Jakov Bararon: "Massada"
Jakov Bararon ist in Belgrad geboren
und lebt seit 1992 in Wien.
Bararon ist stark mit der jüdischen Tradition
verwurzelt, seine Werke sind gepräg tvon
romantischer Nostalgie und lebendiger Gegenwart
Ich weiß nicht, ob es passend und richtig war, im Rahmen der Friedensverhandlungen von den Palästinensern zu fordern, Israel als den jüdischen Nationalstaat anzuerkennen. Aber da die Frage nun einmal aufgeworfen worden ist, kann man die entschieden und ausdrücklich negative Reaktion der palästinensischen Führung, von Mahmoud Abbas und Saeb Erekat sowie der Arabischen Liga, nicht ignorieren.
Da die Wurzel des Konflikts in der arabischen Nichtbereitschaft liegt, das Selbstbestimmungsrecht des jüdischen Volkes und überhaupt die Existenz eines jüdischen Volkes zu akzeptieren, ist klar, dass hier ein nicht einfaches Problem vorliegt. Wenn die palästinensische Seite Fragen aufwirft, die das Wesen des jüdischen Selbstbestimmungsrechts berühren, darf man vielleicht auch der palästinensischen Seite einige Fragen stellen – so schwer und kompliziert sie auch sein mögen. Damit es keine Missverständnisse gibt: So wie die jüdische Selbstbestimmung Sache der Juden ist, ist die palästinensische Selbstbestimmung Sache der Palästinenser, und nicht der Juden. Aber Juden dürfen in diesem Zusammenhang doch einige Fragen stellen.
Die erste Frage geht an die Verhandlungsführer der Palästinenser. Ich hoffe, dass trotz aller Hindernisse am Ende ein unabhängiger palästinensischer Staat an der Seite des
Staates Israel entstehen wird. Aber da der Begriff “Palästina" im arabischen Bewusstsein das gesamte Gebiet zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan umfasst und nicht lediglich das Westjordanland und den Gaza-Streifen, ist den führenden Köpfen des zukünftigen palästinensischen Staates die Frage zu stellen, ob ihnen klar ist, dass das Territorium Israels nicht Teil von Palästina sein wird – und auch nicht als solches im palästinensischen Narrativ und in Schulbüchern dargestellt wird. So wie die meisten jüdischen Bürger Israels klar zwischen dem “Staat Israel" und dem “Land Israel" unterscheiden, muss auch – ihnen und uns – klar sein, dass Akko und Haifa und Yafo und Ramle und Be’er Sheva nicht Teil von Palästina sind. Dies ist eine komplizierte Angelegenheit, aber wenn die Palästinenser in ihrem unabhängigen Staat das Territorium des Staates Israel weiter als “besetzte Gebiete" betrachten, die zur palästinensischen Heimat gehören, wird dies den gegenseitigen Versöhnungsprozess bestimmt nicht erleichtern.
Eine zweite Frage richtet sich an die arabischen Bürger Israels: Ein Teil ihrer politischen Führung zieht es vor, sich selbst als “Palästinenser israelischer Staatsbürgerschaft" zu bezeichnen, was selbstverständlich ihr gutes Recht ist. Aber man kann nicht darüber hinwegsehen, dass diese Selbstdefinition mit der Gründung eines unabhängigen Palästinas problematisch wird. Bedeutet diese Definition, dass sie Palästina – das dann bereits ein unabhängiger Staat sein wird – als ihren Staat und ihre Heimat betrachten? Bedeutet das gleichzeitig, dass sie letztlich ihre Wohnorte – Galiläa, das ‚Dreieck‘, Akko, Haifa, Yafo – als Teil Palästinas betrachten, das bereits ein Staatswesen sein wird und nicht nur ein geographischer Raum? In der modernen und liberalen Welt kann es selbstverständlich multiple Identitäten geben (wer wüsste das besser als die Juden), aber die Sache ist doch alles andere als einfach.
In einer von historischen Spannungen geladenen Atmosphäre könnten einige Klarstellungen die Stellung der israelischen Araber als gleichberechtigte Bürger unterstützen – eine Herausforderung, die nach Gründung eines unabhängigen Palästinas noch dringlicher für Israel wird; werden doch alle möglichen sicherheitsfixierten israelischen Ausreden nicht mehr dasselbe Gewicht und dieselbe Gültigkeit haben wie zuvor.
