Inhalt

„Arabischer Frühling”

Dr. Esther Webman ist Senior Research

Fellow am Dayan Zentrum für Nahost- und Afrikastudien und am Stephen Roth Institute für die Erforschung von Antisemitismus

und Rassismus an der Universität Tel Aviv.

Sie ist Lehrstuhlinhaberin des Zeev Vered Desk für das Studium der Toleranz und Intoleranz.

Ihre Forschungsarbeit ist fokussiert auf arabische Diskursanalyse, moderne islamische

Bewegungen, muslimisch-jüdisches Verhältnis inklusive arabischer Antisemitismus und

arabische Wahrnehmung des Holocausts.

Sie ist Herausgeberin des „The Global Impact of a Myth – The Protocols of

the Elders of Zion” (2011). Ihr Buch (Mitautor Meir Litvak) „From Empathy to Denial: Arab Responses to the Holocaust” erhielt den Nahostbuchpreis des Washington Institute for Near East policy 2010.

 

INW: In Europa gab es nicht nur in den Medien Jubel und die Illusion, die Volksbewegungen würden in der arabischen Welt die Demokratie einführen. In Israel war man, wie sich inzwischen herausstellte, mit Recht pessimistisch, wofür es auch von denen in Europa gescholten wurde, die ihre Wünsche mit der Wirklichkeit verwechselten. Was denken Sie darüber?

E.W.: Am Beginn gab es vielleicht eine kleine Chance für Optimismus, denn die Medien zeigten junge Menschen, die sich eine Änderung des Regimes wünschten, eine offene Gesellschaft, mehr Redefreiheit und was das Wichtigste war, eine Verbesserung des Lebensstandards, weil die wirtschaftliche Situation in den meisten arabischen Ländern sehr schlecht ist. Insbesondere im größten arabischen Land, in Ägypten gibt es schon Generationen von Arbeitslosen. Die Beschäftigung und die tagtägliche Existenz sind, neben dem sehr schnellen Bevölkerungswachstum, die wichtigsten Probleme Ägyptens. Das Regime war nicht fähig, dieses Problem der Demographie zu lösen.

Unter den Massen, die auf die Straße gingen, gab es eine verschwindend kleine Anzahl von Menschen, die wirklich Demokratie wünschten. In Ägypten und in Tunesien kamen Islamisten zur Macht, von denen behauptet wird, sie hätten den „arabischen Frühling“ entführt, was natürlich unzutreffend ist. Ägypten ist gespalten, einerseits die Islamisten, d.h. die Moslembrüder (MB) und die Salafisten, andererseits diejenigen, die ich nicht laizistisch, demokratisch oder liberal nenne, die aber eine andere Denkungsart haben. In einem Vortrag, den ich vor eineinhalb Jahren über den „arabischen Frühling“ hielt, sagte ich, die Revolution wurde nicht entführt, denn die Moslembrüder waren ständig im Volk tätig und das war auch die Ursache, warum die Mehrheit für sie stimmte. Nicht alle waren Moslembrüder oder Salafisten. Die meisten wählten die MB weil sie eine Änderung haben wollten und weil die MB die einzig gut organisierte Gruppe war, die ihnen eine Chance für Änderung bot. Doch die MB haben anstatt alle Kräfte, die an der Revolution teilgenommen haben, zu kooptieren, versucht ihre Macht zu stabilisieren, indem sie ihre Leute in die wichtigen Positionen setzten und ihre Anschauungen – ich sage nicht ihr Programm – der Gesellschaft aufzwangen, denn obwohl sie seit geraumer Zeit die Regierung stürzen wollten, hatten sie kein Programm.

INW: Ihr Programm heißt zwar „Islam ist die Lösung“, sie konnten oder wollten aber die Korruption und den Nepotismus nicht ändern…

E.W.: Sie haben es gar nicht versucht. Anstatt dessen haben sie ihre eigenen Leute in die Positionen gesetzt, was ja eine andere Art von Korruption ist. Wenn sie mit anderen Kräften, die es in Ägypten gibt, kooperiert hätten, dann hätten sie Änderungen herbeiführen können. Doch statt dessen zwangen sie ihre Anschauungen den Anderen auf.

INW: Das geschah auch in Tunesien…

E.W.: Ja, das stimmt, doch wir hören viel weniger Berichte über Tunesien, wo es die gleichen Probleme gibt wie in Ägypten.

INW: Dort gibt es aber dank dem langjährigen französischen Einfluss mehr Laizisten.

E.W.: Ja, die gibt es, aber es gibt auch eine Reaktion und der Laizismus wurde vom vorherigen autoritären Regime erzwungen. Es gibt aber auch eine laizistische Schicht der Gesellschaft. Jedes Land, das durch den „arabischen Frühling“ ging ist verschieden von den anderen. Libyen wieder ist ein ganz anderer Fall.

INW: Doch da gibt es auch viele Gemeinsamkeiten, es gibt keine Demokratie und die Herrscher sind in den rohstoffarmen arabischen Ländern gar nicht interessiert, den Lebensstandard der Bevölkerung zu heben, denn wenn die Menschen arm sind, wenn die Beschäftigten mit einem Job nicht ihr Auskommen finden, dann haben sie keine Lust, das System zu ändern.

