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Friedensreich Hundertwasser:
Judenhaus in Österreich.
Eine Minute vor Mitternacht sind Israelis und Palästinenser zumindest kurzfristig zu Sinnen gekommen. Die israelische Armee bereitete sich bereits auf eine Eroberung großer Teile des Gazastreifens vor, die Palästinenser waren auf noch mehr Krieg und Leid gefasst, da einigten Premier Ehud Olmert und Palästinenserpräsident Machmud Abbas sich in Windeseile eines Abends auf einen Waffenstillstand im Gazastreifen. Im israelischen Kabinett war selbst von Seiten des ultrarechten Koalitionspartners Avigdor Liebermann kein Widerspruch vernehmbar. Abbas gelang es erstmals, gemeinsam mit der Hamas alle zentralen palästinensischen Fraktionen im Abkommen mit einzubinden. Noch in der Nacht zog Olmert alle Truppen aus dem Gazastreifen ab, nach wenigen Stunden hörte der anhaltende Raketenbeschuss israelischer Städte und Dörfer auf. Beide Seiten betonten, sie wollten die Bedingungen der Abmachung einhalten. Doch, obschon die Zivilbevölkerung angesichts der plötzlichen Ruhe hörbar aufatmet, ist niemand sicher, ob es sich um die Ruhe vor dem Sturm oder einen Neuanfang bedeutungsvoller Friedensbemühungen handelt.
Es gibt Anlass zu vorsichtigem Optimismus. Olmert, der seit der Entführung des israelischen Soldaten Gilad Schalit im Sommer mit martialischen Reden auftritt, machte einen sofortigen Kurswechsel und verkündete, dass man sich an einer „historischen Kreuzung“ befinde. Er machte Abbas gegenüber weitreichende Versprechen. Er sei zu Friedensverhandlungen bereit, deren Ziel die Errichtung eines unabhängigen, lebensfähigen Palästinenserstaates sei. Erstmals sprach Olmert dabei auch von einem zusammenhängenden Gebiet in der Westbank. „David Ben Gurion wusste bereits, dass Israel im Gegenzug für Frieden fast alle Gebiete, die im Sechs-Tage-Krieg 1967 erobert wurden, aufgeben muss“, sagte Olmert anlässlich des Todestages des legendären ersten Premierministers Israels. Auch heute sei Israel dazu bereit, große Gebiete und zahlreiche Siedlungen für Frieden zu räumen. Bedingung dafür sei, dass die Palästinenser dem Terror den Rücken kehren.
Die palästinensische Seite ließ ebenfalls neue Töne verlauten. Mit In-Kraft-Treten des Waffenstillstands bezogen 13.000 Mann des Sicherheitsdienstes Stellung im Norden Gazas, um eine Einhaltung der Waffenruhe zu gewährleisten. Der Regierungssprecher der Hamas, Ghazi Hamad, verurteilte jeden, der „wider des geeinten, nationalen Interesses“ die Waffenruhe verletze. Sprecher des islamischen Dschihad, eine Gruppe, die die Waffenruhe nur bedingt akzeptierte, wurden in arabischen Fernsehstationen Zielscheibe harter Kritik. Die meisten Terrororganisationen forderten, die Waffenruhe auch auf das Westjordanland auszudehnen.
Zwei wichtige Prüfsteine entscheiden über die Zukunft des wackligen Waffenstillstands. Ein zentraler Punkt ist das Versprechen des Chefunterhändlers der Palästinenser, Saeb Erekat, man wolle künftig den Waffenschmuggel durch Schmugglertunnel an der Grenze zwischen dem Gazastreifen und Ägypten, der so genannten Philadelphi Route, unterbinden. Seit Monaten warnt der Geheimdienst davor, dass palästinensische Terrororganisationen sich mittels dieser Tunnel hochrüsten. Tonnen von Sprengstoff, zehntausende Gewehre und Millionen Kugel Munition seien bereits nach Gaza gelangt. Besonders besorgt ist Israel über die Versuche der Hamas, die Fähigkeiten ihrer Kämpfer mit modernen Panzerfäusten und Luftabwehrraketen auf das Niveau der Hisbollah zu bringen. Der Gazastreifen verwandle sich in einen zweiten Südlibanon, warnen so die Militärs, die lieber heute eine schwache Hamas angreifen, als morgen einer zweiten Hisbollah gegenüberstehen zu müssen. Experten warnen deswegen davor, sich einer trügerischen Ruhe hinzugeben. Während es der Armee in der letzten Runde zwar nicht gelang, die Hamas vernichtend zu schlagen, hat sie dennoch bewiesen, dass sie vorerst noch im Gazastreifen unbehindert agieren kann. Sollte der Hamas jetzt jedoch ermöglicht werden, sich monatelang von den Iranern ausbilden und hochrüsten zu lassen, würde der nächste Schlagabtausch Israel schwere Opfer abverlangen.
Ebenso wichtig wie die Einschränkung palästinensischer Rüstungsbemühungen ist eine erfolgreiche Diplomatie. Die letzten Monate haben den Palästinensern klar gemacht, welch schwerer Preis ihnen für eine Fortsetzung des Terrors abverlangt wird. Ein gutes Beispiel dafür ist die Stadt Bait Hanun im Norden Gazas, aus der die meisten Kassamraketen auf Israel abgefeuert wurden, und die von israelischen Vergeltungsaktionen schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde. Dort forderten die Not leidenden Bewohner in einem historischen Novum die Terrororganisationen in Zeitungsannoncen auf Titelseiten auf, den Beschuss Israels zu „überdenken“. Die palästinensische Wirtschaft ist 2006 um 10 Prozent geschrumpft, der Zivilgesellschaft droht der totale Zusammenbruch. Nun ist es an der Zeit, der Bevölkerung schnell und konsequent zu zeigen, dass der Abfall vom Weg des bewaffneten Widerstands sich lohnt. Olmert scheint dies zu verstehen und stellte die Freilassung einer großen Anzahl palästinensischer Häftlinge in Aussicht. Weitere Gesten gleicher Art könnten Abbas angeschlagenes Ansehen in Gaza und der Westbank stärken und das Waffenarsenal der Hamas irrelevant machen. Die Islamisten sind sich der öffentlichen Stimmung wohl bewusst, und die will im Augenblick Ruhe.
