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Brasilien - Gastland in Frankfurt

Zur Zeit ist Brasilien mit Schlagzeilen in den Medien, die nicht so recht passen zu einem Land, das 2016 Austragungsort Olympischer Spiele, 2014 der Fußballweltmeisterschaften sein wird und 2013 zum zweiten Mal – nach 1994 – Gastland der Frankfurter Buchmesse war. Während Zeitungsartikel noch nicht vergilbt sind, in denen von der „Verwandlung Brasiliens vom Krisenstaat zum Wirtschaftswunderland“ dank „Währungsreform und Haushaltsdisziplin“ die Rede ist, überschatten seit Juni 2013 immer wieder Begriffe wie „Unruhen“ und „Verelendung“ die strahlenden Schlagzeilen.

 

Aus jüdischer Sicht galt Brasilien – mit über 190 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichstes Land Südamerikas – als Emigrationsland. Die Angaben, wie viele Juden dort leben, schwanken. Der angenommene Höchstwert von 200.000 jüdischen Einwohnern bedeutet jedenfalls die größte jüdische Gemeinschaft auf diesem Subkontinent. Die meisten davon leben in der mit über 20 Millionen Einwohnern bevölkerungsstärksten Stadt São Paulo. Bekannter bei uns ist Rio de ­Janeiro wegen des Karnevals, ziemlich unbekannt ist die in den 1960er Jahren entstandene Hauptstadt Brasilia.

1941 schloss Stefan Zweig seine Hommage an Brasilien. Ein Land der Zukunft ab, 1942 nahm er sich dort in Petropolis das Leben. Zwischen seinem ersten Besuch 1936 und seinem Suizid war ihm Die Welt von gestern – so der Titel seiner Autobiographie – abhanden gekommen, genauer der Vernichtung Preis gegeben. Wie hoffnungsvoll hatte er seine erste Begegnung mit dem Land festgehalten, als er sich von Rio nach São Paulo aufmachte: „zum ersten Mal begann ich die unfassbare Größe dieses Landes zu ahnen …(mit) einem unermesslichen, noch kaum zum tausendsten Teil ausgenützten Reichtum unter dieser üppigen und unberührten Erde. Ein Land in rapider und trotz aller werkenden, bauenden, schaffenden, organisierenden Tätigkeit erst beginnender Entwicklung“. Heute weiß man, dass diese Eloge nur zum Teil seinem Herzen entsprang, sie soll der Preis einer Vereinbarung gewesen sein, ohne die der auch in Brasilien namhafte Autor für sich und seine zweite Frau keine Aufenthaltserlaubnis bekommen hätte. Visa-Anträge wurden abgewiesen, berühmt ist die Auslieferung der kommunistischen Aktivistin Olga Benario zwecks Deportation nach Deutschland, die einem Todesurteil gleich kam. Aus dem Jahr 1936 datiert sogar ein Geheimdekret gegen die Einwanderung von Juden. Und dennoch fanden zwischen 1933 und 1945 über 16.000 deutschsprachige Exilanten Zuflucht in Brasilien. Sehr interessant dürfte in diesem Zusammenhang die Ausstellung „mehr vorwärts als rückwärts schauen…” Das deutschsprachige Exil in Brasilien 1933 – 1945 sein, die vom 8. Oktober 2013 bis 31. Mai 2014 in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt, Adickesallee 1, läuft. Erarbeitet wurde sie vom dort ansässigen Deutschen Exilarchiv. Dazu erscheint im Verlag Hentrich & Hentrich ein gleichnamiger Katalog in Deutsch und Portugiesisch, herausgegeben von Sylvia Asmus und Marlen Eckl, der den „wechselseitigen Kulturaustausch zwischen den Exilanten und den mit ihnen bekannten und befreundeten namhaften brasilianischen Intellektuellen und Künstlern“ in zwölf Kapiteln höchst aufschlussreich beschreibt. Die Eigentümerin dieses Berliner Verlags Nora Pester widmet sich den Werken brasilianisch-jüdischer Autoren sehr nachhaltig. Im Verlagsprogramm tauchen gleich drei Namen auf: Clarice Lispector, Moacyr Scliar und Luis S. Krausz. Jeder ist auf seine Weise schillernd.

Clarice Lispector (1920-1977) stammte ursprünglich aus der Ukraine und entwickelte sich zur umschwärmten Schönheit und Schriftstellerin. Ihr Name ist dieses Jahr auf der Buchmesse im Zusammenhang mit zwei Büchern aufgetaucht, dem Kinderbuch Das Geheimnis des denkenden Hasen und andere Geschichten (Hentrich & Hentrich), das sie angeregt durch ihren Sohn Paulo schrieb und einer bei Schöffling & Co erschienenen bebilderten Biographie von Benjamin Moser.

Wenn sich ein Autor mit seinem jüdischen Background auseinandergesetzt hat, dann war es Moacyr Scliar (1937-2011), den man ganz zu Recht als „literarischen Chronisten des jüdischen Brasilien“ bezeichnet. Er hat Bom Fim, dem jüdischen Viertel seiner Geburtsstadt Porto Alegre in seinem Werk ein literarisches Denkmal gesetzt. „Humor als Waffe der Verzweiflung“ ist eine tragende Säule seiner Romane. 2013 gibt es mit zwei Titeln beim ­Lilienfeld Verlag (Die Ein-Mann-­Armee und ­Kafkas Leoparden), zwei weitere bei Hentrich & Hentrich (Die Götter der Raquel und Der Krieg in Bom Fim) die Chance, Scliar (wieder) zu entdecken.