Es sind dies schwierige Fragen, und sie überhaupt zu stellen, könnte als Versuch der Verhandlungsbehinderung betrachtet werden. Aber ich bin überzeugt, dass das Gegenteil wahr ist: Gerade wer wie ich die Lösung von zwei Staaten für zwei Völker unterstützt und die volle rechtliche Gleichstellung der israelischen Araber will, sollte, ja muss sie stellen.
Shlomo Avineri ist Emeritus für Politische Wissenschaften an der Hebräischen Universität Jerusalem.
Normalerweise sind Meldungen, die aus dem Nahen Osten stammen und Bautätigkeiten der Israelis betreffen, gekennzeichnet durch Protest, Empörung, Sprengstoff. Ausnahmsweise gibt es nun aus Jerusalem eine Nachricht, die nicht überschattet ist vom Streit um Siedlungsbauten, sondern den Mitteln avantgardistischer Architektur zur Toleranz mahnt. Es handelt sich um den Bau eines Museums der Toleranz, das nicht nur durch seine Zweckbestimmung, sondern noch mehr durch seine Dimension und seinen spektakulären Baustil für Aufsehen sorgt. Zurückzuführen ist dies auf eine Anregung des Simon Wiesenthal Centers in Los Angeles vor zehn Jahren.
Entwurf von Chyutin Architects
Als es dann im Jahr 2005 als konkretes Projekt präsentiert wurde, veranschlagte man die Kosten auf nicht weniger als 250 Millionen $, also wahrlich keine Kleinigkeit. Ob man es nun als Ausdruck eines US-amerikanischen jüdischen „Kulturimperialismus" abzuqualifizieren versuchte, was angesichts der Größe nicht verwundert oder ob man eher die Kühnheit bewunderte, die Finanzkrise schob der Realisierung jedenfalls einen Riegel vor. Vor kurzem redimensionierte man das Vorhaben auf 100 Millionen $, die allerdings auch noch nicht aufgebracht sind.
Ausgewählt als Architekten wurde aus einem Wettbewerb, an dem drei israelische Anbieter teilnahmen, das renommierte Architektenbüro den Bracha und Michael Chyutin aus Tel Aviv. Das Team hat sich mit Kulturbauten im Großraum Tel Aviv, mit Universitäten in Beerscheba, dem Bau eines Gerichtsgebäudes in Haifa und dem Plan für eines in Jerusalem, sowie der dort im Bau befindlichen Erweiterung des Van-Leer-Instituts beachtliches Renommee erworben.
Wie die angesehene Zürcher Zeitung, die dem Projekt eine ganze Seite widmet, ausführt, wird sich auf einem s-förmigen Grundriss ein mehrstöckiges Gebäude erheben, das zu schweben scheint, vergleichbar mit der Vision des Propheten Elias von einer riesigen fliegenden Thora-Rolle.
Der abgehobene Gebäudeteil rahmt einen zur Hillel-Straße und zur Neustadt hin offenen Platz, der sich zum tiefer liegenden archäologischen Garten senkt: Dort sind die Reste eines herodianischen Aquädukts zu sehen, der während der Aushubarbeiten entdeckt worden war. Künftig wird man unter dem Gebäude durch eine Glasfassade darauf blicken können. Richtung Hillel-Straße ist es mit Jerusalem-Stein verkleidet und stellt so den Obergang auf die Altbauten und das Nachalat-Schiva-Viertel her. Die Verbindung zu dem bei Touristen beliebten Quartier bildet ein Hofhaus mit Buchhandlung und Bibliothek, das unterirdisch mit dem Museum verbunden wird. In diesem befindet sich neben Restaurant, Museumsshop ein Mehrzwecksaal und ein Theater mit 500 Plätzen.
Das eigentliche Museum und ein Kindermuseum liegen im Untergeschoss. Natürlich gibt es eine Vorgeschichte, denn wo kann man denn im 21. Jahrhundert auch nur ein Regendach bauen oder zehn Meter Fahrweg asphaltieren, ohne die politisch Korrekten auf den Plan und die Straße zu rufen? In diesem Fall waren es Muslime, die eine Entweihung historischer Gräber befürchteten oder jedenfalls so taten oder tun mussten. Der Neubau soll nämlich auf einem Teil des Friedhofs an der HilleI-Straße stehen. Dieser Teil war allerdings schon 1929 als Grablage aufgehoben worden, und zwar auf Wunsch des Muftis von Jerusalem, der dort ein Palace Hotel bauen wollte. 1945 plante dann der Oberste Muslimische Rat eine Überbauung des gesamten Friedhofareals und die Umbettung der sterblichen Überreste in einen anderen Friedhof. Der Unabhängigkeitskrieg stoppte dann das Vorhaben. Seit den sechziger Jahren diente das Areal als Parkplatz, unterirdisch waren Strom- und Telefonkabel verlegt.
