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Aufgewachsen zwischen Schweigen und Erinnern

Bestandsaufnahme mit Vertretern der „Zweiten Generation”

Vor mir liegt ein wichtiges Buch. Das ist offensichtlich. Denn schon das Buchcover verrät die Namen vieler prominenter Beiträger: Andreas Nachama, Publizist, Gelehrter, Rabbiner, vier Jahre Vorstandsvorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und seit 1994 Direktor der Stiftung Topographie des Terrors; Andrew Ranicki, Mathematik-Koryphäe, einziges Kind von Marcel und Teofila Reich-Ranicki; Marcel Reif, ZDF-Korrespondent und langjähriges As des Sport-Kommentars bei ZDF, RTL und zuletzt Sky; Ilja Richter, der langjährige Disco-Showmaster, Sketchautor und Schauspieler Ilja Richter; Nina Ruge, die vielseitige Fernsehmoderatorin, Publizistin und UNICEF-Botschafterin; Rachel Salamander, Gründerin der ersten, auf Bücher zum Judentum spezialisierten Literaturhandlung in München mit Dependancen in den Jüdischen Museen in Berlin und Fürth bis hin zum Besucherzentrum der KZ-Gedenkstätte Dachau; Josef Schuster, der Internist und der seit 1998 die Geschicke der Jüdischen Gemeinde Würzburg und die des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinde in Bayern leitet, sowie seit 2014 die des Zentralrats. 

Insgesamt achtzehn Interviews führte die Autorin Andrea von Treuenfeld, die als Korrespondentin und leitende Redakteurin u. a. für Die Welt am Sonntag arbeitete. Als freie Publizistin veröffentlichte sie u. a. 2015 Zurück in das Land, das uns töten wollte: Jüdische Remigrantinnen erzählen. 

Zwölf ihrer Gesprächspartner für ihren jüngsten Sammelband Erben des Holocaust. Leben zwischen Schweigen und Erinnerung sind männlich, sechs weiblich. Sie sind Juden nach der Halacha, also oft mit zwei jüdischen Eltern bzw. – allein entscheidend – jüdischer Mutter oder Vaterjuden. Sie sind gläubig, traditionell, auf die eine oder andere Weise ihrer Herkunft verpflichtet und engagiert oder zumindest durch sie geprägt, atheistisch oder getauft oder eine wilde Mischung von vielem. Sie leben heute in der Schweiz, in Israel, in Österreich und Deutschland. Geboren wurden sie zwischen 1944 und 1969 in New York, Haifa, Berlin und die jüngste Befragte, Ruth Brauer-Kvam, in Wien. Der älteste der Zeitzeugen, Jakob Hessing, kam in einem Versteck in Lyssowce/Oberschlesien zur Welt, was ihm mangels adäquater Versorgung der gebärenden Mutter eine lebenslange halbseitige Lähmung bescherte.

Einige haben berühmte Väter wie Arik Brauer, Georg Kreisler, Hans Rosenthal oder Marcel Reich-Ranicki. Ob aus wohl situierten oder einfachen Verhältnissen stammend: Alle haben es zu etwas gebracht, als Künstler, Juristen, Ärzte, Natur- und Geisteswissenschaftler, in der Medienbrache oder auch der Publizistik. Egal wie viel ihre Familien vor dem Krieg besessen hatten oder auch nicht – der Aufbau nach dem Untergang wurde in all ihren Familien, basierend auf Bildung und Selbstdisziplin, gemeistert. Den Kindern die bestmögliche Ausbildung zu verschaffen oder sie zumindest dazu anzuspornen, wenn es an den Mitteln fehlte, hatte oberste Priorität.

Wie sehr erinnert mich dieser mehrfach geäußerte Gedanke an einen Ausspruch meines Vater: „Alles kann man verlieren. Nur, was man im Kopf hat, kann einem niemand nehmen.“ 

Wie unterschiedlich ihre jeweiligen Herkunftsgeschichten und individuellen Lebensentwürfe sein mögen, eines ist ihnen gemeinsam: Wenn es nach dem Willen der Nationalsozialisten gegangen wäre, hätten es ihre Väter und/oder Mütter nicht gegeben, sie wären nie geboren worden, die jüdische Herkunft bzw. das Jüdischsein hätte für ihre Persönlichkeitsentwicklung keine Bedeutung.

