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Rudolf Kasztner und die Trotzkisten

Das Interview mit Colin Shindler, emeritierter Professor der SOAS-Universität in London und Autor zahlreicher Bücher, führte Karl Pfeifer

INW: In Ihrem Buch Israel and the European Left berichten Sie über trotzkistische Flugzettel, die in Jerusalem 1940 verteilt wurden und mit denen die Trotzkisten, zu einer Zeit, als Großbritannien allein gegen die Nazis Krieg führte, junge Juden im Mandatsgebiet aufriefen, nicht zum britischen Militär zu gehen. Ich selbst sah diese im Archiv der Hagana in Tel Aviv.

Colin Shindler:  Diese kamen hauptsächlich vom Spartacus-Bund. Einer ihrer Anführer war Jigael Glückstein, der aus der zionistischen Elite kam. Später wurde er im Vereinten Königreich (UK) bekannt als Tony Cliff, der die Socialist Workers Party, die berüchtigte SWP, gründete. Als 15jähriger sympathisierte er mit den Stalinisten, mit 16 engagierte er sich in den Ha Hugim, Ha Marksistim (in den marxistischen Gruppen), die zur linken Poale Zion gehörten. Am Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde er von den Briten verhaftet. Im Oktober 1940 war er ein Anführer des trotzkistischen Spartacus-Bund, der versuchte Studenten der Hebräischen Universität Jerusalem zu überzeugen sich nicht zur britischen Armee rekrutieren lassen. Er sah den Krieg wie Stalin und Trotzki als einen Krieg rivalisierender Imperialismen. 1946, nach acht Jahren politischer Aktivität – es gab damals 30 Trotzkisten, davon 23 Juden und 7 Araber – wollte Glückstein seine Theorien anderswo verbreiten. Während im September 1946 zehntausende Juden von den DP- Lagern versuchten, Palästina illegal zu erreichen, fuhr Glückstein in die andere Richtung, in das UK.

INW: Viele Jahre später beschuldigten die Trotzkisten die Zionisten, sie hätten nicht genug getan, um Juden zu retten, obwohl die Zionisten damals keine Macht waren. Sie mussten gegen Deutsche, Türken und Briten tätig werden, hatten keine Erfahrung im Nachrichtenwesen, keine Armee und keine Flotte, trotzdem haben sie Juden gerettet, wo immer es möglich war. Die Trotzkisten jedoch kümmerten sich hauptsächlich um die Weltrevolution und nicht um die Rettung von Juden und beschuldigen bis heute Rudolf Kasztner, er hätte die ungarischen Juden nicht informiert als ob dies möglich gewesen wäre und als ob diese ihm geglaubt hätten. Nun hat Paul Bogdanor ein Buch publiziert, in dem er Kasztner des Verrats beschuldigt…

C. S.: Ich habe das Buch gelesen und für die Jerusalem Post rezensiert. Mir ist die Rolle, die Kasztner damals gespielt hat, noch immer nicht klar. Er war in einer unglaublich schwierigen Situation. Er hat einige Familienmitglieder und Freunde gerettet, doch sogar Bogdanor erkennt an, dass viele seiner Verwandten und Freunde, die sich in Cluj-Kolozsvár befanden, nicht gerettet werden konnten. Es ist eine der traurigsten Perioden in der jüdischen Geschichte. Die Frage, die jeder beantworten müsste, ist, wie hätte man selbst gehandelt, hätte man in den Schuhen von ­Kasztner gesteckt. Ich denke, man hätte ihn nicht so behandeln dürfen. Zweifelsohne machte er Fehler. Kasztner war Abgeordneter der Mapai in der Knesseth. Er starb nach einem Anschlag von ehemaligen Lehi-Mitgliedern, die ihn feige erschossen. Das oberste Gericht Israels hat das Urteil des Bezirksgerichts aufgehoben, in dem ihm vorgeworfen wurde, ein Verräter des jüdischen Volkes gewesen zu sein. Ich bin nicht sicher, ob wir die ganze Wahrheit über seinen Fall erfahren werden. Ich glaube, er wurde oft mit politischer Motivation angegriffen. Zum Beispiel hat Herut, die von Menachem Begin geführte Partei ihn vor den Wahlen 1955 angegriffen, um politisches Kapital aus dieser Sache zu schlagen.

INW: Ihr letzter Vortrag in Wien handelte von den Erfolgen der Rechten in Israel. Israel hat eine rechte Regierung und es schaut so aus, als ob es keine Möglichkeit gäbe zum Regierungswechsel oder Änderung der Situation. Wie sehen Sie das? 

C. S.: Sie haben Recht, solange es Gewalt im Nahen Osten gibt, werden die Menschen dazu neigen bei Wahlen die Rechten zu wählen und es gibt keinen Raum für Fortschritte des Friedenslagers in Israel und in Palästina. Es gab in den letzten 20 Jahren keine politischen Initiativen von Benjamin Netanyahu, denn er kennt die Leute in seiner Regierung wie Naftali Bennet und Avigdor Liebermann, die diese bekämpfen würden. Sogar wenn Netanyahu einen Plan für Verhandlungen vorlegen würde, weiß er, dass die Rechtsextremisten in seiner Regierung dagegen wären. Mit ihrem Protest würde jede Initiative scheitern. Das möchte er nicht, denn sein Hauptziel ist, das Überleben seiner Regierung zu sichern.

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