Als aber dann im Jahr 2000 die Pläne für das Museum publik wurden, reichten Gegner – darunter Rashid Khalidl, der als Professor für arabische Studien an der New Yorker Columbia-Universität lehrt – beim UNO-Menschenrechtsrat in Genf eine Klage ein, in der berechtigten Erwartung, er werde in ihrem Sinn intervenieren. Tatsächlich verfügte der israelische Oberste Gerichtshof im Februar 2006 einen Stopp der Grabungsarbeiten.
Ende 2008 entschied der Oberste Gerichtshof, dass mit den Bauarbeiten fortgefahren werden könne. Eventuell zum Vorschein kommende sterbliche Überreste wären auf einen andern Friedhof umzubetten. In der Zwischenzeit hat der Oberste Gerichtshof grünes Licht gegeben, sodass 2011 mit dem Baubeginn zu rechnen ist. Eine gewisse Gigantomanie ist dem Projekt nicht abzusprechen, und mag bei konservativen Betrachtern die Befürchtungen aufkommen lassen, andere, Jerusalem prägende, Bauten würden in den Hintergrund gedrängt.
Die Proponenten erwarten jedenfalls ein architektonisches Highlight wie das jüdische Museum in Yad Vashem. Heike
Als Studentin schrubbte sie Böden mit Anna Politkovskaja, um Windelgeld für Annas Tochter zu verdienen. Ihre Freundschaft mit Politkovskaja blieb nicht immer so nahe, aber bis zur Ermordung der streitbaren Journalistin lebten die zwei Frauen praktisch Tür an Tür. „Am Abend des 7. Oktober 2006 rief mich Dimitri Muratow, der Chefredakteur der „Nowaja Gaseta“ an und schrie: ,Sie haben Anna erschossen!’, erinnert sich Jewgenia Albats. „Ich rannte die Lesnajastraße hinunter, sie lebte ja nur ein Haus von mir entfernt. Dort war überall Polizei. Und Annas Leiche lag mit einem Tuch bedeckt auf einer Tragbahre.“
Jewgenia Albats erzählt ihre Geschichten nicht ohne Emotion. Auch nach Jahrzehnten im journalistischen Geschäft empfindet sie Mitgefühl, Sympathien und Antipathien wie am ersten Tag. Sie nimmt sich kein Blatt vor den Mund. Obwohl das für sie gefährlich werden kann. „Frage mich bloß nicht, wie ich mit der Angst umgehe, das ist so eine blöde Frage!“, schimpft sie. Doch es bleibt unverständlich, wie Journalisten im autoritären Staat von Wladimir Putin arbeiten können. Dutzende Reporter haben ihr Leben in den vergangenen zehn Jahren wegen kritischer Berichterstattung über die Machthaber verloren. Und trotzdem gibt es hunderte Journalisten, die nicht aufgeben und weiter für die Freiheit des Wortes kämpfen.
Die Chefredakteurin der „Nowoje Wremija“ ist eine von ihnen. Sie studierte Journalismus in Moskau, heuerte dann bei „Nowaja Gaseta“ und „Iswestija“ an. 1993 ging sie an die Harvard Universität und hatte dort den Schock ihres Lebens. Sie fand in der unterirdischen Bibliothek einen gesamten Stock voller russischer Bücher und Manuskripte. Lauter Werke, die in ihrem Heimatland jahrzehntelang verboten gewesen waren, lagen hier für alle Interessierten zur Lektüre auf. Sie schwor sich, nie wieder zuzulassen, dass die Wahrheit in Russland nicht gedruckt werden durfte.
Zurück in Russland publizierte sie 1994 neben ihren journalistischen Texten ein Buch, das bis heute zur Standardliteratur über die Geschichte des Geheimdienstes der Sowjetunion zählt: „The State within a State: The KGB and its hold on Russia – Past Present and Future“. 1997 wurde sie von der „Iswestija“ gefeuert, weil sie einen kritischen Artikel über den FSB, die Nachfolgeorganisation des KGB, geschrieben hatte. Damals wusste noch niemand, wie schnell und überaus effizient der KGB-Offizier Wladimir Putin mithilfe der grauen Männer aus den Sicherheitsstrukturen Russland zu einem strikt zentral und vertikal regierten Staat umformen würde.