Kehren wir zum Buchcover zurück. Das Gütersloher Verlagshaus wählte als Titelbild ein ikonographisch mächtiges Motiv: das Bahngleis an der Rampe von Auschwitz mit dem Eingangstor im Hintergrund. Ist die Judenvernichtung, die Shoah, die sich in diesem Bild gewissermaßen bündelt, lebensprägend für die Befragten geworden? Die Antworten auf diese Frage sind so vielfältig wie die erstaunlich auskunftsbereiten Befragten. Wieso erstaunlich? Weil viele unter ihnen mit dem Schweigen ihrer Eltern aufwuchsen (Marcel Reif und Nina Ruge), nichts von den traumatischen Erlebnissen während der NS-Zeit erfuhren, oder erst auf Nachfrage etwas detaillierter (Martin Moszkowicz und Robert Schindel). 

Ob es für die Eltern zu schmerzlich war, sie nur fähig waren weiter zu machen nach 1945, indem sie verdrängten oder ihren Kindern den unendlichen Kummer ersparen wollten, der sie spätestens in ihren Alpträumen heimsuchte, oder ob sie eine tiefere Auseinandersetzung über ihre Memoiren suchten und damit ihren Kindern ein späteres Verständnis eröffneten (Doron Rabinovici und Andrew Ranicki) – die Folgen sind nachhaltig und prägend. Nicht von ungefähr setzt sich eine neue Richtung in der Forschung, die Epigenetik, mit dem Phänomen der Vererbung von Erfahrungen auseinander. 

Man möchte sich nicht ausmalen, was die Verfolgungserfahrung einer Minderheit über Generationen, ja über Jahrhunderte und Jahrtausende, für die Nachgeborenen bedeuten mag. Ganz abgesehen von den Erzählungen, die über die Feiertage, Gebote und rabbinischen Kommentare bis in unsere Zeit nachwirken. Hinzu kommen nun mittels neuer Medien und der intensiven Forschung in Ost und West, Zeitzeugenberichte, Dokumentationen und die Erkenntnisse über den millionenfachen Massenmord an den europäischen Juden. 

Daraus erklärt sich vielleicht der gewaltige Buchtitel Erben des Holocaust. Leben zwischen Schweigen und Erinnerung. Das Schweigen wird beredt thematisiert. Und die Erinnerung? Der amerikanische Schriftsteller Jonathan Safran Foer meint: „Die Juden haben sechs Sinne – der sechste ist die Erinnerung.“ 

Das ist nicht nur schön formuliert, sondern absolut zutreffend, wenn man die ganze jüdische Geschichte von biblischen Zeiten bis heute betrachtet. Und trotzdem würde man sich den Titel eine Nummer weniger pathetisch wünschen. Denn „Erben des Holocaust“ wollen die Interviewten gewiss nicht sein. Nicht bloß, weil keiner seine Existenz aus dem Leid der Eltern ableitet. Alle sind weit davon entfernt, „eingebildete Juden“ zu sein, vor denen der französische Denker Alain Finkelkraut schon Anfang der 1980er warnte. Ebenso wenig taugen sie zu „Wächtern der Erinnerung“, eine Position, deren Einnahme der Historiker Dan Diner zu Recht missbilligt, weil sich damit die Mehrheitsgesellschaft um ihre Verantwortung drückt. Lieber und gewiss gesünder für die Seele richten sie sich – sehr unterschiedlich – im realen Leben ein: Marcel Reif ist seinem Vater im Nachhinein „für dieses Schweigen sehr dankbar“. Doron Rabinovici ist dank der Überlebensgeschichte seiner Mutter und der Entwicklung in Österreich „politisch engagiert“. Sandra Kreisler bedeutet „Judentum eine Volkszugehörigkeit“, ihr bleibe angesichts der „glatten Lügen über Israel“ nichts übrig, als „weiter gegen diesen Antisemitismus und Antizionismus“ zu arbeiten. Gert Rosenthal weiß: „Mein Vater hatte sich ausgesöhnt mit der Geschichte (…). Das Publikum mochte ihn, und er liebte das Publikum“. Um diese Illusion aufrechtzuerhalten, leerte Hans Rosenthal kurz vor seinem Tod einen Ordner mit der Bezeichnung „Antisemitische Schreiben“ fast vollständig. 

Also spuken in den Gewölben der Elternhäuser die Gespenster der Vergangenheit noch immer und nicht alle Eingänge sind zugemauert, um sie in Schach zu halten. Solange das so ist, kann man aus Textsammlungen wie dieser Wertvolles erfahren und lernen. 

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