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Die Konferenz von Evian und ihr Scheitern

Wer so wie ich, den Anschluss und die darauf folgenden Monate in Österreich erlebt hat, der kann diese Zeit der Angst und Panik nie wieder vergessen. Wenn ich die Briefe und Postkarten lese, die mein Vater zwischen 1937 und 1939 meinem Bruder Erwin nach Jerusalem schrieb, wird mir klar, was ein österreichischer Jude damals fühlte. Noch im Januar 1938 glaubte mein Vater, dass die Demokratien und vor allem die Tschechoslowakei nie zulassen werden, dass Österreich Teil von Nazideutschland wird. Doch bereits am 28. Februar 1938 schrieb er auf einer Postkarte aus Bratislava: „Ich bin erst heute Nachmittag hier eingetroffen, denn wie Du aus den Zeitungen erfahren hast, bei uns jetzt das Spiel auf Leben und Tod geht. Wir haben ungemein große Angst trotz beruhigender Worte von Schuschnigg. Ich befürchte, wenn nicht dringend von den Großmächten Hilfe kommt, wir das Spiel verlieren werden. Wir sind schmerzhafter Weise vollkommen ratlos, wenn wir an das Vorbild der deutschen Glaubensgenossen denken, dann ergreift uns ein Grauen. Gebe der Allmächtige, dass sich wieder alles zum besseren wendet, denn diese unbestimmte Angst ist für die Dauer nicht erträglich!“
Aber die Großmächte haben, wie schon zuvor auch diesen Bruch des Versailler Friedensvertrages, den Anschluss zur Kenntnis genommen und nicht interveniert. Mein Vater kehrte nach dem Anschluss zurück nach Baden bei Wien und die nächsten Wochen und Monate versuchte er verzweifelt ein Land zu finden, das uns aufnehmen würde.
Völlig unerwartet erhielt ich im heurigen Frühjahr von einem befreundeten Kollegen aus Norddeutschland die Anfrage, ob ich an einer Erinnerungsveranstaltung über die Konferenz in Evian (6.-15. Juli 1938) in Evian teilnehmen möchte. Ich sagte zu und erhielt vom Organisator, Hugh Baver, aus Boston (USA) die Einladung, zwei Tage im Hotel Royal, dem Ort der Evianer Konferenz, zu verbringen und während des festlichen Diners eine Ansprache zu halten.
Hugh Baver (58) war in seiner Jugend Baseballspieler, und auch später hatte er mit diesem Sport zu tun. Vor einigen Jahren unternahm er eine Reise in die Dominikanische Republik, wo er darauf aufmerksam gemacht wurde, dass es die Stadt Sosua gäbe, die – nach der Konferenz in Evian – von aus Deutschland und Österreich eingewanderten Juden gegründet worden war.
Von den damaligen 32 Teilnehmerstaaten an der Evianer Konferenz hatte lediglich Diktator Rafaël Leonidas Trujillo y Molina zugestimmt, 100.000 Juden aufzunehmen. Vermutet wird dahinter auch ein rassistisches Motiv: Er soll angenommen haben, dass es durch die Vermischung von Juden mit den vielen dunkelhäutigen Einwohnern zu einer „Verweißerung“ kommen würde.
Schlussendlich fanden ca. 700 Juden in der Dominikanischen Republik eine Aufnahme.
Hugo Baver gründete die Vereinigung Sosua 75, und als er 2016 geschäftlich in Lausanne zu tun hatte, überquerte er mit der Fähre den Genfer See und besuchte das Hotel Royal in Evian. Dort gab es weder eine Erinnerungstafel, noch wusste irgendjemand etwas über diese Konferenz im Jahr 1938.
Dieser Tatsache wollte Hugo Baver abhelfen, und so ruhte er nicht, eine Erinnerungsveranstaltung vom 10. bis 12. Juli 2018 im Hotel Royal in Evian zu organisieren.
Zunächst hielt Dr. Dennis Laffer, ein Arzt, der 2011 mit einer Thèse über die Konferenz in Evian zusätzlich einen Master Grad erwarb, einen Vortrag, in dem er die Geschichte dieser Konferenz schilderte.
Der Anschluss am 12. März 1938 und die folgenden Wochen zeigten der Welt, dass Juden in Deutschland und Österreich keine Chance hatten, in diesen Ländern weiter leben zu können. Präsident Roosevelt reagierte darauf mit der Einberufung dieser Konferenz.
Die Historiker sind heute geteilter Meinung: Manche glauben, Roosevelts Administration habe die Juden ihrem Schicksal überlassen. Andere sind der Ansicht, der US-Präsident habe alles Mögliche getan, wenn man die damaligen politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen in Betracht ziehe.