Die Ermordung von Anna Politkowskaja machte Albats schließlich klar, dass der Staatsapparat vor nichts zurückschreckt. In der demokratischen, unabhängigen Intellektuellenszene war der Winter 2006/2007 eine besonders düstere Zeit. Doch eine kleine Gruppe von unverwüstlich Couragierten wollte sich nicht mundtot machen lassen. Die Geschäftsfrau Irena Lesnewskaja kaufte den alten Sowjettitel „Nowoje Wremija/The new times“ und hauchte dem Wochenblatt neues Leben ein: „Sie rief mich an und sagte: Machen wir was! Wir brauchen einen Ort, an dem wir atmen können!“ Albats stimmte zu und zog mit einer Gruppe von Journalisten am Twerskoi-Boulevard im Zentrum von Moskau in ein großzügiges Büro, um fortan den Machthabern kräftig auf die Nerven zu gehen.
Schon in der ersten Nummer brachte „The new Times“ einen Artikel über die Ermordung von Alexander Litwinjenko in London. Der Ex-KGB-Agent und Neo-Putin-Kritiker war – so glaubt die britische Justiz – von seinem ehemaligen Kollegen Andrej Lugovoi in der Bar des Hotels Millennium mit radioaktivem Plutonium 210 vergiftet worden. „The new times“ erforschte Logistik und Hergang dieses spektakulären Mordfalls. Vier Jahre nach dieser ersten Titelgeschichte hat sich die Zeitung längst etabliert. „Selbst der Kreml liest uns gerne“, grinst Albats, die erst voriges Jahr zur Chefredakteurin befördert wurde. „Die wollen schließlich auch wissen, was im Land wirklich passiert.“ Die Massenmedien sind von Putin an die Kandare genommen worden. Im Fernsehen gibt es seit Jahren kaum kritische Kommentare. Die Popularitätswerte des Machtduos Putin und seines Präsidentenadlaten Dmitri Medwedew sind kremlgenehm hoch.
Den kleinen, kritischen Medien wie der „The new Times“ droht dagegen ständig der Besuch der Sicherheitsorgane. In diesem Jahr haben sie schon zwei Mal die Redaktion durchsucht. Im Mai fand Albats in ihrem Autotank einen Radiotransmitter. Sie will zwar nicht darüber sprechen, dass sie Angst um das Leben ihrer Tochter hat, die gerade ihr Studium an der Brandeis-Universität beendet hat. Sie will auch nicht darüber reden, dass sie sich für ihre Redakteure verantwortlich fühlt. Aber sie erwähnt nebenbei, dass sie ihren 25-jährigen stellvertretenden Chefredakteur Ilja Barabanow am liebsten jeden Abend mit dem Auto nach Hause fährt. „Dann ist mir wohler, wenn ich weiß, dass er dort wohlbehalten angekommen ist.“
In den letzten Jahren hat sich Albats ihrem Judentum geöffnet. Seit 2004 leitet sie im Jewish Community Center in der Nikitskaja Straße die Thora-Diskussionsgruppe „Dwar Tora“. Zu der hat sie sogar schon einmal den nicht-gläubigen Schachmeister Gary Kasparow eingeladen. Albats ist auch Mitglied des „Russischen jüdischen Kongresses“, bei dem auch Michail Friedman auf der Mitgliederliste steht. Sie bemüht sich zwar nicht besonders, ein führendes Mitglied der jüdische Gemeinde Russlands zu sein, dennoch ist sie spürbar. Das liegt an ihrer Persönlichkeit. Jewgenija Albats ist keine, die man übersehen kann.
„Ich bin heute zweiundfünfzig Jahre alt“, sagt die stattliche Frau mit einem Lachen. Für eine Russin schickt es sich eigentlich nicht, über ihr Alter zu reden. Es ist immer noch ein Tabubruch. Jewgenia Albats aber lacht laut und scheint damit sagen zu wollen: „Was soll ich denn sonst tun? Weinen, verzweifeln, verstummen?“ Tabubrüche sind ein ganz normaler Bestandteil ihres Lebens.
