Mit der Gegenwart in Israel setzt sich der Film Beyond the Mountains and Hills auseinander, die bisher dritte Regiearbeit von Erin Kolirin – und wahrscheinlich eine, die Kontroversen auslösen wird.
Der Film taucht tief in die komplexen Gefühle von Menschen ein, die von den politischen Spannungen in Israel geprägt sind und erst nach einer klar definierten politischen, sozialen und emotionalen Zugehörigkeit suchen müssen. David, ein ehemaliger Soldat, hat 22 Jahre bei der Armee gedient. Nun ist es Zeit für ihn, als Zivilist seine Rolle im Heimatland Israel zu definieren, doch er merkt schnell, dass es ihm nicht leichtfällt, sich an die neuen Umstände zu gewöhnen. Außerhalb der Armee muss er nun selbst zwischen Gut und Böse, zwischen Recht und Unrecht unterscheiden und ob es schwer oder leicht ist, Israelis und Araber diesen Kategorien zuzuordnen. David wird damit gewissermaßen zur Metapher für das Land Israel selbst. Davids Frau, eine Lehrerin, und seine Kinder – beide an der Schwelle zum Erwachsenwerden – haben mit ähnlichen Problemen zu kämpfen und geraten dabei immer wieder in Konflikte zwischen palästinensischen und jüdischen Freunden. Konflikte, die auch den Zusammenhalt der Familie vor eine Zerreißprobe stellen.
Verstärkt wird die emotionale Berg- und Talfahrt der Protagonisten durch den Einsatz von kommentierenden Pop-Songs. Auch die Schauplätze der Handlung unterstreichen die Gefühlslage der Menschen. David und seine Familie leben auf einer Seite eines kargen, unbeleuchteten Hügels – die Araber auf der Talseite – zwischen ihnen ein Niemandsland, in dem Begegnungen zwar möglich sind, aber nicht auf gleicher Ebene. Gibt es einen Begegnungsort „Jenseits der Berge“? Der Film setzt voraus, dass ein solcher Ort existiert, aber noch ist er eine „Terra incognita“, ein unerforschtes Terrain.
INW: Woody Allen setzt sich in Café Society auf heiter-nostalgische Weise mit einem Teil der jüdischen Vergangenheit auseinander, während Sie in Beyond the Mountains and Hills das heutige Israel beleuchten – wie übrigens in allen Ihren Filmen. Ist Ihnen die Gegenwart wichtiger?
Erin Kolirin: Jeder Film ist eine Auseinandersetzung mit der Gegenwart, auch wenn er von der Vergangenheit erzählt. Auch wenn wir historische Geschehnisse in Bilder umsetzen sind die Menschen, die vor und hinter der Kamera agieren, Teil der Gegenwart und ihr Blick auf die Vergangenheit lässt daher immer Rückschlüsse auf die Gegenwart zu. Israel ist aber in dieser Hinsicht ohnehin ein Sonderfall, denn das Land ist noch so jung, dass ein historischer Rückblick begrenzt ist. In Österreich ist das anders. Ihr Land hat eine lange Geschichte und entsprechend weit zurückreichende Traditionen.
INW: Aber reicht nicht die Geschichte der Juden noch viel weiter zurück?
E. K.: Natürlich ist die Geschichte der Juden älter als die der meisten Länder und Völker, aber Israel ist meiner Ansicht nach keine logische Fortsetzung der jüdischen Tradition. Israel ist eine Erfindung, die die Existenz des jüdischen Volkes garantieren sollte. Als israelischer Filmemacher kann ich mich nur mit der Gegenwart auseinandersetzen, weil auch die Zukunft meines Landes unsicher ist – und mit dieser Unsicherheit kämpfen auch die Charaktere in meinem Film. Sie sehnen sich nach einer sicheren Heimat.
INW: Was ist Heimat für Sie?
E. K.: Heimat bedeutet für mich, dass wir und unsere Nachbarn einander ohne Vorbehalte akzeptieren können. Jeder Mensch, der ein anständiges Leben führt, sollte vom anderen als guter Mitbürger gesehen werden, egal welcher Herkunft oder Religion er ist. Ich möchte mich nicht schuldig fühlen müssen, weil ich Israel als mein Heimatland bezeichne.
INW: Fühlen sich die Protagonisten Ihres Films ebenfalls schuldig?
E. K.: Ja, weil sie zumindest finanziell eine sichere Existenz haben und in einer netten Wohnung leben und dazu noch ein schönes Auto besitzen. Aber sie ahnen, dass den Preis dafür andere zahlen, die auf der Schattenseite der Gesellschaft, jenseits des Wohlstands-Berges leben. Sie beschließen aber letztendlich, die Augen vor dem Abgrund, den sie als Individuen nicht überbrücken können, zu schließen.
INW: Es gibt eine sehr starke Szene im Film, die das wechselseitige Misstrauen der Menschen in Israel illustriert: Ein junger Palästinenser bittet Davids Tochter, einem Freund auf der anderen Seite des Berges, eine Reisetasche zu überbringen. Von Zweifeln geplagt öffnet sie schließlich die Tasche, der Inhalt ist aber harmlos und unverdächtig.
E. K.: Mit dieser Szene wollte ich zeigen, dass in gewissem Sinne jeder Mensch ein schweres Gepäck zu tragen hat, das von den Politikern beider Seiten gefüllt und aufgeladen wurde.
INW: Am Ende des Filmes sagt der Vater: „Wir sind gute Menschen und ich will nicht, dass uns irgendjemand sagt, dass wir das nicht sind“. Wie sind diese Worte zu interpretieren?
E. K.: Diese Szene wollten viele Kritiker missverstehen. Ich wurde immer wieder von Journalisten gefragt: „Glauben Sie wirklich, dass die Israelis gute Menschen sind? “ Ich finde diese Frage in höchstem Maße unanständig, denn sie klingt so, als wollten sie uns allein die Schuld am Nahostkonflikt und am Elend dieser Welt zuweisen. Sie haben offenbar nicht begriffen, dass man selbst nicht besser dasteht, wenn man auf andere herabsieht. Die Journalisten, die hier in Cannes mit dem Champagnerglas in der Hand über uns Filmemacher urteilen, leisten wahrscheinlich kaum einen Beitrag zum Nahost-Frieden. Ich versuche wenigstens, einen Beitrag zu leisten, indem ich an Demonstrationen teilnehme und Filme mache, die zum Diskurs anregen.