Wer in Israel nicht an Wunder glaubt, der ist kein Realist“, sagte einst Staatsgründer David Ben Gurion. Doch selbst dieser unverbesserliche Optimist wäre über die Frequenz, in der sich in den Räumen der Firma Tikkun Olam in Nord-Tel Aviv Mirakel ereignen, verblüfft: „Bis ich hierher kam, ging ich nur auf Krücken“, sagt Jossi Feuchtwanger, ein zuckerkranker Rentner. „Ich nahm neun verschiedene Tabletten am Tag und hatte dennoch Schmerzen in meinen Beinen. Und jetzt – keine Probleme mehr!“, sagt er lächelnd und stolziert behände durchs Zimmer. Auch seine Lungenkrankheit, die ihn einst an eine Sauerstoffflasche fesselte, sei so gut wie vergessen. Juda Haber neben ihm bekräftigt: „Hier haben sie mein Leben gerettet.“ Siebzehn Jahre lang litt er täglich unter bis zu 20 epileptischen Anfällen. Medikamente brachten keine Linderung, nur mehr Leid. Später entdeckte man bei ihm einen Tumor im Kopf. Tikkun Olam soll alles geheilt haben – ganz ohne Nebenwirkungen. Er kramt sein Handy hervor und zeigt mehrere MRT-Aufnahmen seines Hirns, auf denen das Geschwür dahinschmilzt. Den letzten Epilepsieanfall hatte er vor sechs Monaten. Egal ob Krebs, schwere Schmerzen, Tinnitus, Erkrankungen des Darms oder der Psyche, Autoimmunkrankheiten, Alzheimer, Autismus und viele andere mehr: die Liste der Leiden, bei denen das Wunderheilmittel von Tikkun Olam wirksam sein soll, ist ellenlang. Dabei setzt die Firma auf eine Pflanze, die Heiler seit rund 12.000 Jahren anwenden: Cannabis.
Sollte sich nur ein kleiner Teil der Hoffnungen erfüllen, handelt es sich „um die wichtigste Wende in der Medizin seit Entdeckung des Penizillins“ schrieb ein Experte.
Tikkun Olam ist Teil eines globalen Trends. Immer mehr Experten betrachten Marijuana nicht mehr als gefährliche Droge, sondern als Heilkraut. Außer 23 US-Bundesstaaten gestatten Großbritannien, Kanada und Tschechien seine medizinische Anwendung. Vier Bundesstaaten erlauben, wie die Niederlanden auch, die freie Nutzung. Ausgerechnet die ultra-konservative, religiöse Regierung in Jerusalem will sich nun an die Spitze dieses Wandels setzen und den Staat zur internationalen Hochburg für Cannabis machen. Israel – das Highlige Land.
Dabei sind die Regelungen hier bereits liberal. Patienten mit ärztlicher Genehmigung erhalten für eine Flat-Rate von umgerechnet 90 Euro im Monat so viel Cannabis wie sie brauchen. Auf der Ibn-Gvirol Straße, die größte Hauptstraße in Tel Aviv betreibt die bereits zum Marktführer aufgestiegene Firma Tikkun Olam einen gut bewachten Outlet. Nebenan verkauft man außer Haschisch-Souvenirs auch Bongs und Utensilien für den Hanfkonsum. Eine Reform des ultra-orthodoxen Gesundheitsminister Jakob Litzman soll nun tausenden weiteren Patienten den Zugang zum Hanf erleichtern und unbürokratisch Lizenzen für dessen Anbau vergeben. Justizministerin Ayelet Shaked will den Gebrauch entkriminalisieren. Wer mit weniger als 15 Gramm Gras erwischt wird, soll straffrei davonkommen. Wer mehr bei sich hat, wird lediglich eine Buße zahlen müssen.
Der religiöse Landwirtschaftsminister Uri Ariel sieht in der Pflanze gar die Rettung für Israels Bauern. Geht es nach ihm, wird Cannabis, neben geschliffenen Diamanten, Waffen, Computerchips, Orangen und der Cherrytomate, in zwei Jahren Israels neuester Exporthit. Tschechien wollte bereits kaufen – schließlich ist der Hanf aus Israel billiger und hochwertiger als Cannabis aus Holland.