Erkenne die Hoffnung: Know Hope, ein akustisches Wortspiel mit „no hope“ hat sich der aus Kalifornien stammende israelische Straßenkünstler als Pseudonym zugelegt, um in urbaner Umgebung verlassenen Orten, abgelebten Räumen und verfallenen Mauern seinen visuellen Stempel aufzusetzen. Anders als in den späten achtziger Jahren besteht Straßenkunst heute nicht mehr nur aus Graffiti und wird auch vom Establishment nicht mehr nur als Schmiererei angesehen.
In Wien konnte man heuer im September während des BLK River Festivals am Donauufer den Künstler bei der Arbeit beobachten.
Die Werke von Know Hope sprengen die visuellen Konventionen des Stadtbildes. Im Kontrast zum Gewohnten und Überkommenen schockiert die Präsenz seiner Charakterfigur, deren Dimension und Farbe heftige Reaktionen hervorrufen. Straßenkunst verlangt vom Betrachter die Auseinandersetzung, einen zweiten und dritten Blick. Hinter dieser Hürde entdeckt sich die Poesie von Know Hope, die er uns wie ein Logo zu jedem Werk mitteilt. Die Figur, die er ins Überdimensionale vergrößert am Donauufer entlang kriechen lässt, ist eine gebückte, bedrohte und verletzte Gestalt, die die meisten von uns aus der eigenen Geschichte kennen. Sein blutendes Herz ist verrückt und deplaziert, doch die beflügelten Seelen der ihn umwehenden Vögel wie auch seine kreativen Hände zeugen vom Wissen um die Hoffnung.
Wir treffen diese namenlose Figur auch in Tel Aviv, New York und Toronto. Sie zeigt sich uns in verschiedenen Momentaufnahmen großer Hoffnungslosigkeit, spiegelt eine empfindsame Reaktion auf die Umgebung und reflektiert die Begegnung mit dem Ort. Die Installationen und Bilder, die jeweils entstehen, bleiben verwaist am Ort zurück, während der Künstler weitergeht, seinem normalen Leben nachgeht. Er trifft also quasi zufällig sein Atelier im Dickicht der Stadt, verankert in ihm visuell einen weiteren Geisteszustand, der sich durch sein Weggehen Minuten später verflüchtigt. Diesen Augenblick des Empfindens zwischen den Welten ist es, den die Kunst der Straße einfangen kann. Diese Kunst ist flüchtig, hinterlässt im intensiven Krach der Metropolen ein vages Echo. „Every now is then" – wie der Titel einer früheren Arbeit von Know Hope verrät.
Das Publikum für diese Kunst bildet eine relativ geschlossene Gruppe, die sich ihren Weg zu den Werken ihrer Lieblingskünstler irgendwie erkämpfen muss. Die zum Atelier gewordene Stadt ist großflächig und unüberschaubar. Die Öffentlichkeit wird zum Hindernis, hinter dem das Kunstwerk versteckt bleibt. Die urbane Kunst will eine Erlebnisebene abdecken, die vom Betrachter verlangt, sich einzubringen, sich zu engagieren. Gefunden wird der Zutritt nur von Suchenden, die in Hinterhöfen und an sozialen Bruchstellen moderner Stadtlandschaften nach visuellen Zeichen spähen, die dort in der Illegalität entstanden sind.
Vor kurzem gab es eine Dokumentation solch geheimen Kunstschaffens in New York unter dem Titel „Underbelly Project".
Know Hope in Wien, September 2010:
"and the patterns spoke of a certain certainty"
Der Ausstellungsort, an dem 103 Künstler aus aller Welt während 18 Monaten ihre Werke direkt auf die großen Galleriemauern installierten, ist nach wie vor unbekannt. Es war die größte Show ihrer Art, doch zur Eröffnung konnten nur Einzelne kommen und wäre nicht ein Reporter der New York Times zur Dokumentation eingeladen worden, hätten wir vielleicht nie davon erfahren. Die Kunstwerke verstecken sich an geheimen Ort und der Zugang zu ihnen wäre illegal. Noch am Tag der Eröffnung wurde sie wieder geschlossen und mit ihr die Kunstwerke im Limbo versiegelt. Nur U-Bahn-Arbeiter könnten eines Tages zufällig auf sie stoßen, denn sie liegt unterirdisch im Netz der NY-Transportation Authority an einem verödeten Streckenstück. Die einzige Möglichkeit sie zu sehen bieten Aufnahmen im Internet.
