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Antisemitismus-Studie

Die tiefreichenden Wurzeln des europäischen Antisemitismus, im Auftrag des Päsidenten des Nationalrates, organisiert von Eva Zeglovits und Thomas Stern, mit Beiträgen von Maximilian Gottschlich, Andreas Peham und Aurelius Freytag.

Mehr als 70 Jahre nach Auschwitz ist der Antisemitismus in Europa virulenter denn je. Die Juden Europas sind, so Maximilian Gottschlich, mit einer dreifachen antisemitischen Bedrohung konfrontiert: zum einen mit einem nicht überwundenen christlichen Antisemitismus; zum anderen mit einem sich radikalisierenden Antizionismus und Antiisraelismus von links bis rechts; und schließlich mit einem importierten gewaltbereiten, kulturell und religiös tief verwurzelten islamischen Judenhass. Diese unterschiedlichen Antisemitismen amalgamieren aus Sicht des Autors zu einer giftigen Mixtur antisemitischer Stereotype, Klischees und Weltverschwörungsfantasien. Ihr gemeinsames Schnittfeld ist der Hass auf den jüdischen Staat. Israel ist der kollektive Jude, der für alles Übel in der Welt verantwortlich gemacht wird. Der massiven Bedrohung der Juden Europas durch den islamischen Antijudaismus können die europäischen Gesellschaften nur wenig entgegensetzen, weil sie selbst an einer, wie Gottschlich es formuliert, anhaltenden antisemitischen Immunschwäche leiden.
Worin aber liegen die tiefergehenden, weithin verborgenen Ursachen für diese unerklärliche und unheimliche Persistenz des Antisemitismus? Um sich dieser komplexen Problemstellung anzunähern, greift der Autor auf ein Verständnis von Antisemitismus zurück, das bereits in den 1940er-Jahren von den Pionieren der Antisemitismusforschung – unter ihnen Ernst Simmel, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer – entwickelt wurde. Antisemitismus sei, so schlugen sie vor, als sozio-pathologisches Geschehen zu verstehen, als „soziale Krankheit“, der kollektiv-psychische und psycho-soziale Ursachen zugrunde liegen. Damit wird deutlich, warum dem destruktiven antisemitischen Vorurteil, der antijüdischen Obsession auf rationalem Wege allein nicht beizukommen ist. Der Antisemitismus entpuppt sich als weitgehend aufklärungsresistent.
Vor dem Hintergrund des Verständnisses von Antisemitismus als „sozialer Krankheit“ unterscheidet Gottschlich drei einander überlagernde und miteinander in Wechselwirkung stehende Wurzelstränge, aus denen sich auch der moderne Antisemitismus, also der „Antisemitismus nach Auschwitz“ speist. Zunächst setzt sich der Autor mit den religionspsychologischen Wurzeln des Antisemitismus auseinander. In ihnen vermittelt sich das Erbe eines zweitausend Jahre alten kirchlich-religiösen Antisemitismus. Gottschlich weist darauf hin, dass die kirchlich-religiöse Judenfeindschaft, die sich durch zwei Jahrtausende hindurch tief in die christliche Kollektivseele senkte, nicht deswegen schon verschwinden würde, nur weil der christliche Glaube in der säkularen Gesellschaft zunehmend erodiert. Auch ist es, so der Autor, dem katholischen Christentum nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil 1965 und dem offiziellen Bekenntnis der Kirche zum Judentum nicht gelungen, eine Religiosität zu entwickeln, die gegen Judenhass immunisieren hätte können. Warum ist gerade der christliche Antisemitismus so schwer zu überwinden? Mögliche Antworten auf diese Frage liegen für Gottschlich in Freuds psychoanalytischer Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus und seiner Analyse der verschütteten religionspsychologischen Motive des christlichen Antisemitismus.
Der zweite vom Autor in den Blick genommene Wurzelstrang hängt mit den psychopathologischen Mechanismen der Schuldabwehr zusammen. Zur Schuldabwehr, die sich als Schuldprojektion oder auch als Täter-Opfer-Umkehr manifestiert, kann es dann kommen, wenn ungelöste Konflikte zwischen Individuum und seinem sozialen Umfeld amalgamieren. Mit diesen ungelösten Konflikten geht auch irrationaler Hass einher, der danach drängt, nach außen, auf ein äußeres Objekt projiziert und legitimiert zu werden. Und dazu dienen seit alters her die Juden. Gottschlich stützt sich dabei auf die Überlegungen von Alice Miller, die darauf aufmerksam machte, dass der Judenhass zu allen Zeiten eine entwicklungspsychologische Ventilfunktion hatte: nämlich den im Menschen von Kindheit an aus verschiedenen Gründen aufgestauten oder aufgrund eines engen Tugendkonzepts nicht zugelassenen Hass abzuführen bzw. zu kanalisieren. Schuldabwehr durch Schuldprojektion oder Täter-Opfer-Umkehr ist eine psychische Entlastungsstrategie, die auch dem sekundären Antisemitismus, also dem Antisemitismus nicht trotz, sondern wegen Auschwitz zugrunde liegt. Gottschlich zeigt auf, wie diese psychische Entlastungsstrategie gerade auch im Zusammenhang mit dem modernen Antisemitismus funktioniert, der in Gestalt des – meist als „legitime“ Israelkritik getarnten – Antizionismus und Antiisraelismus auftritt, und welche Rolle dabei das Israel-Bashing spielt.
Als Drittes verweist Gottschlich auf die sozial-psychologischen Wurzeln des Antisemitismus, die besonders in den beiden Faktoren der imaginierten Bedrohung und der gesellschaftlichen Rivalitätskonflikte in Erscheinung treten. Beide Faktoren zählen seit alters her zum Kernbestand negativer Mythen über Juden. Die Geschichte zeigt, dass die Behauptung der Bedrohung stets dazu diente, den Vernichtungswillen gegenüber den Juden zu rechtfertigen. Das destruktive Vorurteil des Antisemiten operiert stets mit Bedrohungsbildern insbesondere in Zeiten ökonomischer und sozialer Unsicherheit. Krisenzeiten verschärfen auch das in der Gesellschaft tief verankerte rivalisierende Begehren: Der Antisemit sieht in den Juden diejenigen, die der Erfüllung seiner Wünsche entgegenstehen und die alles das haben, was er auch haben könnte, gäbe es die Juden nicht. Für diese schmerzvolle Erfahrung des eigenen Mangels, des als Scheitern erlebten Ungenügens, das mit Selbstabneigung und Selbsthass einhergehen kann, macht der Antisemit nicht sich selbst, sondern die Juden verantwortlich. Die Schuldprojektion dient dazu, das verlorene psychische Gleichgewicht – zumindest vordergründig – wiederherzustellen.
Gottschlichs Ausführungen machen deutlich, dass es anderer, grundlegenderer Antworten auf den Antisemitismus bedarf, als sie bisher gegeben wurden. Die Macht des destruktiven Vorurteils, des endemisch sich ausbreitenden Hasses in der Gesellschaft ist mit den Mitteln der Aufklärung allein nicht einzudämmen. Wenn Antisemitismus als „soziale Krankheit“ gesehen werden muss, als irrationales Phänomen des Hasses, dann kann – so das Plädoyer des Autors – die einzige nachhaltige therapeutische Antwort nur in einer neuen Kultur des Mitgefühls liegen.

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