Der Weltmarkt ist riesig: Schon jetzt beträgt der Wert des legalen und illegalen internationalen Cannabis-Handels mehr als 150 Milliarden US-Dollar im Jahr. Allein in den USA rechnet man mit einer Umsatzsteigerung von heute 5,7 Milliarden auf 23 Milliarden US-Dollar im Jahr 2020. Doch noch dürfen Israels Hanfbauern nicht frohlocken. Und nicht nur, weil ein Teil des Kabinetts fürchtet, Israel könne ein Image des „Weltdealers“ anhaften. Auch die Pharmaindustrie versuche den Fortschritt von Cannabis zu blockieren, argwöhnt die Branche: „Die Pharmagiganten fürchten einen Naturstoff, den Patienten daheim kostenlos anbauen und gefahrlos einnehmen könnten. Das bedroht den Absatz teurer Medikamente, deren Effekt trotz schwerer Nebenwirkungen in manchen Fällen viel geringer ist“, meint ein israelischer Cannabisunternehmer, der ungenannt bleiben möchte, und fügt hinzu: „Es ist kein Zufall, dass gerade in Deutschland, dem Land von Bayer, Boehringer und Merck, nur 500 Menschen Cannabis für ihr Leiden erhalten“, wettert er. In Israel sind es schon heute mehr als 23.000.
Dennoch träumen Israelis dieser Tage in Tel Aviv auf der Ersten Internationalen Cannabis-Konferenz von riesigen Geschäftsmöglichkeiten. Denn beim Gras hat ihr Land die Nase ganz weit vorne dank einer Person: Dem Pharmakologen Professor Raphael Mechoulam von der Hebräischen Universität in Jerusalem. Er gilt als „Großvater des medizinischen Cannabis“. Mechoulam erforscht die Pflanze seit Jahrzehnten und überzeugte Politiker, dass daran nichts verpönt ist. Bislang wurden weltweit mehr als 20.000 wissenschaftliche Arbeiten über Cannabis veröffentlicht. Doch wenn es um die klinische Anwendung geht, kommt niemand an ihm vorbei. Schon 1963 isolierte er aus den rund 1.000 Substanzen den Immunomodulator Cannabidiol (CBD), das Molekül, das für den therapeutischen Effekt verantwortlich ist – ohne high zu machen. Ein Jahr darauf entdeckte er auch den Stoff, der die Bewusstseinsänderung bewirkt – Tetrahydrocannabinol (THC).
Dreißig Jahre später fand Mechoulam die Endocannabinoide – die Rezeptoren, an denen Cannabis im Hirn andockt. In wissenschaftlichen Studien belegte er die Effektivität von Hanf bei zig Krankheiten. Unter seiner Anleitung seien israelische Firmen wie Tikkun Olam „an 80 bis 90 Prozent aller weltweiten Patente für Cannabis beteiligt“, so Joseph Wyse, Leiter des Patentbüros der israelischen Kanzlei Eyal Bressler & Co, in einem Interview für eine israelische Zeitung. Das wundert nicht, kommen hier doch Fachwissen auf höchstem Niveau mit fortschrittlicher Medizin, einer liberalen Politik, hochmoderner Landwirtschaft, Unternehmergeist und dem idealen Klima für den Anbau von Hanf zusammen.
In den grasgrün getünchten Räumen von Tikkun Olam sieht man das Resultat. Seit ihrer Gründung, 2010, hat die Firma mehr als 10.000 Patienten behandelt und „eine der größten klinischen Cannabis-Datenbanken weltweit“ aufgebaut, sagt Krankenschwester Inbal Satorin. Ein Prospekt der Firma listet 16 verschiedene Sorten von Cannabis auf – eigene, patentierte Züchtungen mit spezifischen Wirksamkeitsprofilen.
Jossi Feuchtwanger erhält zwei verschiedene Produkte – Alaska und Eres: „Zwei Züge genügen, und ich habe fast sofort keine Schmerzen mehr“, sagt er. Bevor er die Praxis verlässt, fügt er noch augenzwinkernd hinzu: „Abends nehme ich gern auch mal vier Züge, das gibt dann auch ein angenehmes High.“