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Das Selbst im Kontext der Geschichte(n)

Anfang des Jahres stellte der israelische Künstler Shimon Lev im „Artists House” in Tel Aviv aus. Im Rahmen der Schau erschien der Katalog „Personae”, der sehr eindrucksvoll das vielschichtige Werk zeigt. Im Rahmen der Votivkino-Filmgespräche in Wien wurde kurz darauf, neben Friedemann Derschmidts Film „Das Phantom der Erinnerung”, auch der Film „His Story” der beiden Künstler gezeigt, (siehe INW 1/2016, S. 31). In diesem Film haben Friedemann Derschmidt und Shimon Lev die Rollen getauscht. Derschmidt erzählt die Geschichte von Shimon Lev, der sich seit Anfang der 1990er Jahren mit den Auswirkungen der Shoah auf seine Familie in der Gegenwart auseinandersetzt, und Lev erzählt die Geschichte Derschmidts, der aus einer Großfamilie mit Nazivergangenheit kommt und sich sehr intensiv damit beschäftigt. Es geht auch um die Frage, inwieweit die Geschichte des Anderen überhaupt erzählt werden kann.

Das Kataloggespräch führte Petra M. Springer.

INW: Sprechen wir über den Katalog, der anlässlich der Ausstellung Personae erschienen ist. Der Titel kann als Personale übersetzt werden.

Shimon Lev: Personae wird im Hebräischen im Plural gedacht und bezeichnet verschiedene, viele verschiedene Personen. In meiner Kunst setzte ich mich mit verschiedenen Arten des Selbst auseinander. Diese verschiedenen Personen gibt es bereits, ich erfinde sie nicht. Es ist eine persönliche biografische Sprache, die ich verwende. Die Kuratorin Rivka Bakalash – sie ist eine Spezialistin für ­Marcel Duchamp – fand in meinen Arbeiten eine Art Fortsetzung, eine Ähnlichkeit. Deshalb haben wir verschiedenste Aspekte meines Werkes ausgewählt. 

INW: Der Katalog beginnt mit einer Fotografie aus dem Jahre 1986, einem Selbstporträt, das mit einer Kamera Obscura aufgenommen worden ist. 

S.L.: Ich studierte in den Jahren 1986, 1987, 1988 Fotografie. Ich wusste damals überhaupt nichts über Kunst und über Fotografie. Und wenn du das Fotografiestudium beginnst, baust du diese Kamera Obscura. Wir mussten diese Kamera bauen und ich ging auf das Dach von der Schule, zog mich aus und machte das Foto. Der Lehrer war sehr entsetzt, weil ich nackt war. 

INW: Auf einen der nächsten Bilder trägst Du ein T-Shirt des Berliner Leichtathletik Verband EV. Diese Arbeit, als Teil einer Serie, trägt den Titel Schizophrenie. Das ganze Bild ist übersäht mit bunten Markierungen. Was bedeutet das?

S.L.: Diese T-Shirt hat mir meine Freundin gegeben, sie war eine Athletin. Die meisten Fotografien sind ein Teil einer größeren Serie von Arbeiten. Wenn man in der Armee ist und Schießübungen macht, werden die Einschusslöcher nach der ersten Runde markiert. So werden diese Löcher nach jeder Runde mit einer anderen Farbe markiert. Ich habe diese Technik in dieser Fotografie als eine Art von Malerei übernommen. Ich habe dieses Selbstporträt von mir gemacht und dann Löcher in das Foto gemacht, und diese habe ich dann farblich markiert.

INW: Also ein inszenierter Selstmord?

S.L.: Es ist, wie mich selbst erschießen. Es ist, als ob. Aber auf der anderen Seite schaut es aus wie aus dem Kino, aus Hollywood, es schaut aus wie Blumen, Sterne. Der Titel ist Schizophrenie, aber ich denke nicht, dass ich schizophren bin. Die Sache ist die: Es behandelt Aspekte von Normalität und Abnormalität, denn in Israel gehst du zur Armee und dann kehrst du zurück zum normalen Leben. Für einen Künstler ist es sehr schwierig diese Thematik zu behandeln, weil auf der einen Seite bist du Künstler, der mit dem Thema arbeiten will, auf der anderen Seite bist du ein Teil davon, darfst aber darüber nicht sprechen, da gibt es Geheimnisse. 

