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App rettet Leben

Ein Smartphone hätte Vincent van ­Goghs Leben vielleicht retten können. Sein Bruder Theo war am 22. Juli 1890 sehr besorgt: „Ich befürchte, irgend etwas beunruhigt Dich“, schrieb er an ­Vincent und riet ihm, einen Arzt aufzusuchen. In seinem Antwortbrief ging Vincent darauf nicht ein. Eine Woche später beging der Maler Selbstmord.

Eine neue israelische App soll ähnliche Fälle heute verhindern helfen. Das Startup-Unternehmen Lifegraph verwandelt Handys seelisch kranker Patienten in mobile Psychiater, die vor gefährlichen Verhaltensänderungen warnen: „Diese App stellt den Beginn einer Revolution in der Psychiatrie dar“, sagt Dr. Dror Dolfin, Berater von Lifegraph und Psychiater im Geha-Krankenhaus. 

Diese App ist nur eine technologische Neuerung von vielen, die ihren Ursprung im kleinen Staat am östlichen Mittelmeerrand haben. In keinem Land der Welt werden pro Kopf mehr Existenzgründungen verzeichnet als in Israel – mehr als 1.000 jedes Jahr. Die meisten sind High-Tech Unternehmen. Innovation und Wagemut werden hier groß geschrieben. 

Das Weltwirtschaftsforum platzierte ­Israel auf Platz drei in seinem aktuellen Ranking. In diesem Jahr haben neue Apps die Fantasie von Investoren und Experten besonders beflügelt. Eine davon ist Lifegraph des gleichnamigen Unternehmens. 

„In einem Berufsfeld, in dem Diagnosen auf subjektiven Eindrücken und Aussagen von Patienten beruhten, haben wir nun erstmals ein Instrument, das objektive Daten sammelt und analysiert“, sagt Dolfin. Es sei „fast wie ein Röntgenbild fürs Hirn“. Solch eine Erfindung war dringend nötig, denn trotz der Entwicklung neuer Medikamente ist die Rückfallquote in der Psychiatrie sehr hoch. Allein in den USA kostet die stationäre Behandlung 45 Milliarden US-Dollar im Jahr, doch mit 37 Prozent ist Rückfallquote der Patienten sehr hoch: „Patienten können ein bis zwei psychotische Episoden im Jahr erleiden“, weiss Keren Sela, Generaldirektorin von Lifegraph. Denn nach erfolgreicher Behandlung und Entlassung im stationären Bereich sei andauernde Beobachtung zu kostspielig und kompliziert. So sind psychiatrische Störungen laut der Weltgesundheitsorganisation eine gewaltige wirtschaftliche und gesellschaftliche Belastung – sie kosten mehr als die Behandlung von Krebs oder Herzkreislauferkrankungen. Zudem sind sie weltweit für 90 Prozent der Suizide verantwortlich. Genau hier setzt Lifegraph an. 

Dr. Uri Nevo, Dozent für Biomedizintechnik an der Universität in Tel Aviv, sagte sich vor drei Jahren: „Die meisten Menschen haben ein Smartphone und tragen es die ganze Zeit bei sich. Darin befinden sich zehn verschiedene Sensoren. Ich fragte mich: Warum nutzen wir es eigentlich nicht, um Verhaltensmuster zu beobachten? Schließlich ist Psychiatrie eigentlich nur eine Analyse von Verhaltensmustern.“ Also erfand er mit Keren Sela und einem weiteren ehemaligen Studenten den ersten passiven Verhaltensmonitor. 

Mit Zustimmung des Patienten einmal installiert, bemerkt die App alles rund ums Smartphone: Wie oft und wie lang man telefoniert, ob man Gespräche abweist, wie viel man spricht und in welcher Lautstärke, wie viele SMS und Emails man schreibt, ob und wie oft man sein Haus verlässt, das Licht im Zimmer mitten in der Nacht aufdreht. Innerhalb weniger Wochen ermittelt das System die „individuelle Verhaltensnorm jedes einzelnen Patienten“, sagt Dolfin. „Wenn diese Basislinie etabliert ist, gibt die App Bescheid, wenn etwas beginnt, schief zu laufen.“ 

Seit Jahren wissen Psychiater, dass Depressionen oder manische Anfälle, z.B. durch bipolare Störungen, sich langsam anbahnen. Betroffene merken das nicht, oft auch nicht ihre Ärzte. Die App Lifegraph bemerkt Veränderungen früh, weil das Smartphone zum integralen Bestandteil des modernen Alltags geworden ist: „Depressive Patienten beantworten weniger Anrufe, initiieren selber weniger Kontakte, verlassen ihr Haus weniger“, erklärt Nevo. Manische Patienten hingegen blieben länger wach, sprächen lauter und mehr, schickten unzählig lange SMS am Tag. Das ist ein Anlass, Verwandte und Ärzte zu alarmieren. 

So erhalten Forscher und Therapeuten erstmals einen objektiven Einblick in das Alltagsverhalten von Patienten: „Das eröffnet völlig neue Perspektiven für Forschung und Behandlung“, sagt Dolfin. In ersten, retrospektiven klinischen Studien konnte die App Rückfälle einen Monat vor Einweisung der Patienten feststellen. „In Zukunft könnten wir rechtzeitig intervenieren und Anfälle verhindern“, sagt Dolfin. Oftmals genüge es, Schlafmangel durch das Verschreiben einer Schlafpille zu beheben, um Schlimmerem vorzubeugen.

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