Es ist eine allgemein bekannte Tatsache: Meir Shalev zählt zu den angesehensten Schriftstellern Israels und unter diesen wiederum zu den vielseitigsten. Dem israelischen Staatspräsidenten Ezer Weizman verhalf er zu einer klugen wie poetischen Ansprache im Deutschen Bundestag, die in Deutschland im Januar 1996 innerhalb und außerhalb der jüdischen Gemeinschaft reichlich für Gesprächsstoff sorgte.
Der Diogenes Verlag in Zürich veröffentlichte zwischen 1991 und 2017 elf Bücher von Meir Shalev, alle – bis auf einen Sammelband Alte Geschichten aus der Bibel – in der kongenialen deutschen Übersetzung von Ruth Achlama. Auch das aktuelle Werk Mein Wildgarten ist eine Sammlung von Geschichten, die sich allerdings rund um Shalevs Garten abspielen – bezaubernd illustriert von seiner Schwester Rafaella Shir.
Vor rund siebzehn Jahren hatte Shalev nach einer neuen Bleibe außerhalb der Stadt gesucht und war an einem Hang im Norden Israels in der Jesreelebene fündig geworden. Dort, wo seine Vorfahren – Einwanderer aus Weißrussland und der Ukraine – in einem Moschaw in hartem Tagwerk dem Boden das Nötigste zum Leben abrangen, und gleichzeitig nicht weit von dort, wo er selbst 1948 zur Welt gekommen war, fand er „ein einfaches, kleines Haus von der Sorte, wie man sie früher für Neueinwanderer baute”. Mit wenigen Pinselstrichen, pardon Worten, zieht er den Leser schon im ersten Kapitel Ein neues Zuhause in seine neue Welt hinein: „das Hellgrün der Tabor-Eiche, das Dunkelgrün der Kermes-Eiche, hier und da das glitzernde Grün eines Johannisbrotbaums und dazu das Grün der Terebinthen“. Wer hier an Beschreibungen und Pflanzenbezeichnungen aus der Bibel denkt, liegt nicht verkehrt. Shalev, der sich als Atheist begreift, kennt seinen Tanach hervorragend und wird den Leser in 48 literarischen Kabinettstückchen nicht nur durch den ewigen Kreislauf der Jahreszeiten, das Blühen und Verwelken, das Aufkeimen und Verdorren, das Fressen und Gefressen werden, die Symbiose und das Ringen von Mensch versus Natur, Mensch gegen Tier und der Tiere untereinander führen, sondern immer wieder anregende, lehrreiche Abstecher machen in biblische Geschichte(n), Landeskunde und Poesie. Man erfährt, welchen Aspekten der Industrialisierung der einst im Norden weit verbreitete Eichenwald zum Opfer fiel, dass Naomi Schemer in ihrem Rosch Haschana-Song die blühende Meerzwiebel, eine Lieblingspflanze von Meir Shalev, mit dem Seelenlicht vergleicht und wie im Gedicht zum Ersten Weltkrieg Auf Flanders Feldern Mohnblumen ebenso zur Poesie anregen konnten, wie 1948 in der belagerten Region Gusch Etzion bei Jerusalem.
Meir Shalev kann inzwischen Vogelarten an ihrem Ruf bzw. Gesang unterscheiden. Vögel, wie alle anderen Tiere, würden glauben, sein Besitz sei ihr Reich. Dabei sei er doch der einzige, der Steuern zahle. Den ältesten Besitzanspruch billigt er den Ameisen zu, die ihre Nester vielleicht seit Hunderten von Jahren an derselben Stelle pflegten. Er beobachtet ihre Betriebsamkeit, ihre bedingungslose Solidarität füreinander, die keine Wahlmöglichkeit in ihren Leben zulässt. Er zitiert König Salomo, der seinen, ohnehin schon arbeitssamen Gefolgsleuten, die immerhin den Ersten Tempel errichteten, vorhielt: „Geh zur Ameise, Faulpelz, schau und lerne von ihr“.