Trotz positiver Anzeichen ist es jedoch zu früh, um schon von einer Wende zu sprechen. Der Gazastreifen ist nichts anderes als eine Ansammlung miteinander verfeindeter, bewaffneter Gruppen, von denen keine die absolute Macht besitzt. Selbst falls die Hamas es mit der Waffenruhe ernst meint, besteht stets die Gefahr, dass eine Splittergruppe sich entschließt, den Waffenstillstand zu beenden. Israel kann selbst sporadischen Beschuss nicht lange hinnehmen. Jede Reaktion könnte ein Ende der Waffenruhe bedeuten. Kurz vor dem Sturz in den Abgrund hat der Nahe Osten aufgrund der Kriegsmüdigkeit beider Seiten eine letzte Chance bekommen. Es bleibt zu hoffen, dass Pragmatiker wissen werden, wie man sie nutzt.
rgendwie sieht es nach einer Alibiaktion aus: Ob die Verhandlungen zwischen der Türkei und der EU tatsächlich nur am Zypernproblem (zumindestvorläufig) gescheitert sind, darf bezweifelt werden. Immerhin gibt es ja genügend andere Probleme: Die türkische Haltung zu ihrer eigenen Geschichte – Stichwort: Massaker an den Albanern – die stets latente Kurdenproblematik.
Doch – wer will diesen Beitritt überhaupt? In Europa sind die Meinungen geteilt. Auf der einen Seite: Die Türkei als antikes „europäisches“ Kernland, als Trägerin europäisch/griechischer Kultur. Die Türkei als Arbeitsmarkt mit einem unerschöpflichen Reservoir an Billigarbeitskräften. Schließlich als möglicher Exportmarkt. Auf der anderen Seite: alte „christliche“ Ängste vor der Gefahr durch den Islam. Die Angst vor Überfremdung, einer Völkerwanderung aus dem geografisch hauptsächlich asiatischen Land, der Weigerung der Immigranten, sich kulturell anzupassen und „westliche“ Werte wie Demokratie, Gleichberechtigung und Meinungsfreiheit anzuerkennen.
Und die Türken selbst? Seltsam, dass westliche Kommentatoren so wenig auf eine augenscheinliche Diskrepanz hinweisen: Nämlich dass es ausgerechnet eine als „islamistisch“ eingestufte Regierung ist, die so emsig den EU-Beitritt betreibt. Welches paradoxe Interesse kann eine Regierung am Anschluss an eine Gemeinschaft haben, in der Pluralität und Religionsfreiheit (die es in der Türkei nur auf dem Papier gibt) zu den Grundwerten zählen?
Die Antwort liegt in der Geschichte.
Im Wesentlichen ist die Existenz der heutigen Türkei das Werk eines charismatischen, visionären Mannes namens Mustafa Kemal. Als Offizier diente er dem Sultan, nach dem ersten Weltkrieg stieg er rasch zur Führerfigur auf. Nach der Entmachtung des Feudalherrschers und der Vertreibung der Familie Osman baute Mustafa Kemal ab 1924 den „kranken Mann am Bosporus“, wie die Türkei damals genannt wurde, zu einem modernen Staat um. Dem Freimaurer Kemal war dabei völlig klar, dass die Religion als konservative Kraft seine Bemühungen gefährden könnte. So verfügte er die strikte Trennung zwischen Staat und Islam. Dies war nur durch einen Kraftakt möglich, der bis in Details einen säkularen Staat entstehen lassen sollte. Die religiösen Gerichtshöfe wurden geschlossen, Religionsschulen für Geistliche und Richter aufgelöst, Klöster säkularisiert. Sogar den Fez, die traditionelle türkische Kopfbedeckung, verbot die neue Regierung. Im Umgang mit politischen Gegnern war Mustafa Kemal alles andere als zimperlich. Doch das Experiment gelang: Die Türkei wurde zum respektierten Mitglied der Völkerfamilie, was Mustafa Kemal (der bereits als mutiger Offizier viele Bewunderer hatte) in seine Heimat den Beinamen „Atatürk“ – Vater der Türken – eintrug.
Über das Erbe des Nationalhelden wacht seither die Armee, aus der Mustafa Kemal hervorging. Sie war bisher die Hüterin einer säkularen Türkei. Regierungen, die nach Meinung der Generäle das Erbe Atatürks gefährdeten – sei es durch Korruption, Unfähigkeit oder zu große Nähe zu missliebigen alten Ideologien – wurden abgesetzt und eine temporäre Militärdiktatur eingerichtet, die bisher aber immer noch den Weg in die demokratische Normalität vorbereitete. Wie gesagt: Bisher.
In Europa kaum wahrgenommen wurde die Diskussion über die Zulassung von Koranschule-Absolventen zum Universitätsstudium. Nicht zuletzt am Widerstand der Armee scheiterte dieser Versuch, Fundamentalismus an die Universitäten zu spülen.
