Nie wieder Deutsch! – so lautet die Parole einer Frau, die im Mittelpunkt des neuen Films Amnesia von Barbet Schroeder steht: Martha ist 70 und sie wird gespielt von der ebenfalls 70-jährigen und immer noch blendend aussehenden Marthe Keller.
Den Film Amnesia, der beim Festival von Cannes seine Weltpremiere hatte, widmete Schroeder seiner Mutter und hat damit quasi Neuland betreten: Erstmals versucht er sich im autobiografischen Genre und setzt sich dabei nicht nur mit den Auswirkungen des Hitler-Regimes auseinander, sondern auch mit dem sehr persönlichen Problem, ohne Muttersprache aufgewachsen zu sein. Denn seine Mutter, so erzählt der 1941 in Teheran geborene Regisseur im Interview, war eigentlich Deutsche, sie hatte sich aber nach ihrer Emigration strikt geweigert, je wieder die Sprache ihrer einstigen Heimat zu sprechen – schon gar nicht mit dem eigenen Sohn.
Schroeder wechselte im Lauf seiner Karriere immer schon virtuos zwischen Spiel- und Dokumentarfilmen, europäischen Autorenfilmen und Hollywood-Kino. Seine Originalität und Unverwechselbarkeit hat er bereits in einer ganzen Reihe außergewöhnlicher Spielfilme bewiesen – von „Barfly” mit Faye Dunaway und Mickey Rourke und, nach einem Drehbuch von Charles Bukowski, über „Die Affäre der Sunny von B.” mit Glenn Close und Jeremy Irons, bis „Mord nach Plan” mit Sandra Bullock. Als Dokumentarfilmer versuchte Schroeder, die Mechanismen des Bösen zu durchschauen: Wie mit seinem Portrait des afrikanischen Diktators Idi Amin („General Idi Amin”) und seiner mehrfach ausgezeichneten Dokumentation „Im Auftrag des Terrors”, in dem er dem umstrittenen Anwalt Jacques Vergès eine Erklärung dafür abringen will, warum dieser am liebsten brutale Diktatoren, Kriegsverbrecher oder Terroristen verteidigt. Zu jenen, von deren „Unschuld“ Vergès die Kriegsgerichte überzeugen wollte, gehörten der Gestapo-Offizier Klaus Barbie, der serbische Diktator Slobodan Milošević, und Ilich Ramírez Sánchez, der unter dem Decknamen unter anderem für den Terror-Anschlag auf die Wiener OPEC (1975) verantwortlich war.
Während seine Doku- und Spielfilm-Thriller und Hollywood-Melodramen nach Meinung der Fachwelt soziologisch, ethnografisch oder kritisch orientiert waren, hat Schroeder in „Amnesie” einen persönlichen Ansatz gewählt. Er zeichnet behutsam das Porträt seiner Mutter. Gleichzeitig will er sich und dem Publikum dazu verhelfen, über das persönliche und kollektive Gedächtnis des 20. Jahrhunderts nachzudenken, über die nicht vergehende Vergangenheit, über den Nazismus und die Judenvernichtung in Europa.
INW: Warum hat Ihre Mutter die deutsche Sprache verweigert?
Barbet Schroeder: Meine Mutter hat Deutschland verlassen, nachdem ihre jüdischen Mitschülerinnen nach und nach spurlos verschwanden. Als sie dann ein Schild auf einer Parkbank entdeckte, auf dem zu lesen stand Für Juden verboten, war Deutschland für sie erledigt. Sie war keine Jüdin und in dem Sinne auch kein Opfer der Nazis, aber sie wollte nichts mehr mit all dem zu tun haben. Keine deutschen Autos, keine deutschen Produkte und vor allem keine deutsche Sprache.
Der Titel „Amnesie”, den Schroeder für seinen Film gewählt hat, steht nicht nur für eine Störung des Gedächtnisses für zeitliche oder inhaltliche Erinnerungen, sondern – so der Regisseur – auch für die spezielle Form der Sprachverweigerung, in die sich seine Mutter geflüchtet hatte. Der Filmtitel symbolisiert die Amnesie der Protagonistin, die ihr Deutschsein und ihrer Muttersprache verdrängt, um keine schmerzhaften Kindheitserinnerungen wachzurufen.
„Wie dir ist mir ein Gedächtnis verliehen, kenne ich das Vergessen“, sagt Marguerite Duras in ihrem Einleitungsdialog zu Alain Renais‘ Film Hiroshima, mon amour (1959). Davon inspiriert, so Barbet Schroeder, hatte er die Geschichte einer unmöglichen Liebe entwickelt, in der sich zwei Zeitebenen, Vergangenheit und Gegenwart, überlagern. Gleichzeitig werden darin zwei Wahrnehmungen der Geschichte und ihrer Folgen miteinander konfrontiert.
