbildnis“, das sich vom ersten nur durch eine hellere Farbigkeit, eine nähere Positionierung am Toravorhang und das Halstuch unterscheidet. Kaufmann malte manchmal mehrere Versionen eines Themas. Im Wiener Atelier entstand somit reproduzierte Authentizität durch neu zusammengefügte Realitäten. Kaufmann blieb zwar weiterhin der Feinmalerei treu, nur trat ein entscheidender Wandel in der Thematik seiner Bilder ein: Während die Genrebilder die BetrachterInnen zum Schmunzeln bringen, treten jetzt die häufig dargestellten Talmudisten in einen direkten Dialog mit den BetrachterInnen, da sie oftmals frontal aus dem Bild blicken. In seinen Porträts zeigt der Maler ostjüdische Identität bzw. den Typus der frommen OstjüdInnen; Kaufmann dokumentiert somit in seinen Bildern den von Glaubensvorstellungen, Symbolen und den Worten der Thora bestimmten Alltag, indem er Talmudisten in Kaftan, Streimel und Pejes aus der Sicht des assimilierten Westjuden – der er selbst war – malte. Im Kontext der Darstellung religiöser Motive stellt sich die Frage, für wen Kaufmann diese Bilder malte. KäuferInnen waren vor allem assimilierte, bürgerliche JüdInnen, die sich somit ein Stück eigener Geschichte bewahrten.
Porträt eines Rabbi
1899 richtete Isidor Kaufmann im Jüdischen Museum in Wien eine „Schabbattstube“ ein. Bereits 1870 wurden im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg Wohnräume ausgestellt, 1902 wurde dort die erste als historisches Ensemble verstandene Bauernstube gezeigt. Ein ritueller Raum bzw. ein profaner Raum wird aufgrund der Musealisierung zu einem Kunstwerk, das der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Trotz Umsiedlungen des Jüdischen Museums ist die Konzeption der „Schabbattstube“ bis 1938 ähnlich geblieben. Kaufmann hat die Stube aus eigenen Mitteln eingerichtet. Heute ist dieser Raum aufgrund von Fotografien, einer Postkarte, eines Museumsführers und einer Inventarliste, die 1938 für die Übergabe an die Gestapo von Kurator Jakob Bronner erstellt wurde, überliefert. Weiters sind noch einige der ursprünglich 122 Objekte, wie ein Kidduschbecher, eine Kanne, eine Menora, zwei Wandleuchter oder ein Bsamimturm, erhalten, die sich im heutigen Jüdischen Museum befinden. Dieser Raum hatte eine Vorbildfunktion, jüdische Geschichte und Kultur in Museen und Ausstellungen zu zeigen. Einerseits entstanden neue Räume, wie jener von Abraham Strauß im Heimatmuseum Uffenheim (Franken), andererseits wurde die „Schabbattstube“ selbst an anderen Orten ausgestellt, z. B. im Rahmen der „Internationalen Hygiene-Ausstellung“ 1911 in Dresden.
In den Gemälden von Kaufmann tauchen immer wieder Elemente aus dieser „Guten Stube“ auf, wobei sich einige Objekte schon lange vor der dreidimensionalen Umsetzung in seinem Besitz befanden, beispielsweise in „Alter schützt vor Torheit nicht“: der Tisch mit der Rosette, ein Stuhl und die Kommode mit der Standuhr sowie den Büchern. In dem Bild „Feierabend“ hat Kaufmann den Raum leicht verändert malerisch umgesetzt und mit durch eine auf einem Sessel sitzende Frau in ostjüdischer Kleidung ergänzt.
Die „Schabbattstube“ kann genauso als künstlerisches Werk Kaufmanns gesehen werden wie seine Gemälde. Es handelt sich dabei, im Gegensatz zu den zweidimensionalen Bildnissen, um eine dreidimensionale Darstellung aus dem jüdischen Leben, um eine Dokumentation jüdischer Rituale, die damals im Begriff waren zu verschwinden. Er wirkte mit seinem Werk somit dem Verschwinden des Judentums innerhalb der Assimilierungstendenzen entgegen.
Petra M. Springer
Während der letzten zwanzig Jahre war die Affäre Dreyfus zweifellos das Hauptarbeitspensum des vielseitigen Autors, Dramatikers und Musikers George Whyte. Seine totale Identifikation mit dem Thema wird durch die Hervorbringung und Fertigstellung der Dreyfus-Trilogie erkennbar, die das satirische Musical „Rage and Outrage“ beinhaltet, ferner das von dem russisch-jüdischen in Israel ansässigen Dissidenten Valery Panov choreographierte Tanz-Drama Dreyfus ‚J’Accuse’ und die explosive Oper „The Dreyfus Affair“, die nach ihrer Weltpremiere an der Berliner Staatsoper auch in Basel und New York aufgeführt wurde. Die Trilogie wurde dann im Rahmen von Fernsehprogrammen in verschiedenen Ländern eingehend besprochen.