Was die derzeitige religionsfreundliche Regierung in Ankara sehr gut weiß: Die EU-Administration in Brüssel könnte so einen Militärputsch nicht dulden Sie würde alles unternehmen, um die im Hintergrund immer noch bestehende Macht der Militärs einzudämmen, eine aus europäischer Sicht völlig selbstverständliche Haltung. Gerade durch diese Haltung aber würden die demokratiefeindlichen Kräfte in der Türkei gestärkt. David Landmann
In München leben heute über 9.000 Juden. Damit hat sich die Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern durch die Zuwanderung aus den GUS-Staaten binnen sechzehn Jahren mehr als verdoppelt, ist zur zweitgrößten Kehilla in Deutschland – nach Berlin und nunmehr von Frankfurt a. M. – geworden. München hat zwar eine rund achthundertjährige Beziehung zu Juden (und das schließt eine beinahe dreihundertjährige Vertreibung zwischen 1442 und ca. 1750 mit ein). Dass ihre jüdische Gemeinschaft in diesen Tagen in aller Munde ist, hat jedoch einen ganz speziellen Grund.
Am 9. November 2006 wurde am Jakobsplatz, einem Platz in der Altstadt, das heißt im Herzen der Stadt, ein Jüdisches Zentrum eröffnet. Glanzvoller Höhepunkt war die Einweihung der Ohel Jakob-Synagoge in Anwesenheit des deutschen Bundespräsidenten Horst Köhler, des Präsidenten und des Ratsvorsitzenden des Jüdischen Weltkongresses Edgar Bronfman und Israel Singer, des israelischen Oberrabbiners Israel Lau, des bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber und des Münchner Oberbürgermeisters Christian Ude.
Den Traum, ihre Gemeindemitglieder wieder an einen würdigen Ort im öffentlichen Raum zu bringen, hatte Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde, seit ihrem Amtsantritt im Jahre 1985. Doch es bedurfte vierzehn Jahre Geduld, Verhandlungsgeschick, eines Umbruchs in der politischen Großwetterlage und eines aufgeschlossenen Stadtoberhaupts wie Christian Ude, um ihren Traum wahr werden zu lassen. Denn 1999 beschloss der Stadtrat der Israelitischen Kultusgemeinde, ein seit Ende des zweiten Weltkriegs brach liegendes Gelände zur Bebauung zu überlassen.
Charlotte Knobloch, Jahrgang 1932 und seit Sommer 2006 in der Nachfolge Paul Spiegels auch Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, kann sich noch an die prächtige Hauptsynagoge, die seinerzeit drittgrößte Deutschlands, und das Gemeindezentrum erinnern. Beides war im Sommer 1938 – auf persönliche Intervention Adolf Hitlers – verloren gegangen. Hier ein anderes Zeichen zu setzen als sein Amtsvorgänger Karl Fiehler 68 Jahre zuvor, war Christian Ude ein Herzensanliegen. „Mit dem heutigen Tag verändert sich unsere Stadt,“ stellte er mit Genugtuung fest. Künftig wird der 9. November in München in der Tat nicht mehr nur mit der Erinnerung an die „Kristallnacht“, die am 9. November 1938 von Joseph Goebbels ausgerechnet im Alten Rathaussaal der Stadt proklamiert worden war, verbunden sein. Insofern rückt in den Mittelpunkt statt der Zerstörung von rund 1.400 Synagogen im Deutschen Reich nun die Einweihung eines der innovativsten und formschönsten Synagogenneubauten in Europa.
Kaum war der Bauzaun entfernt, fanden sich täglich Passanten zur Begutachtung rund um die drei Baukörper ein. Die Medien berichteten ausführlich und wohlwollend, wie man dies sonst nur von national bedeutenden Events wie der Fußballweltmeisterschaft oder dem Papst-Besuch her kennt.
Als am Mittag des 9. November die Thora-Rollen der bisherigen Hauptsynagoge aus der nur rund 350 Meter entfernten bisherigen Hauptsynagoge in der Reichenbachstraße in die neue überführt wurden, nahmen nicht nur Gemeindemitglieder, sondern viele Münchner Bürger Anteil. Das deutsche Fernsehen übertrug den Festakt zwischen 15 und 17 Uhr live im Fernsehen. Am anschließenden Empfang im jüdischen Gemeindezentrum nahmen 1.200 Gäste teil. Dabei war es den Gastgebern, dem fünfzehnköpfigen Vorstand, an der Spitze vertreten durch Charlotte Knobloch, Yehoshua Chmiel und Marian Offman nicht nur wichtig, Repräsentanten des öffentlichen Lebens aus Politik, Kultur, Wirtschaft und Religionen dabei zu haben, sondern auch Ex- Münchner, die vertrieben worden waren. Während Rolf Penzias, der vor der Flucht nach England noch seine Bar Mitzwah in München feierte, seinen Blick durch den weitläufigen neuen Gemeindesaal schweifen lässt, stellt er – mit noch immer münchnerisch eingefärbtem Zungenschlag fest: „Das hätte ich mir niemals träumen lassen!“ Alfred Koppel und Ruth Meros, heute USA und Israel, ging es kaum anders.
