Inhalt

Familie mit vielseitigen Talenten

Die Cassirers waren in Industrie, Technik, Medizin, Philosophie, Verlagswesen, Kunsthandel, Musik, Literatur, Theater und Erziehung tägig. Der Name Cassirer ist für Kunst- und Kulturinteressierte ein Begriff: beispielsweise durch den Philosophen Ernst Cassirer (1874-1945), der mit Philosophie der symbolischen Formen ein bedeutendes kulturphilosophisches Werk publizierte. Fritz Cassirer (1871-1926) war als Kapellmeister tätig. Eva Cassirer-Solmitz (1885-1974) förderte den Schriftsteller Rainer Maria Rilke. In Bezug auf Reformpädagogik taucht der Name Edith Cassirer (1885-1982) auf, die mit ihrem Mann Paul Geheeb die Odenwaldschule gründete. Die Vettern Paul (1871-1926) und Bruno Cassirer (1872-1941) gründeten gemeinsam 1898 in Berlin eine Kunst- und Verlagsanstalt, trennten sich aber später. Sie fühlten sich besonders dem Impressionismus verbunden und förderten Künstler wie Max Liebermann, Lovis Corinth oder Max Slevogt. Max Cassirer (1857–1943) war Industrieller und Stadtrat in Charlottenburg. Er sammelte Kunst und Max Liebermanns Bauer mit Kuh zählte zu seinen Lieblingsbildern. Er unterstützte durch den Kauf von Kunstwerken Paul und Bruno Cassirer und verband somit privates mit geschäftlichem. Mitglieder der Familie Cassirer haben in verschiedenen Bereichen immer wieder geschäftlich zusammengearbeitet. Zum 50. Geburtstag wurde Max Cassirer von Max Slevogt porträtiert. Er stiftete 1911 der Stadt Charlottenburg einen von August Gaul entworfenen Tierbrunnen, der „Entenbrunnen“ befindet sich Ecke Hardenberg- und Knesebeckstraße vor dem Renaissancetheater. Gauls Tierplastiken waren sehr beliebt und wurden deshalb ständig entwendet, sogar vom eigenen Grab. 

Das Familiennetzwerk und die wirtschaftlichen Erfolge der Cassirers sind durchaus mit jenen der Bondys in Wien zu vergleichen. Eine Verbindung zwischen den beiden Familien gab es aufgrund der Heirat von Julie ­Cassirer und Otto Bondy, der sich 1888 in Wien mit einer Kabel- und Posamentenfabrik selbständig machte. 

Sigrid Bauschinger folgt in dieser Publikation der weitverzweigten, aber eng vernetzten Familie auf ihren zahlreichen Spuren und durchforstete dafür unmengen an Archivmaterial. Historische Fakten werden mit Briefen, Gedichten und Anekdoten bereichert, beispielsweise beschimpfte Else ­Lasker-Schüler Paul Cassirer, der ihr gesamtes Werk veröffentlicht hat, als raffgierigen Hai. Kurz vor ihrem Tod sprach sie aber von ihm als Gentleman.

In der Schweiz befindet sich ein Archiv, das ständig wächst und in dem sich bis dato über 40.000 Briefe dieser Familie befinden, das zeigt, dass die Cassirers passionierte BriefeschreiberInnen waren. Sobald Söhne und Töchter das Haus verließen, setzte ein reger Briefwechsel ein. Max Cassirer erwartete Briefe von seiner Schwester aus Wien: „Ich erwartete ihre Briefe samstags wie Liebesbriefe” und er lobte seinen Sohn Kurt, weil er täglich schreibt. 

Die emeritierte Germanistik-Professorin Bauschinger unterteilt die Publikation in sechs Kapitel. Sie beschreibt zunächst die Ursprünge der Familie und die unternehmerischen Anfänge in Breslau und später Berlin und würdigt anschließend chronologisch sortiert die Leben der wichtigsten Familienmitglieder bis zu deren Auswanderung.

Ursprünglich stammte die Famile ­Cassirer aus Schlesien, wo sie als Bauern, Gastwirte, Webstuhl- und Tuchproduzenten oder Holzfäller in Dörfern wie Bujakow oder Schwientochlowitz arbeiteten. Der Stammvater aller später in Berlin zu Ruhm gelangten Nachkommen, Marcus Cassirer, zog Mitte des 19. Jahrhunderts nach Breslau. Breslau war damals eine wichtige Durchgangsstation für JüdInnen, die dort Firmen gründeten und ihre Kinder auf gute Schulen schickten. Diese wiederum wählten für ihr Studium Städte in Deutschland, Berlin, München, Freiburg oder Heidlberg. Schon vor der Reichsgründung 1871 setzte eine vermehrte Abwanderung aus Breslau ein, so zogen der Historiker Theodor Mommsen oder der Maler Adolph Menzel nach Berlin. 

Marcus Cassirer wurde 1908 geboren, heiratete die fünf Jahre jüngere Jeanette geb. Steinitz und die beiden bekamen zehn Kinder: Leopold, Julius, Eduard, Rosalie, ­Simon, Ludwig, Isidor, Moritz, Max und Julie. In Breslau war er in der Likörbranche tätig. Der eigentliche Aufstieg der Cassirers begann aber 1872 mit dem Holzgeschäft der Söhne. „Die Söhne, erst in Breslau, dann in Berlin, hatten klein im Holzhandel angefangen und waren mit Riesenschritten vorwärtsgestürmt, sie gründeten in Woclawec eine Cellulosefabrik und verstanden es, sie in kurzer Zeit zur ersten des Kontinents – nicht Deutschlands – zu machen. [. . .] Sie hatten die Hände in allen großen Bauunternehmungen der achtziger und neunziger Jahre.“

Die Autorin beschreibt regelmäßige Familientreffen, die gefürchtet und ersehnt waren. Weinger kaufmännisch, aber musisch begabte Familienmitglieder wurden unterstützt. 

Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten begann die Zerstörung der Welt der Cassirers. Sie wurden enteignet, bestohlen, ihre Sammlungen zerstreut, sie selbst ins Exil gezwungen. Die Autorin folgt den Cassirers ins Exil, das den meisten von ihnen das Überleben sicherte, aber die Familie über den gesamten Erdball verstreute.

Die Publikation wurde aufgrund der Dichte an Fakten sehr kritisiert, das Buch ist aber ein wichtiger Beginn, die Geschichte dieser Famile aufzuarbeiten. Beim Lesen muss klar sein, dass es eine Unmenge an Material gibt, das von der Autorin auch verwendet wurde. Zugegeben, es ist keine leichte Lektüre zum Einschlafen, aber ein wichtiger Beitrag zur Analyse dieser sehr eindrucksvollen Familie. 

Sigrid Bauschinger: Die Cassirers. Unternehmer, Kunsthändler, Philosophen. Biographie einer Familie. Verlag C. H. Beck, München 2015, 464 Seiten, 29,95 Euro, e-book 24,99 Euro.

Kontextspalte