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ARTE ALTA – Venezianischer Kunstmarathon

Vor 120 Jahren eröffnete die erste Biennale di Venezia – bereits damals ein Publikumsrenner, lockt sie bis heute Scharen von Kunstinteressierten in die Lagunenstadt. 29 ­Länderpavillons präsentieren bis 22. November Kunst in den Giardini, während sich die anderen 60 nationalen Repräsentationen im Arsenale drängen bzw. über die ganze Stadt verteilen. Künstlerischer Leiter ist heuer der gebürtige Nigerianer Okwui Enwezor, der 136 KünstlerInnen einlud, „All the World‘s Futures” im Zentralpavillon in den Giardini und im Arsenale zu bespielen.

Enwezor wollte eine politische Biennale gestalten, in der es um die Beziehung zwischen KünstlerInnen und den Problemen unserer Zeit geht: Die Welt befindet sich durch Kriege, Flüchtlingsströme, wirtschaftliche sowie soziale Veränderungen und durch die Zerstörung der Natur im Umbruch. „Die Wahl der Ästhetik ist immer auch eine politische Wahl“, so der künstlerische Leiter. Er setzte drei „Filter“ ein, die einander überlagern sollten: „Liveness: On Epik Duration”, „Garden of Disorder” und „Capital: A Live Reading”. Karl Marx ist auf jeden Fall unüberseh- bzw. unüberhörbar, denn es wird in der von Regisseur Isaac Julien gestalteten Arena für das Marx-Oratorium in Englisch aus dieser Kritik der politischen Ökonomie vorgelesen, unterbrochen von Musikstücken. Weiters bezieht sich der Ausstellungsmacher auf das vor fast hundert Jahren gemalte Bild „Angelus Novus” von Paul Klee, das durch Walter Benjamins Interpretation Berühmtheit erlangte. „All the World‘s Futures” wird durch eine Überfülle an Kunstwerken unterschiedlichster Art und Qualität interpretiert. Den Eingangsbereich im Hauptpavillon in den Giardini behängte Oscar Murillo mit zwanzig dunklen, schweren Fahnen, darüber leuchtet in Neonschrift „blues blood bruise” von Glenn Ligon.

Diese Schau im Inneren beginnt mit Arbeiten des 2009 verstorbenen Künstlers Fabio Mauri, der u. a. eine Wand aus historischen Koffern und Kisten gebaut hat, was sehr aktuell wirkt, angesichts des 70. Jahrestages des Kriegsendes und der Vertreibung vieler Menschen durch den Nationalsozialismus bzw. der Flüchtlingsströme heutzutage. In der Schau ist auch die in Berlin lebende amerikanische Konzeptkünstlerin Adrian Piper mit Tafeln vertreten, die immer wieder mit dem Satz „Everything will be taken away” beschrieben wurden. Sie bekam als beste Künstlerin in dieser Ausstellung den Goldenen Löwen verliehen. An den Stirnseiten dieses Raumes wurden Installationen von Mauri angebracht, mit einer übergroßen Abbildung von Joseph Goebbels Besuch der Ausstellung Entartete Kunst.

Politisch brisant war schon im Vorfeld die Präsentation des armenischen Pavillons, eine Ausstellung mit dem Titel „Armenity/Haiyutioun. Contemporary artists from the Armenian Diaspora” durch Kuratorin Adelina Cüberyan von Fürstenberg. Der Beitrag gedenkt auf der Insel San Lazzaro degli Armeni an den Genozid an den Armeniern vor 100 Jahren. Beim ersten Treffen der OrganisatorInnen der Länderpavillons wurde das Konzept vorgestellt und der türkische Generalkonsul verurteilte die falschen Behauptungen bezüglich des Völkermordes. Während er den Genozid verleugnete, räumte er ein, dass die Türkei die Geschichte der Armenier im Osmanischen Reich 1915 nicht ignorieren könne. Signifikanter Weise vertritt der in Paris lebende Künstler Sarkis, der in der armenischen Diaspora-Ausstellung vertreten ist, gleichzeitig die Türkei und verwandelt diesen Raum in einen sakralen Ort mit regenbogenfarbigen Altären und bunten Glasfenstern. Eines zeigt den 2009 auf der Straße erschossenen türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink, ein anderes die Aufnahme einer Frau im roten Kleid, die bei Protesten im Gezi-Park von Sicherheitskräften mit Pfefferspray attackiert wurde. Die Insel San Lazzaro, einen Steinwurf vom Lido entfernt, bewohnen seit 1717 Mönche des Mechitaristenordens. Rund 100 Jahre später ruderte Lord Byron zur Insel, um die armenische Sprache zu lernen. Seit dem Jahr 2000 befinden sich in einem Holzaltar die Überreste einiger Opfer des Völkermordes. In den Räumen führt die zeitgenössische Kunst einen spannenden Dialog mit Exponaten des Klosters, die KünstlerInnen haben in die historische Umgebung Fotografien, Skulpturen, Zeichnungen und Videoarbeiten integriert. Armenien erhielt dafür den Goldenen Löwen für den besten Länderbeitrag.