Charlotte Knobloch hatte bei der Grundsteinlegung am 9. November 2003 schon davon gesprochen, sich wieder ganz zuhause angekommen zu fühlen. Dieses Gefühl bekräftigte sie beim Festakt erneut, indem sie von ihrer Heimatstadt München und ihrem Heimatland Deutschland sprach: Wer ein Haus errichtet, schenkt künftigen Generationen eine Heimstatt. So auch wir. Wir haben gebaut,wir bleiben.“
Diese Aussage kam aus tiefster Überzeugung und doch birgt sie ein fragiles Moment, wenn die Erinnerung ins Spiel kommt. An das Verankertsein hatten Juden in München in der Vergangenheit immer wieder geglaubt. Ganz sicher schon im Jahr 1887, als die liberal orientierte Hauptsynagoge im romanischen Stil in Anwesenheit von Mitgliedern des Königshauses eingeweiht worden war, kaum weniger im Jahr 1892 bei der Einweihung der orthodoxen Ohel-Jakob-Synagoge und sogar noch 1931 bei der Einweihung der Synagoge an der Reichenbachstraße, die dank ihres Hinterhofdaseins in der so genannten Reichskristallnacht nicht vollständig zerstört worden war. Und wer hätte vergessen, dass eine rechtsradikale Terrorzelle gerade noch rechtzeitig ausgehoben werden konnte, bevor sie am 9. November vor drei Jahren einen Anschlag auf die Grundsteinlegung hätte verüben können. Was Charlotte Knoblochs Optimismus jedoch Nachdruck verleiht, ist die Resonanz der Öffentlichkeit.
Drei Tage nach dem Festakt sollte die Münchner Bürgerschaft, die jüdische wie die nichtjüdische, Gelegenheit zur Besichtigung bekommen. An diesem „Tag der Begegnung“ kamen an die 15.000 Besucher. Stundenlang harrten viele trotz Regen und Kälte geduldig im Freien aus, um einen Blick in die Synagoge zu erhaschen. Manche berührten andächtig die Sockelfassade aus Muschelkalk, weil sie an die Struktur der Klagemauer erinnert. Manche kommen zu verschiedenen Tageszeiten wieder, um das Spiel der Wolken und des Lichts in der filigranen Glas und Netz-Anmutung des Dachkubus, der an den mobilen Charakter des Stiftszelt erinnern soll, zu bewundern.
Besucher der neuen Synagoge Ohel Jakob („Zelt Jakobs) werden gerne – statt durch das Hauptportal – durch das Gemeindezentrum über einen unterirdischen „Gang der Erinnerung“ geführt. Dabei passiert man eine 32 Meter lange Installation des neununddreißigjährigen Künstlers Georg Soanca-Pollak. Sie birgt die Namen von rund viereinhalbtausend jüdischen Bürgern, die in der NS-Zeit aus München deportiert und ermordet wurden. An der gegenüberliegenden Wand führt ein Spruchband über Begriffe wie „Trauern“ und „Erinnern“ zum zentralen Gedenken an sechs Millionen jüdische Opfer und weiter zu „Lernen“, „Leben“ und „Versöhnen“. Von da aus steigt man hinauf in den Synagogenraum, passiert den Grundstein vom 9. November 2003 und die Grundsteinbüchse von 1887 aus der bereits im Sommer 1938 dem Erdboden gleich gemachten Hauptsynagoge. Und dann liest man im Vorraum den Spruch aus dem 4. Buch Mose, Kapitel 24, 5: Ma tovu ohalecha Jaakov mischkenotecha Israel – Wie schön sind deine Zelte, Jakob, und deine Heimstätten, Israel. Und fühlt sich zuhause. Ellen Presser
Nicole Kidman, New York, 2003
Die 1949 in Westbury, Connecticut geborene Fotografin studierte zunächst Malerei und Fotografie am San Francisco Art Institute. Seit Anfang der 1970er Jahre fotografiert sie die amerikanische Kulturszene, anfangs für das Magazin „Rolling Stone”, später auch für „Vanity Fair und „Vogue”. Auch in der Werbebranche machte sich Leibovitz unter anderem mit einer Porträtkampagne für American Express einen Namen. Die oftmals ausgezeichnete Fotopreisträgerin wurde 2003 zum Commandeur de l’Ordre des Arts et des Lettres der Republik Frankreich ernannt. Sie lebt mit ihren drei Kindern Sarah, Susan und Samuelle in New York.
Der neue Fotoband, "A Photographer's Life"ist zu gleichen Teilen Familienalbum, Werkschau und persönliches Tagebuch der letzten fünfzehn Jahre und enthält Fotos aus ihrem Privatleben und professionelle Arbeiten, insgesamt 300 teils farbige, teils schwarzweiße Aufnahmen.
In diesen 15 Jahren ist einiges zusammengekommen: Privates und Öffentliches, Persönliches und scheinbar Objektives, Fotos für Werbekampagnen und Zeitschriften , auch Familienfotos. Die Fotografien zeigen Stars, PolitikerInnen, Leibovitz‘ Familie, Städte, Landschaften und Hotelzimmer, leer und bevölkert. Vor ihrer Linse posierten Nelson Mandela, Bill Clinton, Brad Pitt, Patti Smith, Arnold Schwarzenegger, Martina Navratilova, Bill Gates, John Lennon und Yoko Ono und viele andere. Ihre Porträtaufnahmen von Stars aus der Welt der Musik, des Films, des Theaters, der Kunst, Literatur und Politik bestechen durch originelle und lebhafte Inszenierungen. Immer wieder bringt sie BetrachterInnen durch ihren Humor, Witz und ihre Ironie zum Schmunzeln. Hin und wieder macht sich die Fotografin selbst zum Objekt vor der Kamera, lässt andere fotografieren, etwa ihre Freundin Susan Sontag. Die Schrifstellerin und Essayistin Sontag selbst, Leibovitz’ 2004 verstorbene Partnerin, ist die am häufigsten abgebildetete Person – eine Form der Trauerarbeit. Sehr deutlich dokumentiert Leibovitz einerseits ihre vielen Reisen, die Begegnungen mit Karla Eoff oder Kazue Kobata, andererseits Sontags Leben mit dem Krebs, die Krankenhausaufenthalte, das Liegen in der Badewanne mit amputierter Brust bis zuletzt zur toten Gefährtin auf der Bahre. Als Negativstreifen sind die Totenbilder aneinander gefügt.