Diese Kunst wird, wie einst, von einem geschlossenen Kreis der Insider goutiert. Sie erst heben die Werke auf eine andere Dialogebene, in der Zuschauer und Künstler gleicher Gesinnung sind. Zufallsbesucher und Establishment sind ausgegrenzt. Später, als weiterer Schaffensschritt, geben die Künstler diese Exklusivität auf und setzen Kopien ihrer Werke ins Netz. Über allgemeine Suchbegriffe wie „Graffiti" und „street art" findet man den Einstieg, um mit dem Terrain dieser Kunstrichtung vertraut zu werden – wie erwartet finden sich vorwiegend internationale Seiten, die vage die Auftritte der einschlägigen Künstler ankündigen. Der Ort des Schaffens selbst wird meist erst gezählte Stunden im Vorhinein preisgegeben, gerade, wie man es vom Leben in der Unterwelt erwartet.
Zur Zeit wird Know Hope in einer Gruppenausstellung gezeigt, die sich auf seine Studioarbeiten konzentriert. Sie trägt den Titel: „Small Acts of Resistance", kleine Handlungen des Widerstands, und wird bis zum 30. November in London gezeigt.
Der tschechische Schriftsteller und Dissident Vaclav Havel erklärt diesen Arbeitstitel so: Heute leben Millionen Menschen in der Welt unter Bedingungen, in denen es scheinen könnte, als werde sich nichts je ändern. Sie sollten sich daran erinnern, dass Ende der achtziger Jahre die Aufstände in ganz Osteuropa Folge einer Reihe von Handlungen ganz normaler Leute waren, deren Summe die Veränderung unausweichlich werden ließ. In meinem Leben habe ich wiederholt beobachtet, dass gerade die kleinen Handlungen des Widerstands es waren, die einen unvergleichlich größeren Einfluss/Impakt hatten, als es im Augenblick der Tat irgendjemand vorausgesehen hätte. Es geht bei den kleinen Handlungen des Widerstands nicht nur um Momente in der Gegenwart oder der Vergangenheit. Ich glaube, es geht in ihnen auch um die Zukunft.
Das einst so prächtige jüdische Wien, mit seinen wie Kathedralen in den Himmel gewachsenen Synagogen, mit seinem unvergesslichen Reichtum an Kunst und Kultur, schöpft nicht nur aus der für immer zerstörten Vergangenheit: manchmal gibt es auch Gelegenheit, sich an den Lichtblicken der Gegenwart zu laben.
Von den prächtigen Synagogen ist nur eine einzige zurückgeblieben: unser unvergleichlicher Stadttempel, in dem einst Schuberts Freund, der große Kantor Sulzer, wirkte und dessen Maßstäbe seither die Liturgie in diesem Bethaus bestimmen. Und heute hat Sulzer im Oberkantor Shmuel Barzilai einen würdigen Nachfolger, zur Ehre Gottes und zu unserer aller Freude. Glücklicherweise hat der in Israel geborene Oberkantor die Melodien der Diasporatradition, das Herz des mitteleuropäischen, untergegangenen Judentums, veredelt durch die Musikalität des großen Sulzer, verinnerlicht. Der Schmelz seiner Stimme und vor allem die innige „Kawana", die seinem Vortrag zugrunde liegt, sind ein Geschenk des Himmels für alle Anwesenden bei seinen Gebeten.
Unser Oberkantor ist ein perfekt ausgebildeter Sänger und die Schönheit des in allen Lagen perfekt klingenden Organs macht jede Andacht auch zu einer Lektion von Belcanto. In der hebräischen Sprache gibt es für die Sammlung und den Geist, die jedes Gebet motivieren sollen, die unübersetzbare Bezeichnung „Kawana": Kawana ist ein Seelenzustand, den der Mensch nicht immer erreichen kann. Ich denke mir, dass unsere wichtigsten Gebete täglich mehrmals wiederholt werden müssen, um den Menschen die Möglichkeit zu geben, wenigstens einmal zur echten Kawana zu gelangen: zum Abstreifen alles Irdischen im Streben nach voller Verinnerlichung der Heiligkeit Gottes und seine Anrufung aus voller Seele und reinem Herzen, mit tiefster Absicht. In der weltlichen Musik hat nur der Sänger uns wirklich was zu sagen, dem die Noten helfen, den Worten die innerste Bedeutung einzuhauchen und uns alle Gefühle der Seele klarzumachen und zu vermitteln, bis zum triumphalen hohen „C". Man kann sagen: im liturgischen Gesang ist die höchste Stufe der Kawana das hohe
„C" der Ausdruckkraft des Kantors.