INW: Auf einem anderen Bild sind auf den ersten Blick nur Unterarme zu sehen, auf den zweiten ein Körper und eine Waffe in den Händen. 

S.L.: Auf diesem Bild ist die andere Seite zu sehen. Es ist ein Teil dieser Installation. 

INW: In einer anderen Serie geht es darum, dass religiöse Bücher nicht weggeworfen werden dürfen, sondern aufbewahrt werden müssen, z. B., indem sie in die Wand eingemauert werden.

S.L.: Ja, das nennt sich Gniza, ich habe diese Serie so genannt. Diese Bücher werden an sich einem Rabbiner übergeben, der sie an einem speziellen Ort bringt. Ich habe diese Bücher genommen und beispielsweise die Cover bearbeitet, indem ich sie lichtempfindlich machte und darauf Fotos geprintet habe. Auf dem einen ist mein Bruder zu sehen. Wenn diese Arbeiten dem Licht ausgesetzt sind, dann arbeitet das Bild weiter, weil ich diese Bilder nicht fixiert habe. Ich versuche immer wieder alternative Wege zu gehen, um Fotografie umzusetzen.

INW: Es ist sozusagen a work in progress. Es wird immer schwärzer und schwärzer. Die Arbeit zerstört sich sozusagen selbst. 

S.L.: Ja, die ganze Zeit verändert es sich, in dieser Arbeit geht es sozusagen um Zeit. Diese Arbeit behandelt verschiedene Aspekte, einer zeigt das Problem auf: Wenn die Bücher in der Gniza sind, dann ist es ok, aber es ist nicht erlaubt sie zweckzuentfremden. Auf einer Schrift habe ich meinen Vater fotografisch festgehalten, in einem anderen Bild bin ich abgebildet, und in dieser Arbeit habe ich auch Farbe verwendet. Ein anderer Aspekt ist, dass mit diesen Arbeiten auch die Frage des Lernens, des Studiums der Schriften aufgeworfen wird. In einer Arbeit habe ich ein religiöses Buch zerschnitten und Textstreifen auf eine Fotografie von mir geklebt.

INW: So wurde aus einem bestehenden Text ein neuer Text geschaffen. 

S.L.: Ja, ich nahm die Texte von Gebetsbüchern und von der Bibel. Z. B. habe ich eine ganze Tora für die Arbeit All the Torah on one Foot, die auf eine Geschichte von Rabbi Hillel verweist, verwendet. Mein Bar Mizwah Kapitel wurde auch in meiner Kunst umgesetzt, habe es zerschnitten und das habe ich an demselben Samstag gemacht, nur 40 Jahre später (Veathanan). 

INW: Andere Arbeiten setzen sich mit dem Thema Von Berlin nach Jerusalem auseinander. 

S.L.: Ja, da wurden auch wieder gefundene, religiöse Bücher verwendet, in die ich Bilder von Familienmitglieder geklebt habe, wie Liana, die in ­Auschwitz ermordet wurde. Mein Großvater ging 1934 von Wien nach Berlin, weil sie dort Häuser hatten. Ich glaube, mein Großvater war der letzte wichtige Partner im Geschäft, also wurde er nach Berlin geschickt, um Geld zu kassieren. Dieses Werk ist eine Mixed Media Arbeit, ich habe diese Bücher auf ein ebenfalls mit Fotos beklebtes Pult gelegt und wenn Leute in die Galerie kamen, begannen sie, diese Bücher genauso wie religiöse Bücher zu studieren. In diesen Büchern steckt für mich sehr viel drinnen, viel Text und Fotos. Diese Arbeit ist für mich der Schlüssel zu meinen anderen Arbeiten. Alles ist drinnen: Religion, die Armee, der Tod meiner Mutter, der Holocaust,... 

In einer anderen Arbeit Private Collection, habe ich Flaschen mit Mineralien und Quarz usw., die aus der Sammlung meines Vaters stammen, fotografiert. Er hat in einem Labor an der Universität gearbeitet. Ich habe es durch eine Glasplatte von unten fotografiert, was zu einem optischen Missverständnis führt.

INW: Danke für das Gespräch.

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