Dass die differenten Genres nicht von einander abgegrenzt, sondern frei aneinander gereiht wurden, macht die Zusammenstellung interessant. Familienfotos mit ihren Eltern und Geschwistern mit deren Kindern durchziehen den gesamten Band: die Eltern beim Tanzen, im Schlafzimmer, Geburtstagsfeiern, der Vater mit Kipa bei der Erneuerung des Ehegelübdes bis hin zum Tod des Vaters. Auf Fotos von Muskelmann Sylvester Stallone und der nackten Cindy Crawford mit Schlange folgen einige aus Ägypten und danach jene aus Sarajevo, wo beispielsweise ein verwundeter Mann auf einer Bahre liegt. Glamour versus schockierende Realität: Dies zeichnet auch ihre Arbeiten aus, denn Leibovitz ist nicht nur eine Fotografin der Schönen und Reichen, sie hält auch Themen fest, die wir nicht so gerne sehen wollen. Erschütternd ist auch ein Bild, in dem ein Fahrrad auf dem Boden liegt und eine Blutspur auf einen Unfall oder Mord verweist.
Ursprünglich sollte das Buch, das die Jahre des Zusammenlebens mit Susan Sonntag fast gänzlich umfasst, nur private Bilder beinhalten. Hierzu meinte die Fotografin: Nachdem ich mir den Gedanken eine Weile durch den Kopf hatte gehen lassen, kam ich zu dem Schluss, dass das persönliche Werk allein die letzten fünfzehn Jahre nicht adäquat wiedergibt. Ich führe keine zwei getrennte Leben. Ich habe ein einziges Leben, und zu dem gehören die persönlichen Bilder ebenso wie die Auftragsarbeiten.
In einem kurzen, sehr persönlich gehaltenen Text am Buchanfang geht Leibovitz auf die Entstehung des Bildbandes ein. Sie fühlte sich bei der Sichtung der Bilder wie bei einer archäologischen Ausgrabung. Anlässlich des Todes ihrer Gefährtin Sontag suchte sie nach Bildern für ein kleines Buch, das beim Gedenkgottesdienst verteilt werden sollte. Dabei fand sie auch viele Bilder ihrer Familie. Petra M. Springer
Annie Leibovitz: A Photographer's Live, Mit einem Text der Photographin. Schirmer/Mosel, 2006. 480 S., 343 Tafeln in Farbe und Duotone. Euro 80,20.
Von allen Titeln und Ehrungen, die Prof. Jacob Allerhand in seiner langjährigen akademischen Karriere erworben hat, war ihm wahrscheinlich der Name Jascha am liebsten. In einem von ihm selbst verfassten Curriculum Vitae in Englisch stellt er sich tatsächlich als Jascha Allerhand, Professor für Jüdische Studien an der Universität Wien, vor. Als Jascha kannten ihn auch seine zahlreichen Freunde in vielen Ländern, denn dieser Kosename vermittelte sofort eine bestimmte menschliche Nähe, die bald in eine Freundschaft münden konnte.
Es ist selten, dass jemand sein Credo und das Wesentliche seiner Überzeugung, sowie seinen Leidensweg in der Flucht vom „Nazi Inferno“ selbst zu seiner Lebenszeit so beschreiben konnte, wie Jascha es tat. Einige Zitate aus diesen Beschreibungen werden uns helfen, ihn auch nach seinem frühzeitigen Tod besser verstehen und noch mehr schätzen zu können.
Ich bin 1930 in der Ukraine geboren, wo ich eine vielsprachige Ausbildung und eine religiös-jüdische Erziehung, der osteuropäischen Tradition gemäß, genoss. Der Krieg, das von den Nazis propagierte Inferno und der praktizierte Holocaust, trieben mich als Kind aus dem Getto über Südsibirien nach Mittelasien. Die aufeinanderfolgenden Änderungen des Lebensstils, Anschauungen und Sprachen, begleitet von körperlichen Entbehrungen, sowie seelischem Leid, haben meiner Gesundheit zwar geschadet, gleichzeitig aber meinen Charakter gestärkt. Das als Kind Erlernte, die Tradition des Cheders und das wegweisende Hebräisch sowie die Talmudschule, blieben trotz weiterer
und erweiterter Studien das kontinuierliche Element in meiner akademischen Laufbahn.
Nach dem Krieg und dem Tod seiner Eltern half ihm sein Onkel in Berlin ein neues Leben zu beginnen: Der Sprung von der slawisch-hebräischen Kultur in die deutsch-französische war nicht leicht… Ich habe zweimal maturiert, einmal Hebräisch – und studierte Orientalistik, entschied mich aber letzten Endes für die Judaistik, in der ich mich auch in Wien habilitierte. Das Überleben des Holocausts war für Jascha kein Privileg, sondern eine Herausforderung, etwas für den Judaismus zu tun. Jascha war sehr stolz darauf, dass in Anerkennung seiner andauernden Förderung eines christlich-jüdischen-Dialogs Kardinal König ihm die hohe Auszeichnung des Vatikans „Commenda di San Silvestro Papa“ verliehen hatte.
Außer seinen weitgehenden und gründlichen Kenntnissen in allen Aspekten des Judaismus und der hebräischen Literatur,war Jascha auch ein Sprachengenie. Er beherrschte zehn Sprachen. Außer seinem fließenden Hebräisch, Deutsch, Englisch und Französisch, u. a. auch Türkisch und Usbekisch. Jaschas Stolz galt seiner langjährigen Tätigkeit als Präsident der Zwi-Perez-Chajes B’nai Brith Loge und der wissenschaftlichen Vorbereitung und leitender Mitwirkung von fünf Theodor-Herzl-Symposien.