Der Film spielt in Ibiza, Anfang der 90er Jahre. Genau in jenem Haus, das Schroeders Mutter 1951 für sich und ihren Sohn gekauft hatte. Um das Schweigen der Mutter posthum zu brechen, hat Schroeder eine fiktive Ebene in die Handlung eingeführt: Ein fünfundzwanzigjähriger Musiker, gespielt von Max Riebelt, kommt von Berlin nach Ibiza, um Teil der gerade aufkommenden Electro-Revolution zu werden und einen Job als DJ im ‚Amnesia‘, dem hippsten Club der Insel, anzutreten. Durch einen Zufall begegnet er Martha, die seit vierzig Jahren allein in ihrem Haus lebt. Marthas einsame Lebensweise fasziniert den jungen Musiker, die beiden freunden sich an. Im Laufe der Zeit wird Martha zu seiner Bezugsperson, seiner Ansprechpartnerin und zu der Frau, für die er bald mehr als nur mütterliche Gefühle empfindet. Es wäre also alles gut, wenn da nur nicht Marthas Abscheu gegenüber Deutschland wäre. Mit der Zeit aber wirkt Martha immer rätselhafter: Wieso steht bei ihr ein Cello in der Ecke, auf dem sie sich zu spielen weigert? Und warum versteht sie Deutsch, will die Sprache aber nicht sprechen? Nach und nach konfrontiert der junge Mann Martha mit Fragen, denen sie nicht mehr ausweichen kann, Fragen auf die Schroeder von seiner Mutter keine Antworten erhalten hatte. Amnesia hat demnach auch einen testamentarischen Hintersinn: indem er an den Ort zurückkehrt, wo seine Mutter lebte und damit auch an den Ort, wo er 1969 mit More – mehr – immer mehr sein Filmdebüt gab, will Schroeder offenbar den Kreis seines Lebens künstlerisch schließen.
INW: Welche Ihrer brennendsten Fragen hat dieser Film für Sie beantwortet?
Statt einer Antwort verweist mich Barbet Schroeder an Marthe Keller, die Hauptdarstellerin seines Films. „Sie weiß mehr vom Leben und mehr zu diesem Thema als ich!“
Dieser Aufforderung komme ich gerne nach, gehört doch Marthe Keller zu den ganz großen internationalen Schauspielerinnen – nicht nur ihrer Generation. Ihre Filmkarriere begann in Frankreich, an der Seite von Yves Montan, und in Hollywood war sie Partnerin von Dustin Hoffman, Al Pacino und Marlon Brando. Immer wieder spielte sie auch Theater – wie die Buhlschaft im Jedermann neben Klaus Maria Brandauer bei den Salzburger Festspielen und am Broadway in Das Urteil von Nürnberg. Bei dem Amnesia-Interview in Cannes zeigt sie sich uneitel und ungeschminkt.
INW: Sie spielen – trotz aller fiktionalen Freiheiten des Films – die Mutter von Barbet Schroeder. Verstehen Sie ihre Entscheidung, nicht mehr Deutsch zu sprechen?
Marthe Keller: Ich verstehe sie, aber ich teile ihre Ansicht nicht. Ich habe mir immer gedacht: wenn diese Frau Jüdin gewesen wäre, hätte sie wahrscheinlich Deutsch gesprochen. Aber die Martha, die ich spiele, will sich nicht mit ihren Schuldgefühlen auseinandersetzen, die jeder und jede Deutsche dieser Generation haben sollte, weil sie nichts gegen die Nazi-Verbrechen getan haben.
INW: Sie sind Schweizerin. Glauben Sie, dass Sie die Auseinandersetzung von Deutschen und Österreichern mit der Kollektivschuld entsprechend beurteilen können?
Marthe Keller: Ich bin auch halbe Deutsche und die Geschichte von Barbet Schroeders Mutter ist auch die meines Vaters. Er ist in die Schweiz ausgewandert, als Hitler an die Macht kam. Er hat gespürt, da stimmt etwas nicht. Ich war stolz auf meinen Vater, bis ich dann als Kind zufällig ein Gespräch mitgehört habe. Ein Onkel, der in russischer Kriegsgefangenschaft war, sagte zu meinem Vater: du bist abgehauen und hast es dir damit einfach gemacht. Viel schwieriger war es zu bleiben und zu versuchen, kein Nazi zu sein. Eine ähnliche Szene kommt auch im Film vor.
INW: Was ist aus dem Stolz auf Ihren Vater geworden?
Marthe Keller: Er hatte einen Unfall mit Schädel-Hirn-Trauma und war ein paar Jahre halbseitig gelähmt. Ich habe ihn einmal zum Physio-Therapeuten gebracht und der hat gesagt: „Heben Sie den rechten Arm. Höher!“ Und mein Vater hat – wegen der starken Schmerzen – unter Tränen geantwortet: „Ich konnte schon früher den rechten Arm nicht hochheben. Deshalb bin ich auch aus Deutschland weggegangen.“ Das war das letzte, was ich von meinem Vater gehört habe – und da war ich auch wieder ein bisschen stolz.
INW: Wie Sie vielleicht aus ihrer Zeit als „Buhlschaft“ in Salzburg in den 1980er Jahren wissen, hat sich Österreich ja erst spät mit den dunklen Seiten der Vergangenheit auseinandergesetzt…
Marthe Keller: Die Schweiz war da auch nicht besser! Die haben gesagt „Das Boot ist voll!“ und keine jüdischen Flüchtlinge mehr aufgenommen. In der Schule war das kein Thema, wir haben nichts über diese Zeit gelernt. Von den Banken, die sich jüdisches Vermögen angeeignet haben, will ich da gar nicht erst reden.
INW:Wie wichtig ist es für Sie in Filmen wie Amnesia mitzuspielen?
Marthe Keller: Es gibt Leute, die sagen: jetzt reicht es. Wir haben genug über die Vergangenheit diskutiert. Aber mein Standpunkt ist: nie aufhören. Man muss die Erinnerung immer lebendig halten, weil es fängt wieder an. Nicht auf dieselbe Art, aber vielleicht noch schlimmer und deshalb müssen wir auf der Hut sein und den alten wie den neuen rechten Strömungen den Kampf ansagen.