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George Weidenfeld

Unersetzbarer Verlust

Im Jänner starb George Weidenfeld im Alter von 96 Jahren. Mit ihm verliert nicht nur die jüdische Welt einen engagierten Kosmopoliten, der sich in zahlreichen Staaten der Welt  behaupten konnte. Er sprach viele Sprachen fließend. Es gibt nur noch wenige Menschen, die sich auf dem politischen, gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Parkett so vieler Länder mit solch einer Selbstverständlichkeit bewegen konnten wie er.

Weidenfeld wurde am 13. September 1919 in Wien geboren und wuchs als Einzelkind in einer bürgerlichen Wiener Familie auf Er besuchte nach dem Piaristengymnasium die Universität Wien und die Diplomatische Akademie Wien. Während des Studiums wurde er Mitglied der jüdisch-akademischen Verbindung Unitas. Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich im Jahr 1938 emigrierte er nach London und begann bei der British Broadcasting Corporation (BBC) zu arbeiten, hauptsächlich für den „BBC Overseas Service“. Ab 1942 war er politischer Kommentator der BBC für europäische Angelegenheiten und verfasste eine wöchentliche Zeitungskolumne. Beim deutschen Dienst der BBC wie auch im nachrichtendienstlichen Netz der Regierung machte sich Weidenfeld aufgrund seiner vielseitigen Sprachkenntnisse bald einen Namen – übrigens auch als glänzender Stimmenimitator von Adolf Hitler. Man betraute ihn mit Kontakten zu den diversen europäischen Exilregierungen in London, und so machte er unter anderem Bekanntschaft mit Charles de Gaulle, dem damaligen Vertreter des freien Frankreich.

Den Fundus dieser Erfahrungen brachte er 1945 als Mitgift in die verlegerische Zusammenarbeit mit Nigel Nicolson ein, dem Sohn des großen Essayisten und Diaristen Harold Nicolson und seiner Frau, der Schriftstellerin Vita Sackville-West. Anfang 1949 hoben die beiden jungen Unternehmer, von Harold ­Nicolson auch finanziell unterstützt, den Verlag Weidenfeld & Nicolson aus der Taufe – noch heute eine nicht wegzudenkende Marke in der britischen Verlagslandschaft, auch wenn das Haus 1991 an die Orion Publishing Group überging und inzwischen unter dem größeren Dach von Hachette firmiert.

Israels erster Staatspräsident Chaim ­Weizmann lud Weidenfeld 1948 ein, sein Amtschef zu werden. Ein Jahr lang blieb der junge Politiker in Jerusalem, dann kehrte er wieder nach London zurück. Ende der 1960er-Jahre wurde Weidenfeld zum Sir geadelt, 1976 zog er als Lord ins britische Oberhaus ein.

Der Verlag Weidenfeld & Nicolson publizierte in seiner Anfangszeit einige aufsehenerregende Titel, darunter Vladimir Nabokovs Lolita. Weil Weidenfeld Strafverfolgung wegen des Vorwurfs der Pornografie befürchtete, ließ er zunächst nur eine kleine Auflage drucken und davon sieben Exemplare aufbinden, die er an die Regierung mit der Bitte schickte, das Werk zu prüfen und die Unbedenklichkeit zu bestätigen, was auch geschah. In der Folge spezialisierte sich der Verlag auf die Herausgabe wichtiger Werke zur europäischen Geschichte und auf Biografien, darunter die Memoiren von Charles de Gaulle, Konrad Adenauer, Harold Wilson, Golda Meir, ­Lyndon B. Johnson, Mosche Dajan, Henry Kissinger und Schimon Peres.

1985 expandierte Lord Weidenfeld in die Vereinigten Staaten und kaufte zusammen mit Ann Getty den Verlag Grove Press. Grove Press fusionierte später mit der New Yorker Niederlassung von Weidenfeld & Nicolson unter dem Namen Grove Nicolson. 1991 wurde Weidenfeld & Nicolson in Großbritannien von der Orion Publishing Group erworben, die Marke Weidenfeld & Nicolson jedoch für Sachbücher und Biografien beibehalten, die weiterhin von George Weidenfeld verantwortet wurden. 1993 fusionierte seine amerikanische Firma Grove Nicolson mit der Atlantic Monthly Press zur Grove/Atlantic Inc.

Lord Weidenfeld konnte sich dadurch aus dem verlegerischen Tagesgeschäft zurückziehen und mehr um die Kontakte zu namhaften Autoren kümmern. Ein weiterer Meilenstein für Weidenfeld & Nicolson war im Jahre 2005 die Herausgabe des biografischen Werks Erinnerung und Identität von Papst Johannes Paul II. Lord Weidenfeld war außerdem als Kolumnist der Berliner Tageszeitung Die Welt und der Wochenzeitung Bild am Sonntag tätig.

Nach 1991 und dem Verkauf des Verlages an die Orion-Gruppe begann für George Weidefeld sein zweites Leben – das des Brückenbauens in der zerklüfteten Landschaft der internationalen Diplomatie. Die Früchte seines globalen Bekanntheitsgrades setzte er seitdem zur Stiftung von Institutionen ein, mit dem Ziel, friedlichen Dialog und pädagogische Initiativen über alle Grenzen hinweg zu fördern.

So inaugurierte er zum Beispiel ein Zusammenwirken zwischen der Universität Oxford und zehn weiteren Elitestätten der Lehre und Forschung in aller Welt zur Förderung des wissenschaftlichen und menschlichen Austausches. Noch zahlreicher waren seine Treuhänderschaften an Instituten in England, den USA, Israel und Deutschland sowie seine Zusammenarbeit mit namhaften Unternehmen, etwa in Deutschland der ­Robert-Bosch-Stiftung, der Personalberatungsfirma Roland Berger oder der Axel Springer SE.

Die freundliche Aufnahme in einer tiefgläubigen protestantischen Familie stiftete in Weidenfeld ein geradezu symbiotisches Verhältnis zum Christentum, der jüdisch- christliche Dialog prägte ein sehr wichtiges Anliegen seines Schaffens. Noch in seinen letzten zwei Lebensjahren setzte er sich für die in Syrien und im Irak verfolgten Christen ein – 2.000 katholische Familien fanden dank der finanziellen Unterstützung ­Weidenfelds und institutioneller Sponsoren Zuflucht in Polen und anderen Ländern der EU. Es war wie ein großes Danke, das der einstige Flüchtling dem humanen Geist schuldete, den er selber in einer christlichen Herberge vorgefunden hatte.

 

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