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Dichtende Kunsthistorikerin

Erica Tietze-Conrat war die erste Frau, die an der Universität Wien in Kunstgeschichte promovierte. Neben Schriften zur Kunst entstand auch ein beachtliches literarisches Werk, vor allem Gedichte. In ihren von Alexandra Caruso im Böhlau Verlag herausgegebenen Tagebüchern zeichnete sie das tägliche Geschehen auf – darin gibt sie private, aber nicht intime Einblicke in ihr Leben, sie können aber auch als wichtiges zeithistorisches Dokument gelesen werden.

 

Erica Conrat wurde am 20. Juni 1883 als jüngste von drei Töchtern des aus Breslau stammenden Kaufmanns Hugo und Ida Conrat (geb. Kohn) in Wien geboren. Zum Protestantismus konvertiert, wurde Erica evangelisch getauft. Sie absolvierte die Mädchenlehr- und Erziehungsanstalt Hanausek-Stonner und besuchte das Mädchengymnasium in der Hegelgasse im ersten Bezirk. Sie studierte Kunstgeschichte an der Universität Wien und promovierte 1905 mit der Dissertation „Beiträge zur Geschichte Raffael Donners”. Im selben Jahr heiratete sie den Kunsthistoriker Hans Tietze, den sie um 1900 im Atelier ihrer ältesten Schwester, der Bildhauerin Ilse ­Conrat, kennengelernt hatte. Er wurde 1880 als Sohn des Advokaten Siegfried und Auguste ­Taussig in Prag geboren. Nach dem Tod der Mutter zog die Familie nach Wien, zuvor wechselten sie zum evangelischen Glauben und änderten den Namen in Tietze.

1907 übersiedelten Hans Tietze und Erica ­Tietze-Conrad in das von Architekten Hartwig ­Fischel gebaute Haus in der Armbrustergasse 20 im 19. Bezirk. Sie bekamen vier Kinder: Christoph (­„Stoffel”, geb. 1908), Andreas („Anderl”, geb. 1914), Walburg („Burgl”, geb. 1915) und Veronika („Vroni”, geb. 1918). Letztere verstarb bereits 1927 an Meningitis.

Währende Hans Tietze in der Zentralkommission für Kunst und historische Denkmale mit der Bearbeitung der Buchreihe Österreichische Kunsttopographie betraut war, sich an der Universität habilitierte und als Ministerialbeamter des Unterrichtsministeriums die Neuordnung der staatlichen Museen bearbeitete, lehrte Erica Tietze-­Conrat an der Wiener Urania sowie anderen Volksbildungseinrichtungen und war freie Mitarbeiterin an der Graphischen Sammlung Albertina. Nach einer schweren Krankheit 1921, begann sie zu dichten, versuchte sich an einem Roman, schrieb Theaterstücke und auch Erzählungen. Wie die Prioritäten gesetzt waren, verdeutlicht ein Tagebucheintrag aus dem Jahr 1923: „So wie ich erst Frau, Mutter und dann erst Kunsthistorikerin war, so bin ich auch jetzt der viel- und tiefverzweigte Mensch – und dann Dichterin.”

Sie war mit der Wiener Kunstszene eng verbunden und nahm regen Anteil an künstlerischen Ereignissen in der Stadt, kannte Persönlichkeiten wie Oskar Kokoschka, Josef Matthias Hauer und Alma Mahler, letztere bereits aus der Grundschule. Auch war sie mit Josef Floch bekannt: „Gestern abends war der Maler Floch da; gar so still, wohlerzogen, gemäßigt – kurz langweilig. Er hat eine Mappe voll mit Zeichnungen aus Palästina gebracht; [...] Wir haben nichts kaufen können u. das hat uns sehr weh getan...” Immerhin hat die Kunsthistorikerin das Vorwort zur Mappe „Palästina”, bestehend aus 10 Lithografien, verfasst. Die Tietzes haben KünstlerInnen tatkräftig gefördert, durch Ankäufe von Bildern unterstützt und dadurch selbst eine beachtliche Kunstsammlung zusammengetragen, sie haben sich aber auch immer wieder für diese eingesetzt, bei Kunstan- und verkäufen vermittelt bzw. beim Aufbau von Sammlungen geholfen. „Bei Nebehay Thee getrunken u. wegen der Chodowieckisammlung von Frau Oppenheimer vorverhandelt. Dann bei Steiners in Hietzing soupiert. Sehr gemütlich, Rosen, Erdbeeren und Ribisel aus dem Garten. Ihr neues Bild [...] ist wirklich famos, ebenso frisch auch eine neue technisch sehr amüsante Radierung ,der Geigenspieler’.” Die Malerin und Grafikerin Lilly und
der Industrielle Hugo Steiner lebten in Hietzing in dem ersten von Adolf Loos errichteten Einfamilienhaus.

