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Quo vadis Europa?

Die Zeit ist reich an Tagen der Erinnerung. Genau vor 70 Jahren, am 6. Juni 1944, kamen tausende junge Männer aus vielen Ländern der Welt nach Europa, um unter tödlichem Geschützfeuer, das aus der Höhe der Klippen kam, am Strand der Normandie durch die Opferung ihres jungen Lebens die Endschlacht zu beginnen.

Es war der Kampf der Befreiung Europas von der verbrecherischen Umklammerung des nationalsozialistischen Deutschlands. Die Verbrüderung aller Europäer, die sich durch Flucht, später durch Aufstände in der Illegalität, dem Kampf verschworen hatten, um Hitler zu besiegen, war die Basis der späteren politischen Einigung Europas nach zwei verheerenden Großkriegen, die den Kontinent bis auf die Grundfesten zerrüttet und zerstört hatten. Das Vermächtnis der Helden der Normandie war die einzige Schlussfolgerung, die die Opferung ihres jungen Lebens zuließ: nie wieder Krieg!

Vor zwanzig Jahren trat ein kleines europäisches Land, damals ganz am Rande des sich konstituierenden freien und demokratischen Europa, als das Erbe des Krieges den Kontinent noch tief spaltete, der Europäischen Gemeinschaft bei. Obwohl der Langzeitkanzler und Großpolitiker Bruno Kreisky zu seiner Zeit von so einem Schritt nicht ganz überzeugt gewesen war, stimmten über 66% der Österreicher für diesen historischen Entschluss und alles jubelte. Wir waren Europa und stolz darauf. Die Europäische Union bedeutete vor allem Demokratie, Wohlstand und Frieden für immer. So war es schon im Kleinen – und es sollte im Interesse aller immer tiefer verankert, weiter wachsen. In der Tat zählt die EU heute 28 Mitgliedsstaaten – durch den Fall des Kommunismus wurde Europa erst wirklich frei und die EU der Garant für das größte Projekt aller Zeiten: die Erhaltung von Demokratie und Freiheit.

Aber die Menschheit ist von Natur unruhig, labil, opportunistisch, und leidet an kurzem Gedächtnis und an Erinnerungsschwund. Nach den kürzlich erfolgten Europawahlen hat sich uns allen eine Gegenwart offenbart, die besonders die Kriegs- und Nachkriegsgeneration nie erwartet hätte: der Aufstieg von Schlagwort-Politikern alter Schule, die nicht nur ein Gedankengut verbreiten, dessen Inhalte niemand mehr für möglich hielt, sondern vor allem das Ziel verfolgen, die Gemeinschaft zu zerschlagen.

Mit dem Wohlstand kommt der Übermut, mit Schwierigkeiten der Unmut, mit dem Unmut wächst die Demagogie, und plötzlich ist Europa von einer Welle rechtsextremer Politiker überschwemmt, die die Union in ihren Grundfesten erschüttert. Die Erfahrung lehrt, dass Strömungen, die von ganz rechts kommen, nie bagatellisiert werden dürfen. Dass es heute in Europa in vielen Ländern starke Strömungen dieser Art gibt, die immer auch mit Antisemitismus einhergehen, muss die Alarmglocken läuten lassen. Die Bewegungen, die man nicht übersehen darf, auch wenn sie in den meisten Ländern einstweilen nur Randerscheinungen sind, arbeiten daran, im Europäischen Parlament Blöcke zu gründen und viel mehr Einfluss zu gewinnen. Von der neuen britische Rechtspartei und der Front National von Martine Le Pen spannen sich die Fäden nach Italien, Holland und Skandinavien und üben schon jetzt, noch vor der Konstituierung des Europa-Parlaments, großen Einfluss aus, so dass sogar der britische Premier, um Schritt zu halten, der Union mit Austritt droht. Man sieht, dass Europa wieder in eine Mentalität zurückfällt, die tausend Jahre lang durch Egoismus und Herrschsucht gekennzeichnet war, was schließlich zur Folge hatte, das zwanzigste Jahrhundert zum Höhepunkt von Krieg und Zerstörung zu führen. Davor kann man nicht genug warnen.

Die neu zu bestellende Kommission, die Personen, die die Führungspositionen in Brüssel einnehmen werden, stehen noch nicht fest, und man kann nur hoffen, dass alle, die in Zukunft die Verantwortung tragen werden, sich nicht wie der britische Premier unterkriegen lassen, sondern den neuen Strömungen zeigen werden, wie das Wohl des Kontinents erhalten werden muss: Einheit, Pluralismus, Antifaschismus, gegen Demagogie und für eine ungebrochene Entwicklung der demokratischen Vielfalt in toleranter und vorwärtsstrebender Zusammenarbeit des Kontinents.

Natürlich kann nicht übersehen werden, dass sich in vielen Ländern Europas wirtschaftliche und finanzielle Probleme breitgemacht haben, die die Union derzeit nicht ­bewältigen kann, auch wenn man bedenken muss, dass die Krise ohne die EU noch viel schlimmer wäre. Natürlich wird diese missliche Lage von allen Rechtsparteien genützt, um die EU zum Sündenbock abzustempeln, um Propaganda für den Austritt aus dem Euro und für andere verantwortungslose Schritte zu machen. Leider gelingt es, viele Menschen mit solchen Parolen zu beeinflussen. Die Union muss ein klares Bild ihrer Gegner vor Augen haben und eine Politik gestalten, die diesen Feinden den Wind aus den Segeln nimmt, um das Erreichte beizubehalten und stets zum Wohle des Kontinents weiterzuentwickeln.

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