Jaschas Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft waren Legende. Während des Libanonkriegs im letzten Sommer kam er aus eigener Initiative nach Israel und fuhr einige Tage mit seinem guten Bekannten Motti kreuz und quer durch den Norden des Landes, um vielen von Katjuscha-Bombardments betroffenen Familien mit persönlichen Geldspenden zu helfen.
Jascha fand seine letzte Ruhe im alten Friedhof von Haifa, nur einige Schritte vom Grab seines Onkels, dessen großzügige Hilfsbereitschaft Jaschas Leben entscheidend geprägt hat. Ari Rath
Anlässlich des 65. Geburtstages von Univ. Prof. Dr. Anton Pelinka und zum Abschied von der Universität Innsbruck lud diese zu einem Festakt ein, in dem der weltweit wirkende und weit über die Grenzen Österreichs anerkannte Politologe geehrt wurde.
Persönlichkeiten des Landes Tirols aus Politik und Wissenschaft würdigten die außergewöhnlichen Leistungen Anton Pelinkas. Vom Rektor, dem Dekan über den Leiter des Institutes für Politikwissenschaft bis zum Landeshauptmann und der Bürgermeisterin Innsbrucks gingen alle auf die hervorragenden Qualitäten Anton Pelinkas ein und bedauerten seinen Abschied und die Lücke, die er im Land und der Stadt Innsbruck zurücklasse. Nach über dreißigjährigem Engagement für die Universität, an der er leitende Funktionen ausübte wie Institutsvorstand und zwei Mal Dekan der Fakultät, folgt der renommierte Politologe dem Ruf der European University in Budapest, wo er sich neuen Herausforderungen stellt, die er sicherlich in bewährter Weise vortrefflich bewältigen wird. Als besonderes Abschiedsgeschenk überreichten ihm seine langjährigen Mitarbeiterinnen Elli Palli, Bettina Posch und Elisabeth Rieder ein Buch „Begegnungen mit Anton Pelinka“, in dem Freunde, Bekannte, KollegInnen StudentInnen und AbsolventInnen in unterschiedlichster Weise zu Worte kamen. Die reiche und vielseitige Palette verschiedener Persönlichkeiten aus allen Bereichen lässt den Facettenreichtum der faszinierenden Persönlichkeit Pelinkas erkennen. Von Androsch bis Zelman reicht das alphabethisch geordnete Verzeichnis der über 100 Beiträge, in dem persönliche, berufliche und fachliche Aspekte im Leben Anton Pelinkas beleuchtet werden.
Das anschließende Buffet spiegelte auch die Internationalität des kulinarischen Geschmackes Pelinkas wider. So standen Spezialitäten aus Tirol, den Südstaaten und aus Ungarn zur Auswahl. Für den musikalischen Genuss der zahlreich erschienen Freunde, Kollegen und Studenten sorgte die Uni Big Band. J. N.
Das Palais Epstein ist das letzte in der Substanz weitgehend unverändert erhaltene Ringstraßenpalais. Es steht damit für einen Gebäudetypus, der dazu bestimmt gewesen ist, einen gesellschaftlichen Typus zu repräsentieren: den Typus des „sozialen Aufsteigers“ der „Gründerzeit“, der, oftmals jüdischer Herkunft, in Industrie, Handel und Bankwesen zu wirtschaftlichem Erfolg gelangt ist und seinen damit verbundenen, vielfach in der Erhebung in den Adelsstand zum Ausdruck gekommenen Eintritt in die gesellschaftliche Führungsschicht der Monarchie durch die Errichtung eines repräsentativen Wohn- und Geschäftshauses am neuen Prachtboulevard Wiens sichtbar machen wollte.
Im Stil des strengen Historismus vom Architekten Theophil Hansen entworfen, erfüllte das Palais Epstein diese repräsentative Funktion nicht nur durch die Vornehmheit seines Außenbaus, sondern insbesondere auch durch die Pracht seiner künstlerischen Ausgestaltung.
In den 130 Jahren seines Bestandes hat das Palais Epstein mehr als ein Dutzend verschiedener Verwendungen erfahren: vom Wohn- und Geschäftshaus, zunächst der Familie Epstein, dann der englischen Gasgesellschaft, zum Amtsgebäude, erst des Verwaltungsgerichtshofes, dann des Stadtschulrates für Wien und unter dem NS-Regime der Bauabteilung der Reichsstatthalterei.
Nach der Ära der sowjetischen Stadtkommandantur und einem Intermezzo als Dependance der Akademie für Musik und darstellende Kunst diente das Palais Epstein neuerlich als Sitz des Stadtschulrates für Wien, bis es für parlamentarische Zwecke gewidmet wurde.
Ein Teil der Räumichkeiten ist auch für BesucherInnen zugänglich. Neben einem Veranstaltungsraum beherbergt das Palaisvor allem Büros. Zudem werden im Keller des Palais die Archive des Nationalfonds und des Entschädigungsfonds für Opfer des Nationalsozialismus Platz finden.
Das Palais Epstein als Spiegel von rund 135 Jahren österreichischer Geschichte – eine Ausstellung und Sonderschauen gewähren einen Einblick in die bewegte Vergangenheit eines der bedeutendesten Ringstraßengebäude.
Palais Epstein, Dr. Karl Renner-Ring 1,1017 Wien. Öffnungszeiten: Mo–Fr: 10 bis 17 Uhr; Sa: 10 bis 13 Uhr. Information:services@palaisepstein.at
Mit den "Epstein-Vorlesungen" wird jetzt das renovierte Ringstraßenpalais neuerlich ins Licht gerückt.