An Humor steht diesem Altmeister der vergleichsweise junge Schriftsteller Luis S. Krausz, 1961 als Kind emigrierter Wiener Juden in São Paulo geboren, in Nichts nach. Wiederum bei Hentrich & Hentrich erschien soeben sein autobiographischer Roman Verbannung. Erinnerungen in Trümmern, den er seinen Großeltern Alice und Wilhelm Krausz widmete. Der umfassend belesene Autor kennt offensichtlich Stefan Zweigs Die Welt von gestern ebenso genau wie seinen Chumasch (Fünf Bücher Mose). Er sinniert in einem der kürzesten, doch inhaltsreichsten Bücher (141 Seiten reiner Text ohne das Nachwort ), die mir je in die Finger gerieten, über vieles: seine Familiengeschichte, die Zerstörung seiner Heimat durch Bau-Boom, Umweltsünden und Verarmung, Auswirkungen der vormaligen Militärdiktatur und derzeitigen Demokratie brasilianischen Zuschnitts, Anpassungs- oder Vermeidungs-Strategien deutscher, österreichischer und osteuropäischer Juden gegenüber portugiesischer Sprache, tropischem Klima und Esskultur, gegenüber dem Lebensrhythmus einer afrobrasilianisch geprägten Bevölkerung (Ergebnis massenhafter Verschleppung von Sklaven) und dem Antisemitismus einer Gesellschaft, in der entkommene Nazis eine Heimat fanden und Vornamen wie „Hitler“ und „Göring“ zulässig sind. Ein Teil seiner Vorfahren stammte aus Galizien, der andere aus der k.u.k.-Monarchie. Die Auswanderung bedeutete die Ausfuhr osteuropäischer wie österreichisch-ungarischer Geister (aber auch Sitten, Gebräuche und ­Küchenrezepte) nach Brasilien, wo sie befremdet - befremdend auf den stillen, doch immer noch virulenten Antisemitismus von Altnazis wie auf Candomblé und Umbanda, den religiösen (Aber)-Glauben der afro- südamerikanischen Ureinwohner, trafen.

Ein besonders heikles Thema kommt in Hannahs Briefe (Aufbau Verlag) von Ronaldo Wrobel, 1968 in Rio de Janeiro geboren, zur Sprache: Prostitution jüdischer Frauen. Viele waren im 19. Jahrhundert vor Pogromen nach Russland und Litauen geflohen, um schließlich in den Armen von „Zwi Migdal“, einer Art jüdischer Zuhälterring, zu landen. Von den jüdischen Gemeinden abgewiesen, entstanden in diesem Milieu eigene Kehilles und Begräbnisstätten. Erst 1970 hat sich die letzte Wohlfahrtsorganisation einstiger „Polacas“, wie man diese Frauen nannte, aufgelöst. In ­Wrobels Roman verliebt sich ein Schuhmacher, der in den 1930er Jahren für die Geheimpolizei Briefe übersetzen muss, unsterblich. Doch diese Liebe hat mehr als einen Pferdefuß: „Du bist jetzt volljährig und darfst wirklich Böses tun, die allergemeinsten Teufeleien:“ – „Was für welche?“ – „Hilf den Menschen, ihre Träume zu verwirklichen.“

 

Zuletzt möchte ich das Augenmerk Lesefutter Suchender auf den Erstling einer in Deutschland lebenden Brasilianerin namens Paula Zimerman Targownik lenken. Die Drehbuchautorin und Regisseurin des Jahrgangs 1965, ging zum Studium nach Israel und folgte ihrem dort gefundenen Berufs- und Lebenspartner in dessen Herkunftsland. In ihrem ersten – auf Portugiesisch verfassten – Buch erzählt sie Geschichten aus dem Leben von ­Jamile Abuhab, Tochter von Juden aus dem ­Libanon mit türkischen Pässen, die in„Bom Retiro“, dem jüdischen Viertel von São Paulo aufwuchs, weil ihr Großvater auf dem Weg nach Amerika etwas weit nach Süden abgedriftet war. Durchwegs tragischkomisch sind die Episoden in 6x Jom Kippur (erschienen bei Compania), in denen anhand von Schlüsselmomenten aus mehreren Jahrzehnten – stets um den Versöhnungstag herum – ein ganzer Kosmos entsteht. Paula Zimerman Targownik nennt ihr Buch einen biografischen Roman, denn wo die Erinnerungen ihrer Mutter aussetzten, überbrückt sie behutsam mit ihrem Wissen über jüdisches Brauchtum unter orientalischen Juden, ihrem Einfühlungsvermögen in das patriarchische Denken ihrer ­Urgroßväter- und Großvätergeneration. Ein bisschen wie in Kohelet geht es auch bei ihr um Zeiten des Aufblühens und Niedergangs, des Gehorchens und des Aufbegehrens, des Zusammenhalts und des Aufbruchs. – Eine rundum empfehlenswerte Lektüre, weil man wirklich Neues erfährt, einen Blick in eine andere Lebenswelt tut.

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