In der Kiewer Rus entstand nicht nur das russische Reich, sondern auch das osteuropäische Judentum, als westliche Juden aus Rom mit den Legionen der Cäsaren an den Rhein und an die Donau zogen und in Deutschland, in England, aber vor allem in Spanien die europäische Heimat des Westjudentums entstand. In der Kiewer Rus, der Wiege des Judentums des Ostens, traf es das erste Mal auch auf die ukrainischen Stämme, die etwa 1000 Jahre später den ersten Holocaust vollzogen.
Unter den russischen Fürsten erlebte das Judentum eine Hoch- und Blütezeit und war führend in Kultur und Politik, wie wir das auch aus Sefarad berichtet haben. Die Einfälle der Tartaren und die Eroberung durch die Mongolen veränderten alles, bis im 14. Jahrhundert die Stammländer der Juden, Galizien und Wolhynien, auf Polen und Litauen aufgeteilt wurden. Während die jüdische Gemeinde in Kiew erst im Jahr 1793 wieder aufgebaut werden konnte, hatte sich der Schwerpunkt des jüdischen Lebens in Osteuropa nach Polen verlagert. Der große König Kasimir III., der das unterentwickelte Bauernland Polen den europäischen Mächten kulturell angleichen wollte, lud die Juden aus Deutschland ein, in sein Land zu kommen, um Polen zu zivilisieren, was großartig gelang und auch für die Juden ein Goldenes Zeitalter einleitete, das bis 1648 dauerte. Wie während des Goldenen Zeitalters in Spanien bekleideten die Juden höchste Ämter im Staat, hatten einen eigenen Sejm (Parlament) für ihre interne Verwaltung und die jüdische Lehre erblühte in Wohlstand und Freiheit.
Kasimir III. der Große (1310-1370) war mit vielen Ambitionen angetreten und brauchte die Juden, um sie zu verwirklichen. Statt aus Holz sollten die Häuser in Polen aus Baustein sein – das war das Symbol für den Herrscher, der mit dem Deutschen Orden an seinen Grenzen ohne Unterlass Krieg führte und gleichzeitig in seiner Hauptstadt Krakau 1364 die erste Universität in Großpolen gründete. Er hatte 1333 den Thron bestiegen, und als er 1370 einem Jagdunfall erlag, war sein Ziel erreicht. Die Juden halfen auf allen Gebieten, die westliche Kultur einzuführen und zu etablieren. Die Städte wuchsen und am Land lebten die ruthenischen – eigentlich ukrainischen – Bauern in Armut und Knechtschaft. Eine der Aufgaben der Juden war es, die Ländereien für die adeligen Besitzer zu verwalten, die Landwirtschaft zu überwachen und die Pacht der Bauern zu kassieren. Die streng religiösen Ukrainer hassten die Juden über alle Maßen. Neid, Zorn und Angst waren die Ingredienzen einer brutalen Ablehnung, die tief verwurzelt bis heute weiter lodert.
Der Glanz, ja die Existenz des polnischen Judentums endeten in der ersten Schoah, die 1648 ausbrach. Den marodierenden ukrainischen Horden des Hetmans Bohdan Chmelnyzkyj schlossen sich die aufständischen Kosaken an und überzogen das Land mit Brand, Mord, Totschlag und Verwüstung. Der Aufstand von Chmelnyzkyj richtete sich in erster Linie gegen die Juden – eine leichte Beute –, die er mit Ausnahme einiger Orte in Galizien und Wolhynien total ausrottete. Etwa 300.000 Juden fielen diesen Überfällen zum Opfer und alles, was sie aufgebaut und besessen hatten, wurde brutal geplündert und vernichtet. Das Judentum in Großpolen hat sich nie wieder von diesem Mord erholen können.
In den folgenden Jahrhunderten, hauptsächlich aber nach der ersten Teilung Polens 1772, als Galizien, Wolhynien und die Bukowina an die k. u. k. Monarchie fielen, blühte das jüdische Leben in diesen Ländern wieder auf, gestärkt durch den Glauben der Väter und die Erneuerung desselben durch den Chassidismus.
Heute ist der wilde, grausame, gnadenlose Judenmörder Chmelnyzkyj der Nationalheld des europäischen Staates Ukraina. Dieser Staat hat auch einen Nationaldichter – Iwan Franko, im 19. Jahrhundert im österreichischen Galizien geboren, dessen literarisches Werk einen Leitfaden besitzt: irrationaler brutaler Judenhass. Die Judenhetze im nationalsozialistischen Deutschland, die Texte des Stürmers und die ganze abscheuliche antijüdische Propaganda des Dritten Reichs sind mit den verleumderischen, giftigen, hasserfüllten Texten von Franko gleichzusetzen, wenn nicht sogar schlimmer. Kein Wunder also, dass die Ukrainer im 2. Weltkrieg für Deutschland kämpften und sich anboten, die Juden auf barbarischste Weise in den KZs zu ermorden und die Überlebenden aufzuspüren und umzubringen.
Den Ukrainern, die erst dank der UdSSR einen eigenen Staat erhielten, wurden – Ironie und Grausamkeit der Geschichte – die Gebiete zugeteilt, die sich nach dem Chmelnyzkyj-Massaker wieder zur jüdischen Heimat in Europa entwickelt hatten: Städte wie Kiew und Odessa, die Blüte jüdischen Geistes und jüdischer Talente, ganz Österreichisch-Galizien und die Bukowina, die Wiegen der größten Thora-Gelehrten, fielen total judenfrei nach der Shoah der Ukraine zu. Nach den Nazis zerstörten die Ukrainer alles, was von den Juden in diesen Gebieten noch übrig geblieben war. Alle Gräber, alle Spuren wurden vernichtet, und wenn heute Nachfahren kommen, um in den Wäldern versteckt Erinnerungstafeln aufzustellen, werden diese nach kurzer Zeit zertrümmert und verwüstet. In den Gebieten, wo einst jahrhundertelang Polen und Juden zusammenlebten, in hunderten kleinen Städten, leer und verlassen – die Polen vertrieben, die Juden ermordet – leben heute nur noch Ukrainer, die nicht wissen, wo sie sind und was vor ihnen war. So haben sie alles übernommen, und voller Hass beten sie Chmelnyzkyj und Franko an.
In diesem Land, in dem das europäische Judentum zweimal vernichtet wurde, schweben, solange es uns noch gibt, die Schatten, die Seelen, das Leiden unserer Ahnen, aber vor allem der unvergleichliche Stolz auf das, was sie für die Menschheit vollbracht haben. Das wird überleben.