Mit einem Vortrag über „Das Palais Epstein – ein lebendiges Denkmal“ leitete Professor Leon Zelman, Direktor des Jewish Welcome Service Vienna, die neue Veranstaltungsreihe des Parlaments ein. Er war es, der in besonderem Maße dafür verantwortlich zeichnet, dass die historische Bedeutung des Palais ins öffentliche Bewusstsein gerufen worden ist.
Auch Nationalratspräsident Andreas Khol nahm in einer Videobotschaft Bezug. Leon Zelman, betonte er, habe ihm einen Zugang zum Palais Epstein eröffnet, „der einmalig ist“.
Leon Zelman selbst zeigte sich „bewegt und gerührt“ und dankte Nationalratspräsident Andreas Khol für die gute Zusammenarbeit. Als er, Zelman, nach dem Krieg das Palais Epstein zum ersten Mal gesehen habe, habe sich die Idee eines Hauses der Erinnerung in ihm festgesetzt. Der Weg sei schwierig gewesen, sagte er, seine Intention sei es nun, das Haus zu einem „lebendigen Denkmal“ zu machen, zu einem „offenen Platz der Begegnung“, wo die Erinnerung wach gehalten wird. Der Holocaust habe seinen Ausgang nicht in Auschwitz genommen, sondern im tagtäglichen Leben, auf den Straßen Wiens, noch lange vor dem Anschluss an Nazideutschland. Kritische Worte fand Zelman zu Aussagen, wonach die Entschädigungszahlungen ein politisches Kalkül gewesen seien.
Leon Zelman
Im Rahmen der Vortragsreihe „Epstein-Vorlesungen“, die von Leon Zelman gemeinsam mit Brigitte Hamann initiiert wurde, sollen die verschiedenen Aspekte, die mit dem Palais Epstein und seiner Geschichte in Verbindung stehen, sowohl aus persönlicher als auch aus wissenschaftlicher Sicht beleuchtet und dokumentiert werden. Zeitzeugen und Zeitzeuginnen werden eingeladen, ihre individuellen Erinnerungen und Erfahrungen einzubringen, WissenschafterInnen sind gefragt, das breite Spektrum der Geschichte des Hauses und des österreichischen Judentums aus dem Blickwinkel der Forschung zu ergänzen. Das Palais als unverfälschtes architektonisches Zeugnis für das jüdische Wien soll, auch im Sinne seines ehemaligen Besitzers Gustav Ritter von Epstein, ein Ort der Begegnung und der gemeinsamen Reflexion werden.
Als Gäste konnten die Zweite Präsidentin des Nationalrates, Barbara Prammer, die ehemalige Präsidentin des Bundesrates, Sissy Roth-Halvax, Abgeordnete Ulrike Lunacek, der ehemalige Bundeskanzler Franz Vranitzky sowie der israelische Botschafter in Wien, Dan Ashbel, begrüßt werden.
Die Reihe 100 Jahre jüdische Denker will neben den öffentlichen Debatten bezüglich Gedenkfeierlichkeiten, Erinnerungsgesten und einem angemessenen kollektiven Gedächtnis die jüdischen Denker in den Mittelpunkt rücken – an den Punkt, wo Geschichte und Biografie sich kreuzen, wo die historischen Ereignisse ihr Leben als Menschen und Juden radikal änderten, Ereignisse, die ihr Denken und Wirken geprägt haben und bis in unsere Zeit weiterwirken.
Rabbinerin Eveline Goodman-Thau
ist Professorin für jüdsche Religiongs-
und Geistesgeschichte.
Sie lehrt an der Universität Wien und
ist Direktorin der Hermann-Cohen-
Akademie für Religion, Wissenschaft
und Kunst in Buchen / Odw.
„Der endgültig entfesselte Prometheus, dem die Wissenschaft nie gekannte Kräfte und die Wirtschaft den rastlosen Antrieb gibt, ruft nach einer Ethik, die durch freiwillige Zügel seine Macht davor zurückhält, dem Menschen zum Unheil zu werden.“
Hans Jonas steht in der Tradition großer Denker, die sich in ihrer Zeit nicht nur bemüht haben, die philosophischen Grundfragen der Vergangenheit zu reflektieren, oder Vertreter eines bestimmten Zeitgeistes zu sein, sondern die sich bewusst waren, dass der Mensch immer in der Gefahr lebt, zwischen Nichts und Ewigkeit verloren zu gehen. Ein Philosoph im klassischen Sinn, der im Zeitalter der Metaphysikkritik und Wissenschaft hartnäckig an den alten Fragen nach Mensch, Welt und Gott festhielt und bemüht war, wider die Gleichgültigkeit der Welt den Menschen, aber mehr noch die Menschheit vor dem Abgrund zu retten, sich zu besinnen auf seine Verantwortung für das Ganze, dessen unabtrennbarer Teil der Mensch als Naturwesen, aber im Bewusstsein seiner Freiheit, ist. Was dies im Konkreten bedeutet, zeigt sich im Lebensweg und Œuvre dieses Menschen, dessen Name einerseits mit der Gnosis verbunden ist, aber andererseits mit dem Prinzip Verantwortung. Für Jonas gibt es keinen Gegensatz zwischen den Polen von Gnosis und Ethik: Das Wissen um Gott, das Wissen um den Menschen und das Schicksal der Welt begegnen sich in fast jedem Satz seiner Schriften.
Im nachplatonischen Zeitalter versucht Jonas die Seinsfrage nochmals zu stellen; dies bedeutet für ihn, historisch den Gründen der nihilistischen Erfahrung nachzufragen, um ontologisch das Wesen der menschlichen Freiheit im Verhältnis zur Lebenswelt, sogar zur ganzen Natur neu zu bestimmen. In der Entdeckung der inneren Transzendenz jener Freiheit findet Jonas die Anzeichen dafür, metaphysisch einen neuen Sinn von Transzendenz und Ewigkeit zu konstituieren.
