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Jüdische Philosophen des Neukantianismus

Gipfelpunkt deutsch-jüdischen Geistes

Das Verhältnis von Juden und Deutschen wird häufig als belastet und schwierig empfunden. Es gibt jedoch bemerkenswerte Bereiche in Philosophie und Wissenschaft, in denen sich das jüdische Genie mit dem deutschen Genie in einer solch harmonischen und in sich logischen Weise verbunden hat, dass beide Denkkulturen und Traditionen zu absoluten Höhenflügen geführt wurden. Dies ist weithin bekannt für Albert Einstein und die Vielzahl deutsch-jüdischer Denker in der Theoretischen Physik. Weniger bekannt sind Glanzpunkte wie der einzige deutsche Schachweltmeister, Emanuel Lasker. (1868-1941)
Als „Lichtgestalten“ gehandelt werden zumindest jene jüdischen Philosophen, die den erwünschten westlichen Strömungen um die Mitte des 20. Jahrhunderts entgegenkamen, wie Ludwig Wittgenstein und Karl Popper. Viel weniger bekannt sind aber im Allgemeinen jene jüdischen Denker und Philosophen, die zur Schule der Neukantianer gerechnet werden, wie Hermann Cohen, Ernst Cassirer, Richard Hönigswald, Jonas Cohn, Emil Lask, Paul Friedländer, um nur die prominentesten zu nennen.  
Doch was versteht man unter Neukantianismus? Es war dies eine der zentralen philosophischen Strömungen des 19. und 20. Jahrhunderts, die unter dem Schlachtruf „Zurück zu Kant!“ versuchte, die wesentlichen Elemente der Philosophie Immanuel Kants zu bewahren und gleichzeitig eine Modernisierung seiner Philosophie der Vernunft dergestalt durchzuführen, dass Kants Denken einerseits mit den modernen Wissenschaften kompatibel wurde und zugleich seine Stärke als Philosophie der Gerechtigkeit und säkularer Vernunft ausspielen konnte. Damit sollte es einerseits gelingen, das damals vielfach auf religiösen Grundlagen beruhende Denken zu überwinden, und andererseits zur Leitphilosophie einer aufgeklärten und wissenschaftszugewandten Gesellschaft zu werden.
Ein weiterer, wesentlicher Zug, z.B. der Marburger Schule, war es, das rationalistische Element durch den Rückbezug auf Platon und Descartes bei Kant wieder zu stärken, weil es Kant in seinem Bemühen, einen Kompromiss zwischen dem englischem Empirismus eines John Lockes und ­David Humes und dem klassischen Rationalismus von Gottfried Wilhelm Leibniz und Christian Wolff herzustellen, etwas in den Hintergrund gedrängt hatte. Deshalb heißt sein Hauptwerk auch Kritik der reinen Vernunft und nicht etwa Kritik der vernunftlosen Sinnesempfindungen. Außerdem bestand ein einigendes Band zwischen Platon, Descartes und Kant im grundlegenden Vertrauen auf die evidente Logik von Mathematik und Geometrie.
Der Neukantianismus war, was heute vollkommen vergessen ist, nicht nur die bestimmende und vorherrschende philosophische Strömung in Deutschland von ca. 1860 bis 1918, sondern bis zum Ersten Weltkrieg auch in England. Die letzten Vertreter der Schule in Deutschland wurden von den Nazis ab 1933 systematisch ihrer Ämter enthoben und verfolgt. Sie emigrierten fast gänzlich in den anglo-amerikanischen Raum. Nach 1945, wie schon aus tausenden Biographien großer Denker und Forscher bekannt, bestand kein Interesse, diese legendären Denker zurückzuholen. Aus diesem Grund erschienen deren Werke teilweise nur noch auf Englisch und wurden im deutschsprachigen Raum kaum noch rezipiert. Daher überlebte der genuine Neukantianismus nur in einigen kleinen universitären Enklaven von „Wissenden“.
Wie erklärt sich nun die Attraktivität des Neukantianismus für die Generation deutscher und österreichischer Juden um die Mitte des 19. Jahrhunderts einerseits und andererseits die große Bedeutung, die einige ihrer prominenten Vertreter für die Entwicklung des Neukantianismus hatten?
Betrachtet man die Biografien der zwei oder drei berühmtesten jüdischen Exponenten des Neukantianismus, Cohen, Cassirer und ­Hönigswald, so finden sich etliche Parallelen. Hermann ­Cohen, als Begründer der Marburger Schule etwas früher geboren (1842), Ernst Cassirer (1874) und Richard Hönigswald etwas später im 19. Jahrhundert (1875), entstammten bürgerlichen jüdischen Familien aus der Nähe Dresdens, Breslaus, bzw. Ungarisch-Altenburg, waren vollkommen gleichberechtigt in die jeweiligen Kaiserreiche integriert, besuchten hervorragende, teils geistliche Gymnasien und konnten ohne Probleme an den besten Universitäten des Kaiserreiches studieren. Es muss eine Generation gewesen sein, welche den teils ärmlichen Verhältnissen der Juden des 18. Jahrhunderts entwachsen war und aufgrund der erfahrenen Gleichstellung und Integration bereit und begierig waren, ihren Teil zur geistigen Kultur und zum Fortschritt und Wohlergehen ihrer jeweiligen Heimatländer beizutragen. Sie beherrschten die deutsche Sprache meisterhaft und erlernten neben den zu Hause gesprochenen Idiomen noch Griechisch und Latein und lasen französische oder englische Philosophen im Originaltext.
Auch solche Migranten gab es einmal, die Sprache und Kultur ihrer neuen Heimat nicht nur besser beherrschten als deren Durchschnittsbürger, sondern auch kulturelle und wissenschaftliche Spitzenleistungen einbrachten. Etliche dieser Philosophen dienten zudem in den jeweiligen Armeen – der Neukantianer Emil Lask fiel zum Beispiel 1915 in Galizien.
Kant war seinerzeit von besonderem Wert für diese Generation, weil er eine säkulare, vernunftbasierte, humanistische Philosophie der Gerechtigkeit entwickelt hatte, die mit den Zielen und Motiven der Aufklärung im Einklang stand, zugleich aber auch für die Wissenschaften und im Alltag operationalisierbar war, was von einer, zuvor vorherrschenden, hegelianischen Philosophie einfach nicht erwartet werden konnte.
Unter den Hauptexponenten des Neukantianismus gibt es nun zwei prominente Vertreter, nämlich Hermann Cohen, den Begründer der Marburger Schule und seinen berühmten Schüler, Ernst Cassirer, die zwei unterschiedliche, idealtypische Wege jüdischer Denker im deutschen Sprachraum im Spannungsfeld zwischen talmudischer Tradition und agnostischer Vernunftphilosophie darstellen. Hermann Cohen entstammte der Familie eines Kantors, lernte und studierte zügig und publizierte seine ersten Schriften in der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, welche Chajim Heymann Steinthal gemeinsam mit Moritz Lazarus herausgab. Bekanntheit erlangte er bald durch seine klugen Stellungnahmen im Trendelenburg-Fischer Konflikt, berühmt und zur Instanz in der deutschsprachigen Philosophie wurde Cohen jedoch durch die Neuinterpretation Kants in: Kants Theorie der Erfahrung. 1876 wurde er der Nachfolger Friedrich Albert Langes in Marburg auf dessen Betreiben. Cohen interpretierte die Kantische Philosophie zunehmend aus der Perspektive eines an Platon orientierten Idealismus, was schließlich in seiner Logik der reinen Erkenntnis gipfelte...

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