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Die Shoah und die jüdische Tradition der Erinnerung

Die hebräische Bibel – das erste Testament – ist Grundstein, Anleitung und Inhalt unseres Glaubens, der ersten monotheistischen Weltreligion. Der Tanach – die hebräische Abkürzung für Thora, Nevi’im, Ketuvim (Thora, Propheten, Schrifttum) –, unser heiliges Buch, ist die Grundlage unseres Glaubens.

E

s ist auch ein Buch über die Geschichte der Menschheit und vor allem die Geschichte des Judentums, ausgehend von unserem Vater Abraham bis zur Zerstörung des Tempels und die Eroberung des Heiligen Landes durch die Römer im Jahr 70 vor der Zeitrechnung. 

Es gibt kaum ein anderes Volk, dessen Geschichte so minutiös und exakt niedergeschrieben und weitergegeben wurde – bis in die Gegenwart. Die fünf Bücher der Thora, das Fundament unserer Religion und deren Gesetze, enthalten ebenso die mit diesem Glauben verbundene Geschichte unseres Volkes. Somit ist der Tanach im Ganzen auch ein Buch der Erinnerung. Das jüdische Volk lebt mit der Geschichte und von der Geschichte. 

So ist zum Beispiel der Auszug aus Ägypten für jeden Juden nicht nur aus der Vergangenheit bis heute präsent, sondern es wird uns aufgetragen, bei der Lesung der Pessach-Haggada die Erzählung des Auszugs aus Ägypten so zu betrachten, als sei alles hier und heute geschehen und beträfe uns als persönliches Erlebnis. Dieses Gefühl, in der Gegenwart immer auch mit der Vergangenheit eng verbunden zu sein, gehört den Juden an und verleiht ihnen einen starken Zusammenhalt, im Wissen und Pflegen unserer Geschichte. Es sind diese Erinnerungen, die das Wesen und den Inhalt des Judentums seit unserem Vater Abraham bis heute bestimmen. Nichts davon wird in unserer Religion vergessen: Die Geschichte prägt unsere Feste und unsere Trauer. 

Wegen dieser langen Prägung sind wir anders als alle Völker und erleben die Vergangenheit täglich im Inhalt unserer Gebete und im lebhaft beschriebenen Geschehen, beginnend mit den fünf Büchern Mose im Alten Testament.

Die Geschichte des jüdischen Volkes, das nie etwas übersehen oder vergessen hat, ist bedeutend, vielfältig, voller Wunder und Gottes Gnaden – seit der Zerstörung des Tempels jedoch voller Leid und Tränen. Aber das Wissen über die Herrlichkeit des jüdischen Daseins, als sie das Heilige Land noch besaßen und die Hoffnung, es eines Tages wieder zu besitzen, hat den Juden in der Diaspora 2.000 Jahre lang die Kraft gegeben, weiter zu bestehen, alles zu überwinden, in Erwartung der Erlösung.

Seit dem Fall von Jerusalem ist die jüdische Geschichte voller Leid und begeht das immer wiederkehrende Unheil mit Trauertagen, Fasten und Gebeten, in Erinnerung an ihre Opfer und dem Hoffen auf Gottes Hilfe. Es ist jedoch leider immer schlimmer gekommen, mit einem unbeschreiblichen Höhepunkt im 20. Jahrhundert, als man glaubte und annehmen musste, die Vollkommenheit der Zivilisation und Brüderlichkeit der Völker erreicht zu haben. Unerwartet und brutal geschah nun das Gegenteil in schärfster Ausprägung. 

Das europäische Judentum, seit 2.000 Jahren akkulturiert, mit enormen Leistungen auf allen Gebieten, die dem Fortschritt und dem Wohle der Menschheit dienen, wurde in nur fünf Jahren ausgerottet. Wer durch Wunder oder Zufall überlebte, fand sich allein in einer fremden Welt, in Trauer um seine zahlreichen Familienmitglieder, die nicht überlebten. Nur einmal zuvor hatte es so ein Abschlachten gegeben, als etwa vor 300 Jahre der ukrainische Hetman Chmelnizki fast alle ­Juden Osteuropas tötete. Damals lag das aschkenasische Judentum, zerstört, am Boden. Erst die Kraft des Glaubens und die Ausstrahlung des aus der Katastrophe entstandenen Chassidismus gaben den Überlebenden die Kraft und den Sinn zurück, um weiter zu leben. Natürlich erinnert das Judentum seither mit Fasten und Gebeten an die Pogrome jener Tage. Nie wird etwas, das unsere Nation betrifft, je vergessen, geschweige denn so eine Vernichtung wie die Shoah.