E.W.: Stimmt, doch es wurde klar, dass dieses Regime nicht fähig sind, das zu ändern. Aber…

INW: es gibt in der arabischen Welt mit Ausnahme der erdölreichen Golfstaaten kein Land, das aus diesem teuflischen Kreis herauskommt…

E.W.: Sie hätten zum Beispiel eine Industrie aufbauen können… Sadat und Mubarak haben versucht, Investitionen aus dem Ausland zu erhalten und das war im Vergleich zum „arabischen Sozialismus“ eines Nasser ein Fortschritt, denn dieser führte fast zum Zusammenbruch der Wirtschaft.

INW: Zuerst gab es den arabischen Nationalismus, dann den arabischen Sozialismus, dann kam der Islamismus, der die Lösung bringen sollte, die Sowjetunion brach zusammen und es gab keine billigen Waffen mehr und jetzt sehen wir, wie in Syrien der arabische Nationalismus gescheitert ist. Sehen Sie da einen Grund zum Optimismus?

E.W.: Ich sehe im Moment keinen Ausweg und bin nicht optimistisch. Aber und das aber muss betont werden, es könnte einen geben, wenn es ihnen gelingt aus diesen Konflikten herauszukommen in all den erwähnten Ländern, die meisten von ihnen sind künstliche Länder.

INW:Irak und Syrien.

E.W.: Ja, Irak ist de facto dreigeteilt. Es ist weder im Irak noch in Syrien gelungen einen Zusammenhalt aller ethnischen und religiösen Gruppen zu erreichen. Sowohl im Saddam- als auch im Assad-Regime konnte durch Terror und Indoktrination der Schein einer Einigkeit erweckt werden. Im Irak waren die Sunniten, in Syrien die Alewiten bevorzugt.Nun ist die Situation derartig chaotisch, dass niemand voraussagen kann, was noch passieren wird.

INW: Früher wurde in den Medien nur das gebracht, was dem jeweiligen Regime Recht war. Die Massen wurden bzw. werden mit Antiamerikanismus, Antiisraelismus und mit arabischen Nationalismus bzw. Islamismus berieselt. Hat das Erscheinen von Al Jazeera daran was geändert?

E.W.: Al Jazeera hat die Art des Berichtens geändert, sie sind auf die Straße gegangen und haben Teile der Realität berichtet, was bei uns alltäglich ist, in Ägypten und Tunesien, wo Islamisten laizistische Politiker ermordeten, aber neu war. Die lassen sogar Israelis zu Wort kommen. Allerdings ist Al Jazeera voreingenommen…

INW: Kein Wunder, gehört es doch Qatar, dem Hauptfinanzier der Moslembrüderschaft…

E.W.: Stimmt. Nach der zweiten Revolution wurde Al Jazeera aus Ägypten herausgeschmissen.Wichtiger für den „arabischen Frühling“ waren noch die sozialen Medien, die Computer- und Handybesitzer auf die Straße brachten. Viele machten Bilder und posteten diese auf Youtube. Übrigens wächst die Anzahl derer, die in den arabischen Ländern ins Internet gehen im schnellen Tempo.

INW: Hat sich das Verhalten der arabischen Medien zu Juden und Israel seit dem „arabischen Frühling“ geändert?

E.W.: Ich sehe keine wesentliche Änderung, insbesondere weil es viele islamistische TV Stationen gibt, diese verbreiten Verschwörungstheorien und Programme über die erwünschte Niederlage der Juden, sie sind wirklich übel. Die anderen TV Stationen halten sich mehr zurück und es gibt weniger Artikel über oder gegen Israel in den arabischen Zeitungen. Sie beschäftigen sich mehr mit ihren eigenen Problemen. Es gibt manchmal auch die üblichen Beschuldigungen gegen Juden und Israel, das von den einen beschuldigt wird, hinter dem General Sisi zu stehen und von anderen, die ­Moslembrüder zu unterstützen.

INW: Da gab es doch auch eine „Erklärung“ für die Niederlagen der ägyptischen Armee, ihre Offiziere und insbesondere Sisi stammen von konvertierten Juden ab. Das ist zwar verrückt, hat aber System.

E.W.: Auf einem sozialen Medium in Ägypten erschien ein Plakat, das Hitler und Sisi nebeneinander zeigt. Darunter folgender Text: „Was ist der Unterschied zwischen Hitler und Sisi? Hitler tötete die Juden, um seinem Volk zu helfen, Sisi tötet sein Volk, um den Juden zu helfen.“

Wie Sie richtig bemerkt haben, erwartete man am Beginn des „arabischen Frühlings“ im Westen eine Entwicklung zur Demokratie und ich hoffte auch darauf, doch sehr bald kamen die Islamisten zur Macht und ich musste einsehen, mich getäuscht zu haben. Doch gab es auch positive Zeichen, junge Menschen, die erklärten im TV Frieden haben zu wollen und keinen Konflikt zu wünschen. Gestern hörte ich eine Wissenschaftlerin, die die Medien in der PA und im Libanon beobachtet,dass unterden weltoffenen Palästinensern und Libanesen die Stimmung herrscht, genug vom Konflikt zu haben.

INW: Das lässt hoffen. Danke für das Gespräch.    

Kontextspalte