Meir Shalev begann seine Lesereise zu seinem neuesten Buch Mein Wildgarten, das zeitgleich 2017 in Israel erschien, in München und er weiß unterhaltsam über Begegnungen mit vielen Tieren zu berichten: einer Wildsau mit Jungen, vor der er sich nur durch einen beherzten Sprung auf seinen Gartentisch und aggressives Schreien retten konnte. Die durchaus gefährliche Wildschweinmutter schnaubte ihn an und zog ab, „sie wollte ihren Kindern die Schimpfwörter nicht länger zumuten“. Nicht weniger launig berichtet er über die sogenannte deutsche Wespe, eine von drei Arten, die seinen Garten und damit ihn, den „liberalen Demokraten“ heimsuchen und dabei doch Vegetarier seien; oder vom Campen in der Nähe von Schlangen (geht, weil die sich in der Regel schleichen) und von Skorpionen (geht nicht, weil sie am vertrauten Standort verweilen).
Vor rund vier Jahren schrieb Meir Shalev eine Kolumne über eine Blindmaus, die seinen Garten unsicher machte. Ratschläge bekam nicht nur er, sondern wohl auch die Blindmaus. Sie verschwand. Kaum erschien das Buch, in dem er die verschiedenen Phasen und Methoden seines vergeblichen Kampfes beschrieb und damit der Blindmaus ein literarisches Denkmal setzte, kehrte diese zurück und war nun zu zweit.
Shalev liebt es nahe zur Natur zu leben, sieht sich aber nicht als Gärtner, sondern glaubt, Wildblumen würden seine „unprofessionelle Behandlung verkraften“. In Israel, das ein Vielfaches kleiner als Deutschland ist und wo nur 1.200 Wildpflanzen nachgewiesen seien, gäbe es rund 2.700 verschiedene Wildpflanzen. Im Nahen Osten hätten es viele Pflanzen gelernt, trotz Wassermangel und Hitze zu überdauern. In der Wüste gäbe es Stellen, wo manche bis zu vierzig Jahre warteten, um nach einer Regenperiode auszukeimen und zu blühen. Solche Blumenmeere in der Wüste habe es zuletzt 1991 und 2004 gegeben.
Angesichts der humorvollen Naturbeschreibungen und Anekdoten könnte man auf die Idee kommen, Meir Shalev, der Peace-Now-Befürworter und kritische Jediot Achronot-Kommentator, habe sich in eine Naturidylle zurückgezogen. Weit gefehlt. Er ruft nur vieles in Erinnerung, was in der hochtechnisierten, konsumorientierten, kriegsgebeutelten israelischen Gesellschaft unter die Räder gekommen sein könnte: Die Liebe zum Land, das seit Jahrtausenden den Menschen die Lebensgrundlage bot und die Erinnerung an eine lange Tradition von Geschichte und Geschichten. Eine davon sammelt sich im Kaktus mit seinen stacheligen, saftigen Früchten, Synonym für die im Land geborenen Israelis: „Dabei, so Shalev, „ist die Pflanze selbst weder arabisch noch jüdisch, weder zionistisch noch antizionistisch, […] sondern ein Migrant. Er stammt aus Mexiko“.
Meir Shalev, der für seine eigenen beiden Kinder einst großartige Kinderbücher schrieb wie zum Beispiel Papa nervt – nach eigenem Bekunden seine „offizielle Biographie“ –, widmet Mein Wildgarten den Kindern seiner Tochter, Hadas und Sali. In einer Analyse des Gaza-Kriegs und seiner Folgen für die israelische Gesellschaft im Wochenmagazin Der Spiegel, Ende Juli 2014, formulierte Shalev, worin er die Stärke der israelischen Gesellschaft sehe: „Ihre Überlegenheit entstammt nicht der Aggressivität, sondern der gegenseitigen Hilfe, des Humors, der Zweifel und des Erfindergeists.“
Alle diese Eigenschaften, die Meir Shalev in seinem Garten auslebt, wünscht er sich offensichtlich für die nächste Generation wie für die israelische Nation. Sein Wildgarten ist ein lebensfrohes und lehrreiches, heiteres und ernsthaftes, kurz gesagt weises und unbedingt lesenswertes Buch – mit einem unerwarteten Blick auf das Land Israel.