Letzlich führen Jonas’ philosophische Untersuchungen ihn zu metaphysischen Vermutungen, die unmittelbar mit der Grundfrage des biblischen Monotheismus in Berührung stehen: die Sonderposition des Menschen in der Schöpfung als Zeugnis einerseits der „Ohnmacht Gottes“, andererseits aber das seiner Freiheit und Verantwortung bewusste Subjekt, das die Aufgabe einer kosmischen Pflicht gegenüber dem „Wagnis Gottes“ übernimmt.
Sein Denken ist ein Versuch, die Wesenskluft, die jüdischer Schöpfungsglaube, griechische Vernunftmetaphysik und – beide einbegreifend – christlicher Transzendentalismus [...] zwischen Mensch und Natur im abendländischen Denken aufgerissen hatten, zu überbrücken. Die Begründung dieses Versuches formuliert Jonas folgendermaßen: Die Suche nach dem Wesen des Menschen muss ihren Weg, die Begegnung des Menschen mit dem Sein, nehmen. In solchen Begegnungen kommt dieses Wesen nicht nur zum Vorschein, sondern überhaupt zustande, indem es sich jeweils darin entscheidet. Das Vermögen zur Begegnung selber aber ist das Grundwesen des Menschen: dies ist seine Freiheit, und ihr Ort die Geschichte, die ihrerseits nur durch jenes transhistorische Grundwesen des Subjektes möglich ist. Die Einbettung des Menschen in eine ontologische Wirklichkeit – sein Geschaffensein in Gottes Ebenbild, biblisch ausgedrückt, wobei, wie Jonas betont, der Nachdruck dort auf dem Unterscheidungsvermögen zwischen Gut und Böse lag, im Vergleich zur aristotelischen Formel „zóon lógon échon, homo“ – das Tier, das Sprache (beziehungsweise Vernunft) besitzt – ist die Grundlage des Wissens um die Wahrheit des Seins. Es ist nämlich die Freiheit des Menschen, wie die schöpferische Freiheit Gottes, die Geschichte erst ermöglicht. Jene Seinslehre schöpft aus dieser Verbindung zwischen Nichts und Ewigkeit; zwischen der noch nicht sichtbaren Welt und ihrer Urquelle. In den Bildern des Seins ist „Zwischen“ ein wichtiger Hilfsbegriff und wird zum Ort der Trennung, zugleich aber auch der Verbindung zwischen Transzendenz und Immanenz. Hans Jonas versteht sich in dieser Hinsicht wie Platon, der das Werden als ein Mittleres zwischen Nichtsein und Sein betrachtete, und er sieht es als seine Aufgabe, das Wesen der menschlichen Freiheit als Grundlage einer neuen Naturphilosophie, die die Natur des Menschen reflektiert, die im Zeitalter des endgültig entfesselten Prometheus dem menschlichen Sein aus eigenem Tun erwachsen ist und jetzt das Ganze bedroht, zu entwickeln.
Hans Jonas 1903–1993
Dem Prinzip der Hoffnung, das auf einer mehr und mehr globalisierten Fortschrittsdynamik basiert, die im Bunde mit der Technik die Utopie zum ausdrücklichen Ziel erhoben hat, setzt Jonas in einer eingehenden Kritik des utopischen Ideals das Prinzip einer Verantwortungsethik gegenüber: das Gebot einer Pflicht, geboren aus einer „Heuristik der Furcht“, die zugleich eine Ehrfurcht vor der menschlichen Würde wie der Würde der Natur bedeutet. Sein „Tractatus technologica-ethicus“ wehrt sich gegen den Übermut der Utopie, plädiert dagegen für die Demut und zugleich für den Mut zur Verantwortung, eine, wie er betont, „bescheidenere Aufgabe [...], welche Furcht und Ehrfurcht gebieten: nämlich dem Menschen in der verbleibenden Zweideutigkeit seiner Freiheit, die keine Änderung der Umstände je aufheben kann, die Unversehrtheit seiner Welt und seines Wesens gegen die Übergriffe seiner Macht zu bewahren.“
Gegenüber dem Übermaß des menschlichen Machtanspruchs stellt Jonas den Machtverzicht Gottes zugunsten kosmischer Autonomie und ihrer Chancen, die in der Verantwortung des Menschen seinen Ausdruck gewinnt, da wir wissen, dass mit uns und in uns, so Jonas, in diesem Teil des Alls und in diesem Augenblick unserer verhängnisvollen Macht, die Sache Gottes auf der Waage zittert. Es ist das Verdienst von Hans Jonas, dessen 100. Geburtstag in diesem Jahr ist, ein Ethos der Verantwortung entwickelt zu haben, welches als Ergänzung zum „Prinzip Hoffnung“ (Ernst Bloch) einerseits eine kausale Zurechnung begangener Taten voraussetzt, andererseits aber eine „Pflicht zur Zukunft“ postuliert, die durch die besondere Position, die der Mensch als biologisches und für seine Taten verantwortliches Wesen im Ganzen einnimmt, eine Brücke legt zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Die Fragestellungen von Jonas im Spannungsfeld von Ideal- und Realwissen gewinnen insbesondere in den angewandten Wissenschaften eine Brisanz im Zuge der historischen Erfahrungen des Nationalsozialismus und der zunehmenden Verknüpfung von Technologie, Wirtschaft und Politik in der Gegenwart. […]
Fortsetzung und Schluss des Artikels finden Sie in der Printausgabe der Illustrierten Neuen Welt Dezember 2006 / Jänner 2007
Mehr Information auf der Website des Hans -Jonas-Zentrums.
Letzte Änderung: 03.01.2012
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