Das im Herbst erschienene Buch bildet den Höhepunkt von Whytes zwanzigjähriger intensiver Arbeit an dem Dreyfus-Thema, damit auch gleichzeitig den immer wieder aktuellen Antisemitismus bekämpfend. Whytes nachdrückliche Stellungnahme gegen jede Art von Rassismus ist zweifellos auf seine ungarisch-jüdische Herkunft zurückzuführen, und auf den Umstand, dass die Mehrzahl seiner Angehörigen im Holocaust umkam.
Dieses monumentale, genau recherchierte, historisch-biographische Werk hat den Effekt eines spannenden Kriminalromans, den man, wenn einmal begonnen, nicht mehr weglegen kann.
Mit seinem fesselnden chronologischen Bericht zeigt der Autor, dass sich die Beschreibungen wirklicher Ereignisse manchmal von größerer packender Intensität erweisen können als fiktive Bestseller. Whytes individueller Stil konzentriert sich in erster Linie auf detaillierte Berichterstattung und überlässt es dem Leser, sich seine eigene Meinung zu bilden. Indem er die Affäre als integrierten Teil europäischer Geschichte präsentiert, gelingt es dem Autor, den Mechanismus des sowohl nationalen als auch internationalen Antisemitismus aufzudecken und gleichzeitig auf die Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts hinauszuweisen, die dadurch entstanden, dass der Antisemitismus nicht rechtzeitig im Keim erstickt wurde.
Unter den zahlreichen Verschwörern des Anti-Dreyfus-Komplottes befand sich ein Zeitgenosse von Dreyfus, ein gewisser Edouard Drumond, der allgemein als der französische Papst des Antisemitismus bekannt war. Als Verleger extrem bösartiger antisemitischer Zeitschriften, als Anstifter brutaler Anti-Dreyfusard-Aktionen und als Führer einer nationalen antisemitischen Organisation kann er zweifellos als der Vorläufer des notorischen Naziführers Julius Streicher bezeichnet werden.
Die Degradierung von Alfred Dreyfus
Andere Episoden behandeln den berüchtigten und teuflisch schlauen Verräter Major Esterhazy und den widerlichen Paty du Clam, dessen kriminelle Konspiration mit dem französischen Generalstab einen bedeutenden Beitrag zur ungerechtfertigten Verurteilung des Generalstäblers Hauptmann Dreyfus darstellt. Der Sohn von Paty du Clam folgt in seines Vaters Fußstapfen, indem er unter Hitler in der antisemitischen Administration der Petain-Regierung dient.
Nach dem ersten Hochverratsprozess und der Verurteilung und Degradierung von Dreyfus und seiner Deportation auf die Teufelsinsel erheben sich einige furchtlose Franzosen, um ihn zu verteidigen. Unter diesen befinden sich Emile Zola, dessen „J’Accuse“ längst als der weltberühmte Appell für Menschenrechte anerkannt ist, und Oberst Picquart, der bereit ist, seine Karriere zu opfern, um Gerechtigkeit für Dreyfus zu erwirken.
Alfred Dreyfus selbst erscheint als Mann von totaler Integrität und ebenso großem Patriotismus, mit ganz besonderer Loyalität zur Armee. Kurzum, ein völlig assimilierter französischer Jude. Seiner Familie zuliebe bewältigt er körperliche und geistige Folterqualen auf der Teufelsinsel. Er hat auch wohl die nötige Intelligenz und den Stolz, um sich zu verteidigen, doch ihm fehlt es an Weitsicht und er zeigt erschreckende Einfalt gegenüber Selbsterhaltungsproblemen im Allgemeinen und gegenüber der Gefahr des existierenden Antisemitismus im Besonderen.
Abgesehen von dem Allgemeininteresse ist dieses beachtliche historische Werk dazu geeignet, als maßgebendes Nachschlagebuch für Research-Studenten der Affäre Dreyfus und der Entwicklung des europäischen Antisemitismus zu gelten und entsprechend verwendet zu werden.
In seinen Erinnerungen, „Die Welt von Gestern“, beschreibt Stefan Zweig den dramatischen Moment, als Theodor Herzl in seiner Eigenschaft als Pariser Korrespondent der Wiener Neuen Freien Presse der öffentlichen Degradierung Alfred Dreyfus’ beiwohnte: „Er hatte gesehen, wie man dem bleichen Mann die Epauletten abriß, während er laut ausrief: „Ich bin unschuldig“. Und er hatte bis ins innerste Herz gewußt in dieser Sekunde, daß Dreyfus unschuldig war und daß er diesen grauenhaften Verdacht des Verrats einzig auf sich geladen hatte dadurch, daß er Jude war.
So veröffentlichte er seine Broschüre Der Judenstaat, in der er proklamierte, alle assimilatorische Angleichung, alle Hoffnung auf totale Toleranz sei für das jüdische Volk unmöglich. Es müsse eine neue, eine eigene Heimat gründen in seiner alten Heimat Palästina.“
So ergab es sich paradoxerweise, dass durch die zufällige Wechselwirkung zweier assimilierter Juden die Idee des modernen Zionismus konzipiert wurde.
Frederick Wolfgang Rosner
The Dreyfus Affair: A Chronological History; By George R. Whyte, Publisher Palgrave MacMillan, 2005. € 142,21.
Letzte Änderung: 03.01.2012
Webmeisterin+Redaktion: Mag. Ditta Rudle
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