Die Tietzes haben auch Kunst getauscht, was manches Mal eine weise Entscheidung war, so tauschten sie mit dem Kunsthändler Gustav ­Nebehay zuvor bei ihm erworbene Schieleblätter gegen Kolbezeichnungen: Die Schielebilder „haben uns immer mißfallen – wie sich’s jetzt herausstellt, sind es Blätter von seinem Schwager – Fälschungen”. In ihrer Sammlung befand sich auch ein früher Oskar Kokoschka, das Doppelporträt „Hans Tietze und Erica Tietze-Conrat” aus dem Jahr 1909. In schrillen Farben, ist er im Profil, sie frontal abgebildet. Deutlich sichtbar sind Kratzspuren ­Kokoschkas im Hintergrund, Tietzes rechter Arm verschmilzt mit diesem. Es sind zwei Individuen dargestellt, deren einzige Verbindung die Hände zu sein scheinen, die Fingerkuppen berühren sich aber gerade noch nicht. „1938 konnte es, so wie andere Kunstwerke aus der Sammlung Tietze, vermutlich dank der Hilfe von Frederick Hartt aus Österreich herausgeschmuggelt werden [...]. In finanzieller Not boten Tietzes das Gemälde schließlich 1939 über Vermittlung des ebenfalls emigrierten Kunsthändlers Hugo Feigl (1889-1961) dem Direktor des Museum of Modern Art in New York, Alfred H. Barr (1902-1981), an. Der Ankauf konnte über Mrs. John D. Rockefeller jr. finanziert werden.”

Oft waren die Treffen der Wiener Kunstszene „,spartenübergreifend’ und fanden in einer Privatwohnung oder einem Atelier statt, etwa bei ­Kieslers, bei denen junge Theaterleute aus Berlin und Vertreter der niederländischen Bewegung ,De Stijl’ zu Gast waren, oder bei Lea Bondi, die ihren neuen Geschäftspartner, den bis heute unvergessenen Galeristen und Publizisten Alfred Flechtheim, in Wien einführte.”

Mit dem Maler und Grafiker Georg ­Ehrlich war Erica Tietze-Conrad besonders eng verbunden. Sie reisten und verbrachten Urlaube gemeinsam. Es fand ein intensiver Austausch der Beiden statt: „Gestern abends mit Ehrlich sehr langes Kunstgespräch, das mich ,entwicklungsgeschichtlich’ sehr gepackt hat.” Die freundschaftliche Nähe bezeugen auch die Porträts, die er von ihr, aber auch von den Familienmitgliedern machte. Besonders vertraut scheint eine Zeichnung der bettlägerigen Tietze-Conrad 1923 im salzburgischen Lofer. Er illustrierte auch mit Radierungen ihre einzige veröffentlichte literarische Publikation, die Gedichtsammlung „Abschied”. Sie, die keiner literarischen Gruppierung angehörte, veröffentlichte auch Gedichte in der Arbeiter-Zeitung. Diese entstanden meist in der Elektrischen (Straßenbahn) während der Fahrt zwischen Innere Stadt und ihrem Haus in Döbling. Dort erweiterte sich der Familienkreis immer wieder durch Gäste, Mitbewohner, Logierbesuch oder Austauschkinder.

Reisen und Kunstbetrachtung war sehr wichtig für das Ehepaar, so fuhren sie mit Ehrlich und dem Ehepaar Steiner über Basel nach Paris und Saint-Claud. Im Oktober 1924 reiste das Ehepaar durch Italien und Frankreich – interessant dazu ihre Reisebeschreibungen im Tagebuch. Nach Tietzes Rücktritt aus dem Staatsdienst gab es viel Zeit für Reisen: Spanien, England, Frankreich, Italien, Schweiz, wo sie Museen und Privatsammlungen durchforsteten. Diese Reisen führten auch zu einer vermehrten kunsthistorischen Zusammenarbeit. Hans Tietze hielt Vorträge in den USA und Kanada. Lebensmittelpunkt der Beiden wurde immer mehr Venedig. Zur Zeit des Anschlusses befanden sie sich bereits im Ausland und emigrierten im April 1939 in die USA. 1953 erhielt Hans Tietze einen Lehrauftrag an der Columbia University. Nach seinem Tod 1954 führte Erica Tietze-Conrat seine Vorlesung fort und erhielt selbst Lehraufträge. Vier Jahre später starb sie an einer schweren Krankheit in New York. 

Die Tagebücher Erica Tietzte-Conrads befanden sich im Nachlass des zweitältesten Sohnes, Andreas Tietze, erst seine Witwe ­Süheyla Tietze und deren Kinder entschlossen sich zu einer Veröffentlichung. Das Material ist in zwei Teile gegliedert: Tagebücher aus den Jahren 1923-1926 und Tagebücher 1937-1938. Die im Böhlau Verlag erschienenen Bücher sind demensprechend unterteilt in: „Band I: Der Wiener Vasari (1923-1926)”,
„Band II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937-1938)” und „Band III: Register und Anhang”. Akribisch und mit enormen Wissen hat Herausgeberin Alexandra Caruso die Tagebücher bearbeitet und Einträge mit Anmerkungen versehen, sodass keine Fragen zu Personen, Institutionen, geografische Fragen usw. offen bleiben. Auch spezifisch wienerische Ausdrücke sind fachkundig übersetzt. Dadurch ist diese Publikation auch nicht Wienkundigen oder wienerisch Sprechenden zugänglich. Die Veröffentlichung dieser Tagebücher ist somit nicht nur enorm wichtig in Bezug auf die persönlichen und historischen Inhalte, sondern auch bezüglich der sehr aufwendig recherchierten Erläuterungen.  

Alexandra Caruso (HG.): Erica Tietze Conrat, Tagebücher, 3 Bände, Böhlau Verlag, Wien/Köln/Weimar 2015, 944 Seiten, 79,00 Euro.

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