Von tanzenden Bäumen und leeren Wänden

In den Gärten der Kunst begrüßen monumentale imperiale Denkmäler die Kunstinteressenten. Das Raqs Media Collective aus Indien setzt sich mit der Kolonialzeit auseinander und zeigt insgesamt neun Skulpturen aus Glasfaser auf Sockeln. Sie replizierten Monumente britischer Könige und Generalgouverneure von Indien, die im Coronation Park in Neu Dehli stehen, nur fehlen immer mehr Körperteile, bis nur mehr die Füße ab dem Knie bzw. ein leerer Sockel ausgestellt sind. Sie verweisen durch ihre Anordnung auf den britischen Pavillon, wo ein riesiger gelber Phallus der Künstlerin Sarah Lucas die BesucherInnen empfängt, drinnen werden in Gips gegossene weibliche Unterkörper, in deren Öffnungen Zigaretten stecken, gezeigt.

Den israelischen Pavillon verwandelte Tsibi Geva, der das Gebäude mit Autoreifen wie einen Schutzpanzer ummantelte, die zuvor über die Straßen Israels rollten. Diese verweisen schon auf den prägnanten Titel der Ausstellung: „Archeology of the Present”. Wie ein Archäologe sammelt der Künstler Gegenstände des Alltags und archiviert diese. „Ich will gerade die banalen Aspekte des Alltags in Israel für die kollektive Erinnerung bewahren”, so Geva. Diese Ansammlungen von Fernsehgeräten, Matratzen, Leitern, Küchengeräten, Türen, Fenstern, Plastikhockern oder einem Fahrrad sind hinter Glas oder hinter Metallgittern zu Kunstwerken zusammengefasst. Zwei Pavillonwände hat der Künstler mit in Israel weit verbreiteten Alu- und Plastikfenstern, die nach seinen Vorgaben gefertigt wurden, gestaltet. Die BetrachterInnen stehen vor Wänden mit geschossenen Fenstern, ein dichter Außenblick im Inneren, welcher die zwei Ebenen des Pavillons zusammenfasst. In diese monumentalen Rauminstallationen hat Geva auch Bilder eingefügt, wild und kraftvoll gemalt, die zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit schwanken. In ihnen tauchen auch immer wieder Strukturen der Objekte, wie Gitter auf.

Vor und im französischen Pavillon tanzen die Bäume von Céleste Boursier-Mougenot. Während die drei Pinien samt Wurzelballen durch die Gegend kriechen, erklingen im zentralen Raum Töne, die den Elektrolyten des Baumsaftes entnommen wurden. Der österreichische Beitrag lässt Josef Hoffmanns und Robert Kramreiters Pavillon von 1934 verschwinden. Nein, kein Zaubertrick, denn Heimo Zobernig veränderte die Architektur mit architektonischen Mitteln und verwandelte somit den historischen Bau in einen Ludwig Mies van der Rohe-Pavillon. Er hat mit Monolith den Boden angehoben, die Decke abgesenkt und langgezogene weiße Bänke aufgestellt. Das Gebäude öffnet sich rückwärts in den seit der Architekturbiennale bepflanzten Garten. Geplant wäre eine Skulptur gewesen, was noch mehr den Eindruck z. B. eines Barcelona-Pavillons von Mies van der Rohe vermittelt hätte – Zobernig blieb aber bei den architektonischen Veränderungen.