War der Aufstand von Chmelnizki das Ärgste, was das Judentum bis dahin erleben musste, so war die Shoah das größte Verbrechen gegen die ganze Menschheit. Die Jahrtausende alte jüdische Kultur der Erinnerung, die unbestritten ein Teil unserer Religion ist, kann nicht ausgerechnet wegen der Shoah, dem größten Genozid aller Zeiten, halt machen und dem Vergessen preisgegeben werden, um gewissen Strömungen entgegenzukommen oder um die kommenden jüdischen Generationen von der Last der Rückbesinnung an die Shoah zu schonen. 

Im Gegenteil: Je länger die Zeit vergeht, je rarer die Augenzeugen werden, desto mehr muss warnend der Menschheit vor Augen gehalten werden, was dem Judentum widerfuhr. Wer sich von dieser Erinnerung abwendet, zerreißt bewusst die Bindung an das Judentum und an die Generationen, die danach kommen werden und die das jüdische Erbe weitertragen müssen, vor allem anderen eben durch die Erinnerung an die Shoah! Das ist Erbe und Auftrag für alle Zeiten, Trauer um die Juden und Warnung an die Welt, nie wieder mit der Menschheit so zu verfahren, wie mit dem jüdischen Volk im „erleuchteten“ 20. Jahrhundert… Oder sollen wir unsere unendliche Trauer in Zukunft den Gerechten der Nationen überlassen, um selbst ein gutes Leben zu führen? Keiner unserer Ahnen hätte je so gedacht und gehandelt! Da kommt die Erinnerung an einen der bedeutendsten Zeugen der Shoah auf, der kürzlich im Alter von 88 Jahren von uns ging – Elie Wiesel. 

Elie Wiesel verstand schon rasch, was der Preis und die Aufgabe seines Überlebens war. Die Welt musste von der totalen Unmenschlichkeit, der Ermordung des europäischen Judentums, in aller Ausführlichkeit erfahren – nicht als Rache, sondern als Warnung, dass sich so etwas niemals wiederholen dürfe. Wie wohl viele andere Millionen hatte auch er seine ganze Familie verloren, und verloren fühlte er sich danach, allein in dieser brutalen Welt. Aber er glaubte an einen Auftrag. Sein Überleben sollte einen Sinn haben: Die minutiöse Schilderung des Mordes an über 6 Millionen Juden, von ältesten Männern und Frauen bis zu neugeborenen Babys: der totale Genozid, den die Menschheit so noch nie gekannt hatte. Elie Wiesel bekämpfte und besiegte die Traumata und Leiden seines wiedergewonnenen Daseins und begann sich zu bilden, um die Fähigkeiten zu erwerben, die Shoah nachzuleben und minutiös zu schildern, um der Welt ein klares, umfassendes, erschütterndes Bild vor Augen zu führen, über das, was tatsächlich am Höhepunkt der Zivilisation in Europa passiert war. Sein Überleben war von elementarer Notwendigkeit für die Menschheit, die sich bewusst werden sollte über das, was geschehen war, mit dem Willen, es nie mehr zu wiederholen. 

Wir verdanken Elie Wiesel sein großes Werk, das bleiben wird. Um vor allem den Juden der künftigen Generationen zu erzählen, was zu unseren Lebzeiten geschah. Uns Überlebenden hat er den Trost geschenkt, dass nichts verschwiegen wurde – , wegen seines unermüdlichen Kampfes zur Aufdeckung der Verbrechen und als Warnung für die Zukunft.

Elie Wiesel, Träger der weltweit zwanzig wichtigsten Auszeichnungen und des Friedensnobelpreises, wurde am 30. September 1928 in ­Rumänien geboren und starb in New York am 2. Juli 2016. Seinen Kampf um die Wahrheit und seine historischen und philosophischen Gedanken hinterließ er in etwa 50 Büchern. Am meisten schrieb er in Französisch, da er nach der Shoah in Paris lebte und studierte. Die Entstehung des jüdischen Staates war ihm sehr wichtig. Auch wenn er dort nicht leben sollte, wusste er als Überlebender, wie bedeutsam der jüdische Staat für das Judentum ist und pflegte starke Bande mit Israel. Elie Wiesel ist unersetzbar – er wird sehr fehlen. Seine Botschaft muss weiterleben.

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