Zum Beneiden ist der Kantor – und seine Gemeinde – der, wie Shmuel Barzilai, nicht nur mit Inbrunst den höchsten Grad der Kawana erreichen kann, sondern ebenso meisterhaft das hohe „C".
Shmuel Barzilai wollte, dass die Vorstellung seiner neuesten CD der Erinnerung eines anderen Kantors, dem König des hohen „C", Joseph Schmidt gewidmet sein sollte. In einer total überfüllten Matinee im Jüdischen Museum stellte der allbekannte Opernfachmann und Sängerexperte Gottfried Cervenka den unvergesslichen Filmstar und Sonderklassetenor vor.
Die Geschichte von Joseph Schmidt müsste jeder Generation wiedererzählt werden.
Das kann Gottfried Cervenka meisterhaft tun: er liebt die Musik, ist ein echter Fachmann und vor allem liebt er von Herzen die Sänger, die uns mit der Schönheit ihrer Stimmen, mit der Ausdruckskraft ihrer Seelen immer wieder verzaubern. Und Joseph Schmidt muss man natürlich lieben. Er war der erste, der die Noten der großen Tenorarien in mein kindliches Herz für alle Zeiten eingravierte: mit dem
Schmelz seiner Stimme, mit der Wortdeutlichkeit seiner sich einprägenden Diktion, mit der Einfachheit wahrer Noblesse, und wer singt nicht bis heute seine Lieder, die die Radiowellen zum Schwingen brachten? Es hat seit Entstehung des Musiktheaters viele große jüdische Sänger gegeben, aber keiner brachte so sehr wie er die jüdische „Neschume", die Kawana, in die Opernarien ein.
Von Kind an sang Joseph Schmidt in der Synagoge und war später ausgebildeter Kantor. Der kleine Mann mit der großen Stimme und dem großen Herzen kam zur falschesten Zeit auf die Welt (1904): die k.u.k. Monarchie, die große jüdische Heimat, ging ihm verloren, als er zehn Jahre alt war. Die große Karriere, die er 1933 in Berlin begann, konnte er später in Wien nur bis 1938 fortsetzen. Sein Leben endete 1942 im Nebenraum eines Wirtshauses in der Schweiz, auf dem Weg zurück in das Lager, wo man ihn im Land der Eidgenossen, in einem Naziähnlichen KZ gefangen hielt: die Tragik seines kurzen Lebens, eine vom Schicksal verfasste Oper.
Joseph Schmidt stammte aus einem kleinen Dorf neben Czernowitz und wuchs in diesem großen jüdischen Zentrum auf, eine Symbiose von Völkern und Religionen im Vielvölkerstaat, wo er sich als Junge einen Namen als Kantor machte. Er aber wollte hinaus in die Welt, um die Opernhäuser zu erstürmen, was ihm ohne Mühe gelungen wäre. Sein Tenor war mächtig und bestens bis in die höchsten Lagen ausgebildet, seine Diktion und seine Musikalität konnten jeden begeistern, aber seiner Statur fehlte das, was seine Stimme reichlich besaß: die Höhe. Joseph Schmidt war ein sehr männlicher und schöner Mensch, aber auch weniger als 1,60 m groß. Die einzige Möglichkeit, die er hatte, sich der Kunst und dem Gesang zu widmen, war der damals noch sehr junge Tonfilm, der ihn bald über alle Maßen berühmt und beliebt machte. Seine Lieder gingen wahrlich um die Welt, bis nach Amerika, von wo er aber aus Sorge um seine Mutter ausgerechnet 1938 wieder nach Europa zurückkehrte. Es begann für ihn eine lange Flucht durch viele Länder, bis er schließlich in einem Lager in der Schweiz endete, wo die Lebensbedingungen
für die Flüchtlinge so unmenschlich waren, dass er mit nur 38 Jahren daran zugrunde ging. Man müsste diesem prominenten Opfer der Shoah, diesem außergewöhnlichen Künstler, diesem großen kleinen Mann, viel mehr Aufmerksamkeit und Erinnerung widmen, zu unserer persönlichen Freude und Trauer über das, was uns und der Welt verloren ging. Rita Koch
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Letzte Änderung: 28.06.2012
Webmeisterin+Redaktion: Mag. Ditta Rudle
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