Flucht ist eine der menschlichen Geschichte immanente Tragödie. Flucht ist, was das jüdische Volk über die Jahrtausende erfahren hat – als Flucht in die Diaspora, als Flucht aus der Diaspora. Flucht ist, was heute die Region charakterisiert, die wir den „Nahen Osten“ nennen – Flucht vor Krieg und Verfolgung. Der Flucht der Überlebenden des Holocaust, die über die Alpen zu den Häfen des Mittelmeeres und weiter nach Palästina, nach Israel führte, gedenken wir als Alpine Peace Crossing. Die Flucht aus den Bürgerkriegsgebieten Syriens, des Irak und Afghanistans ist zum großen Thema europäischer Innenpolitik geworden – instrumentalisiert als Bedrohung von „Law and Order“.
Flucht erleben wir zu nahezu allen Zeiten, zwischen und auf den verschiedensten Kontinenten, unter den verschiedensten politischen Rahmenbedingungen. Eben deshalb darf nicht jede Flucht unter einem alles zudeckenden, alles gleichsetzenden Mantel emotionaler Aufwallung verschwinden: Flucht ist nicht Flucht, und nicht jede Flucht verdient die gleiche Qualifikation, nicht alle Flüchtlinge die gleiche Unterstützung. Annähernd zur selben Zeit, als von Salzburg aus Menschen bei der Flucht nach Palästina geholfen wurde, wurden Menschen auf der Flucht nach Argentinien geholfen – geholfen auch von Österreichern, geholfen auch über die Alpen. Mit Unterstützung des Roten Kreuzes und des Vatikans erreichte Adolf Eichmann – und nicht nur er – sein Zielland. Auch Eichmann war auf der Flucht. Aber seine Flucht macht zornig, und der Zorn richtet sich auch gegen die Fluchthelfer, die – wie der österreichische Kurienbischof Adolf Hudal – ganz bewusst NS-Verbrecher dem Zugriff der Gerechtigkeit entziehen wollten.
Was wir heute im Nahen Osten erleben, das ist die potentielle Gewöhnung an einen „double standard“, gegen den aufzutreten intellektuelle Redlichkeit verlangt: Die mit Abstand meisten Gewalttoten auf arabischer, auf muslimischer Seite sind Opfer innerarabischer, innermuslimischer Gewalt. Und die Flüchtlinge, die auf abenteuerlichen Fluchtwegen Europa zu erreichen versuchen, fliehen vor innerarabischer, bzw. innermuslimischer Gewalt.
Das kann natürlich nicht dazu führen, dass wir mit einem Achselzucken oder mit dem Verweis auf Dublin III diesen Flüchtlingen unsere emotionale Betroffenheit und unsere politische Zuwendung verweigern dürfen. Aber wir müssen einer Tendenz entgegentreten, die – wie die gegen Israel gerichteten Boykottaufrufe – in der Existenz des Judenstaates den Grund für alles Übel in der Region zu sehen: An den Bürgerkriegen im Jemen und in Syrien, an den immer wieder aufflackernden totalitären Diktaturen religiösen Fundamentalismus – daran trägt Israel keine Schuld; dafür müssen die Regime, dafür müssen die Staaten der Region die Verantwortung übernehmen.
Alpine Peace Crossing – das ist nicht nur die Erinnerung an die Flucht, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Holocaust steht. Alpine Peace Crossing, das ist eine Initiative, ein Aufruf, die Verantwortung für die Tragödien von Vertreibung und Flucht in einer differenzierenden Form herauszuarbeiten; auch ein Aufruf, nach politischen Antworten zu suchen – und politische Antwortverweigerer zu benennen: Diejenigen etwa, die durch die Absage an europäische Solidarität das Thema „Flucht“ weiterhin als Instrument der Mobilisierung bereit halten wollen; diejenigen, die beklagen, ein Mehr an Lasten tragen zu müssen als andere – die aber eine gemeinsame europäische Politik etwa des europäischen Grenzschutzes unterbinden; diejenigen, die verkünden, man müsse die Fluchtursachen bekämpfen, die sich jedoch den Konsequenzen einer solchen Zielvorstellung verweigern.
Alpine Peace Crossing ist ein unbequemer Stachel, der eine österreichische Bequemlichkeit verhindern hilft, die Bequemlichkeit, die mit dem Wunsch zu vergessen verbunden ist; Alpine Peace Crossing und der Hain der Erinnerung sind aber auch eine Provokation, die auf die Wiederholbarkeit vergangenen Schreckens verweist.
Der Artikel beruht auf dem Vortrag zu der NGO Alpine Peace Crossing, gehalten im Radio-Kulturhaus Wien am 21.10.2018.