Im ägyptischen Pavillon darf mit der Kunst gespielt werden. Große Kunstrasenflecke bilden kaum wahrnehmbar das Wort PEACE. Darauf montiert sind Tablets mit + und – Zeichen. Wird + gedrückt, erscheinen Schmetterlinge oder Hasen, bei – laufen z. B. Spinnen über den Rasen.

Sehr beeindruckend ist die Schau der Serben, in der Ivan Grubanov unter dem Titel „United Dead Nations” schmutzige Flaggenhaufen auf den Boden warf. Während der 120 Jahre der Biennale haben sich diverse Länder verändert, deren Namen als weiße Buchstabenreliefs auf der weißen Wand präsentiert werden, wie Österreich-Ungarn, Deutschland, Tschechoslowakei oder Jugoslawien.

Von Selbstrepräsentation zu „der andere Pollock”

Auch im Umfeld der Biennale werden spannende Ausstellungen präsentiert. Der aus Vietnam stammende Künstler Danh Vo, der heuer Dänemark vertritt, hat mit „The Slip of the Tongue” eine große Ausstellung in der Punta della Dogana kuratiert. Er hat sich selbst mit über 20 Werken mit Arbeiten anderer KünstlerInnen, wie Giovanni Bellini, Auguste Rodin, Constantin Brancusi oder Zoe Leonard, gemessen. Sehr spannend der Raum mit Nancy Speros Auseinandersetzung mit Artaud bzw. ihr fast 50 Meter langes Werk „Cri du Cœur”, in dem sie mit der Darstellung einer langen, dichten Prozession altägyptischer Klageweiber den Verlust ihres Gefährten verarbeitete. 

Ein Highlight ist die Arbeit „Crowd and Individual” der Polin Magdalena Abakanowicz auf der Insel San Giorgio Maggiore. Die BetrachterInnen können sich unter ein Heer von teilweise kopflosen, aus Sackleinen und Harz geformten Skulpturen mischen. Diese werden von einem vierbeinigen Mutanten bewacht.

Zusätzliche unter dem Löwen der Biennale gezeigte Ausstellungen, wie Jenny Holzers „War Paintings im Museo Corner” am Markusplatz, João ­Louros „I‘ll Be Your Mirror” oder Patricia Cronins „Shrine for Girls” sind sehenswert. Cronin hat in einer Kirche drei Altäre mit Kleiderhaufen belegt: einen mit Uniformen zur Erinnerung an Frauen im Magdalenenheim, den Zweiten mit Saris zur Erinnerung an die vergewaltigten und erhängten Mädchen in Indien und der Dritte mit Hijabs zum Gedenken an die 276 Schulkinder, die von Boko Haram in Nigeria entführt wurden.

Das Museo Correr zeigt auch eine sehr interessante Ausstellung mit Gemälden und Fotografien aus der Weimarer Republik. Unter dem Titel „Nova Oggettività” sind Klassiker der Neuen Sachlichkeit mit Werken von Otto Dix, George Grosz, ­Christian Schad, August Sander oder Max ­Beckmann zu sehen. Die Gallerie dell’Accademia setzt mit Mario Merz auf Arte Povera. Auf Wunsch führt das Aufsichtspersonal versiert durch die Schau.

Das Peggy ­Guggenheim Museum ist immer eine gute Adresse für bemerkenswerte Ausstellungen. Heuer punktet es mit einer Werkschau von Charles Pollock, dem weniger wilden Bruder von ­Guggenheim-Liebling Jackson Pollock. Auch er lernte bei Thomas Hart Benton und gelangte ebenfalls zur Abstraktion, aber mit voneinander abgegrenzten Farbflächen und klarer Linienführung. Am Ende dieser Ausstellung stehen Farbtöpfe mit Pinseln von Jackson Pollock und führen zu einer spannenden Videodokumentation über die Restauration von „Alchemie” sowie dem Bild in 3-D und dem geröngten Werk. Im Gebäude gegenüber ist das Original ausgestellt sowie das 6 Meter lange Bild „Moral” aus Guggenheims New Yorker Wohnung. Neben diesen Dimensionen geht fast ein Werk seiner Frau Lee Krasner unter, die sich diesen Raum auch mit David Smith und Robert ­Motherwell teilt.

Trotz, oder gerade wegen der Kunstüberschwemmung ist Venedig immer wieder eine Reise wert.

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