Dr. Laffer kommt in seiner Thèse zu dem Schluss, dass Franklin D. Roosevelt wusste, was in Mitteleuropa passierte, er habe sich jedoch lieber auf die Stärkung der amerikanischen Wirtschaft und Verteidigungsbereitschaft konzentriert. Er erkannte die Gefahr, die von Seiten Nazideutschlands und Japans drohte. Angesichts des politischen Widerstands der Isolationisten, aber auch der öffentlichen Meinung, wollte Roosevelt nicht die Tore für die Einwanderung öffnen. Deswegen war die Konferenz zum Scheitern verurteilt: Sie hatte lediglich eine Alibifunktion für die demokratischen Staaten, die daran teilnahmen.
Die Nazis haben sich über die heuchlerischen Reden und die Wirkungslosigkeit des einzigen Resultats der Konferenz, der Schaffung eines zwischenstaatlichen Komitees für politische Flüchtlinge in London, lustig gemacht.
Die von 32 Staaten veranstaltete Konferenz hatte Hoffnungen genährt, dass das Problem der mit Gewalt betriebenen Auswanderung gelöst werden könnte. Doch sie versuchten es mit halbherzigen Maßnahmen und heuchlerischen Erklärungen. Die 29 Delegationen (drei waren abgesprungen) standen auf und erklärten, was sie bisher für Flüchtlinge getan hätten und noch tun möchten. Der australische Delegierte brachte es auf den Punkt: „Da wir kein eigentliches Rassenproblem haben, wünschen wir auch keines zu importieren.“
In ihrer Resolution beschloss die Konferenz, dass „die Zufluchtsländer nicht willens seien, irgendeine Verpflichtung der Finanzierung einer unfreiwilligen Emigration auf sich zu nehmen“.
Den Nazi wurde klar, dass sie eine viel radikalere Lösung anstreben können und keinen Widerstand der Demokratien befürchten müssen. Das Appeasement und der Verrat an der Tschechoslowakei während der Münchner Krise ermunterten sie, schon vier Monate nach der Evian-Konferenz, im November 1938, ein Pogrom gegen die Juden zu begehen.
Anlässlich der Konferenz in Evian teilte der damalige Leiter der britischen Delegation, Lord Winterton, den Juden mit, dass sie keine aktiven Teilnehmer an der Konferenz sein werden, obwohl die Mehrheit der zur Flucht gezwungenen Personen Juden waren.
Die Vertreter der jüdischen Flüchtlinge und Organisationen hatten an einem einzigen Nachmittag die Möglichkeit, zehn bzw. fünf Minuten zu sprechen. Winterton war bekannt als Freund der Araber. Er erreichte es, dass das damalige Mandatsgebiet Palästina von der Konferenz nicht als ein Land der Zuflucht gesehen wurde.
Eine weitere Rednerin im Hotel Royal bei der diesjährige Erinnerungsveranstaltung war Dr. ­Katrina Lantos-Swett von der Lantos Foundation für Menschenrechte und Justiz. Sie hielt einen brillanten Vortrag über die Lehren von Evian in der heutigen Zeit der Angst vor Flüchtlingen.
Die Vizebürgermeisterin von Le Chambon, Denise Valett, berichtete, wie ihre kleine Ortschaft unter der Führung von Pastor André Trocmé 3.000 Juden während der Vichy-Herrschaft und der deutschen Besatzung das Leben rettete. Sie machte eine weitere historische Reminiszenz dafür geltend: Erst nach der Französischen Revolution 1789 wurden die Protestanten in Frankreich gleichberechtigt. In Erinnerung an ihre eigene Verfolgung, sowie in ihrer Wertschätzung des Volkes der Bibel, hatten die Einwohner von Le Chambon – den herrschenden Mächten zum Trotz – vielen flüchtenden Juden Unterschlupf gewährt.
Le Chambon hat kollektiv den Titel Gerechter unter den Völkern von Yad Vashem erhalten sowie auch seinerzeit die 90 Einwohner des Ortes.
Der australische Autor, Peter Grose, erzählte von der französischen Untergrundbewegung, die Juden zur Flucht in die Schweiz verhalf. Wir besuchten auch den Park, der diesen Gerechten im benachbarten Thonon-les-Bains gewidmet ist.
Der deutsche Filmemacher, Joachim Schröder, schilderte die Schwierigkeiten, den, gemeinsam mit Sophie Hafner, gedrehten Dokumentarfilm Auserwählt und ausgegrenzt. Der Hass auf Juden in Europa zu zeigen. Erst nachdem die deutsche Bild-Zeitung über diesen Skandal berichtete, waren die Fernsehanstalten, die den Film bestellt hatten, bereit, ihn zu senden.
Die Geschichte der Konferenz in Evian ist eine Mahnung für Europa, den wieder erstarkenden Antisemitismus und Rassismus konsequent zu bekämpfen.

 

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