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Neuer Religionskrieg?

In Israel und Palästina ist es eine Zeit martialischer Reden. Israels Premier Benjamin Netanjahu spricht davon, dass ein „Krieg um Jerusalem“ begonnen habe.

Von rechts drängen ihn religiöse Extremisten, Juden endlich neue Rechte auf dem heiligen Tempelberg in Jerusalem einzuräumen. Auf der anderen Seite ruft der palästinensische Präsident Mahmud Abbas seine Anhänger dazu auf, „alles zu tun“, um zu verhindern, dass Juden die Al Aqsa Moschee durch ihre bloße Präsenz entweihen. Die Hamas fordert eine dritte Intifada im Westjordanland und warnt nach einer Reihe von Attentaten, in denen Fahrzeuge zu Mordwaffen wurden, die Israelis hämisch: „Ihr seid vor keinem Auto mehr sicher!“ Eine Woche, nachdem die Führungen beider Seiten in Amman Deeskalation versprachen, eskalieren Attentate und Vergeltungsmaßnahmen. Juden werden in Synagogen totgehackt, Häuser toter Attentäter abgerissen und arabische Stadtteile vom Zentrum Jerusalems abgeschnitten. Hat der Konflikt jetzt eine neue Qualität? Wird aus einem lösbaren Streit über ein Stück Land jetzt ein unlösbarer Religionskrieg?

Die Antwort auf diese Fragen ist – wie so oft im Nahen Osten – ein eindeutiges Nein, und ein klares Ja.

Die jetzigen Ereignisse sind nur für den neu, der die Geschichte des Konflikts nicht kennt. Schon 1920 löste der Unmut über jüdische Einwanderung nach Palästina das erste Pogrom aus. In den Nebi Mussa Unruhen stürmte ein arabischer Mob aus der Al Aqsa Moschee in Jerusalems Altstadt um Juden zu lynchen. 1929, neun Jahre später, ging wieder Gewalt vom Tempelberg aus. Genau wie heute war auch damals die von einem radikalen Mufti instrumentalisierte Angst davor, Juden könnten die Al Aqsa Moschee zerstören, Anlass für Gewalt. Die Jahrhunderte alte jüdische Gemeinde Hebrons wurde in einem Massaker ausgelöscht. Auch jüdische Terroristen agieren mit religiöser Gewalt: Extremisten stecken Moscheen in Brand, ein Siedler verübte ein blutiges Massaker in Abrahams Grab in Hebron. Doch nichts ist so heikel wie die Al Aqsa Moschee auf dem Tempelberg: Als Israels späterer Premier Ariel Sharon diesen Ort im Jahr 2000 besuchte, diente das dem Palästinenserführer Jassir Arafat als Vorwand, eine Terrorkampagne zu starten, die als zweite Intifada Geschichte machen würde.

In gewisser Hinsicht war der israelisch-palästinensische Konflikt also von Anfang an ein Religionskrieg. Jedoch nicht so, wie man diesen Begriff in Europa versteht. Religion bedeutet im Nahen Osten nämlich etwas anderes als in Europa.

Spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg ist Religion in Europa eine sehr persönliche Angelegenheit – eine Glaubensfrage. Sie gibt Antwort auf Fragen wie: Gibt es Gott? Was ist der Sinn des Lebens? Was geschieht nach dem Tod? Was ist Moral?

Im Nahen Osten hingegen beantwortet Religion ein anderes Set von Fragen. Fragen wie: In welchen Kindergarten schicke ich meine Kinder? Wer unterstützt mich, wenn ich arbeitslos bin? Wer stellt mir einen Sack Reis vor die Haustür, wenn ich Hunger habe? Und ganz besonders: Wer schützt meine Familie, wenn sie bedroht wird? In einer Region, in der Nationalstaaten nie richtig funktionierten, lautet die Antwort auf diese Fragen: Für einen Muslim, andere Muslime. Für Juden, andere Juden. Und für Christen – niemand. Deswegen verlassen sie heute die Region in Scharen.

Religion bedeutet im Nahen Osten heute das,was die Nation für das Europa des 19. Jahrhunderts war: Der zentrale Kristallisationspunkt für die Identität verschiedener Gruppen, die gegeneinander um Ressourcen und Macht kämpfen. Selbst die marxistische palästinensische Terrororganisation PFLP bekannte sich deswegen zum Attentat in der Synagoge, mit dem sie die Al Aqsa Moschee verteidigen wollte. Auf der anderen Seite ist selbst eine säkulare israelische Identität ohne die Klagemauer schlicht undenkbar. Und so ist der Kampf zwischen Israelis und Palästinensern das, was er schon immer war: Ein Krieg zwischen zwei Gruppen, die sich selbst auch über religiöse Merkmale definieren.

Und dennoch ist mindestens eine Sache an der jetzigen Eskalation neu: Sie ereignet sich, nachdem scheinbar alle Lösungsansätze scheiterten. Verhandlungen, einseitige Rückzüge und Gewaltanwendung schlugen fehl. Das macht alle außer den Extremisten ratlos. Gab es früher trotz allen Hasses immer noch Brücken zur anderen Seite, aus denen neue Anfänge sprießen konnten, sind heute die meisten Verbindungen gekappt. So sind die Unruhen von heute eine Reprise vergangener Wellen der Gewalt – nur mit noch weniger Hoffnung.

Ben Daniel

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