Kurze Biografie: Amos Gitai, israelischer Filmemacher, geboren 1950 in Haifa. Der Vater, Munio Weinraub, ein Bauhausarchitekt aus Polen, der, von den Nazis verfolgt, nach Palästina floh. Er wird in Israel Bedeutung erlangen. Gitai studiert auch zunächst Architektur, bevor er sich dann dem Filmen zuwendet. Die Mutter, Efratia Margalit, eine in Palästina vor der Staatsgründung geborene Sabra, die weltliche Bibelstudien lehrte.
Seine filmischen Arbeiten und seine Familiengeschichte spiegeln die geschichtliche Entwicklung des Landes wieder und zeigen die tiefe Verbundenheit und Zerrissenheit zu seiner Heimat.
Als Regie-Autodidakt hat sich Gitai mit Dokumentarfilmen einen distinktiven eigenen Stil erarbeitet, der seither sein Werk prägt: eine Vorliebe für lange Einstellungen, gekoppelt mit komplexen narrativen Verknüpfungen zwischen inhaltlichen, strukturellen und visuellen Elementen, die durch den Schnitt hergestellt werden. Diese Arbeitsweise hängt auch mit seinem Misstrauen gegenüber der Trennung zwischen fiktional und dokumentarisch zusammen. Gitai entwickelte daher für seine Filme Strategien, die die Grenzen zwischen den Genres verwischen, indem er gespielte Szenen wie reale Ereignisse darstellt und dokumentarisches Material inszeniert.
„Eine Komödie“ nennt Amos Gitai seinen neuesten Film Tramway in Jerusalem. Das überrascht zunächst! Denn für Komödien ist der israelische Querdenker nicht wirklich berühmt. Sein reiches kinematografisches Werk setzt sich vielmehr mit den großen Themen des 20. Jahrhunderts auseinander: Krieg, Migration, Geopolitik und Religion. Das schnell wachsende Werk des äußerst produktiven Filmemachers – die Voraussetzungen dafür sind kleine Budgets sowie ein eingespieltes Team von Mitarbeitern – präsentiert sich wie ein Kaleidoskop, in dem bestimmte Motive und Typologien wiederkehren. So auch in seinem neuesten Episodenfilm A Tramway in Jerusalem, der zwar tatsächlich humorvolle Unter- und Zwischentöne hat, aber eher kafkaesk als komisch daherkommt. Er handelt von Zufallsbegegnungen in einer Straßenbahn, die mehrere Stadtteile von Jerusalem von Ost nach West verbindet. Gitai präsentiert darin ein Mosaik von Menschen unterschiedlicher religiöser und ethnischer Herkunft. Aus der Zufälligkeit realer Begegnungen und Trennungen in einer Bahn entwickelt der Filmemacher die Utopie eines friedlichen und friedfertigen Miteinanders. Es geht darin ums (Weiter-)Leben in einer inhomogenen und trotzdem humanen Gesellschaft. Wie in seinen vorhergegangenen Filmen wirkt die Handlung auch hier auf seltsame Weise entschleunigt.
Interview Amos Gitai
INW: Sie bezeichnen Ihren Film A Tramway in Jerusalem als Komödie. Hatten Sie da Ernst Lubitsch im Sinn, der einmal in Zusammenhang mit seine Hitler-Groteske Sein oder nicht sein meinte, dass Humor die wirkungsvollste aller Waffen sein kann?
Amos Gitai: Lubitsch war unglaublich smart und ich gebe ihm völlig recht, wenn er den Humor als Waffe begreift. Humor ist demaskierend und daher auf der Seite der Wahrheit – und letztendlich siegt immer die Wahrheit. Beim Einsatz von Gewalt gibt es nur Verlierer, vor allem moralisch.
INW: Ihr neuer Film erinnert im weitesten Sinne an Vicki Baums Roman Menschen im Hotel. Darin geht es ebenfalls um die Beobachtung von Menschen, die der Zufall – oder das Schicksal? – an einem Ort zusammenführt. Vicki Baums Hotel und Ihre Straßenbahn dienen dabei als expressionistische Paradigmen für gesellschaftskritische Betrachtungen. Wie sind Sie zu diesem Stilmittel gekommen?
A.G.: Ich habe erkannt, dass ich mit meinen Filmen die Welt nicht verändern kann. Ich kann ihr nur einen Spiegel vorhalten und hoffen, dass zumindest einige der Zuschauer darin auch ein kritisches Bild von sich selbst sehen. Um meinem Spiegel möglichst viele Facetten zu geben, habe ich diese Form einer Gesellschafts-Collage gewählt. Und wo treffen mehr Menschen unterschiedlicher Altersgruppen, Ethnien, Religionen und Weltanschauungen zusammen als in einer Bahn. Um von A nach B zu kommen, müssen sie zumindest einen Teil des Weges gemeinsam zurücklegen – was sie außerhalb dieses Fortbewegungsmittels niemals tun würden. In Jerusalem ist die Tramway daher einer der wenigen Orte, den Freunde und Feinde zumindest vorübergehend auf friedliche Weise teilen müssen. Es hat mich also fasziniert, die menschlichen Interaktionen auf diesem engen Raum zu beobachten und mit der Kamera festzuhalten.
INW: Was es schwierig, für diese Dreharbeiten eine Genehmigung zu bekommen?
A.G.: Es war erstaunlich leicht, weil der Chef der öffentlichen Verkehrsmittel in Jerusalem die Idee sehr gut fand. Er stellte nur die Bedingung, dass wir mit den Dreharbeiten nicht den Fahrplan durcheinanderbringen. Denn für jede Fahrplanänderung hätte er die Genehmigung von Politikern einholen müssen – und das wollte er unter allen Umständen vermeiden. Wenn die Politiker davon Wind bekommen hätten, wäre der Film wahrscheinlich gar nicht zustande gekommen. Die Kulturministerin will Filme am liebsten nur dann fördern, wenn sie quasi Propaganda für die israelische Regierung machen. Eine kritische Auseinandersetzung mit der derzeitigen Gesellschaft ist da nicht gefragt.
INW: Sie zeigen in Ihrem Film auch einen palästinensischen Rapper, der von einem Waggon in den nächsten geht und dabei sehr provokante Texte singt – und niemand beachtet ihn wirklich. Ist so etwas in der Jerusalem-Tramway wirklich möglich, oder ist das eine gestellte Szene?
A.G.: Ich bin froh, dass Ihnen diese Szene aufgefallen ist! Sie ist nicht gestellt. Ich war selbst überrascht, dass sich der palästinensische Rapper so unbehelligt durch die Bahn bewegen konnte. Ich habe dafür vor allem eine Erklärung: Die Menschen, die mit der Tramway in Jerusalem fahren müssen, – es gibt sonst für diese Strecke kein anderes öffentliches Verkehrsmittel – wollen für die Zeit, in der sie unterwegs sind, ihren Frieden haben. Das ist im Grunde eine großartige Metapher für unser ganzes Leben: Wir alle sind ja nur die kurze Strecke unseres Lebens gemeinsam unterwegs. Warum wollen wir nicht auch außerhalb der Bahn alles tun, um Frieden zu wahren. Wir müssen einander deshalb nicht lieben: Aber wir sollten miteinander, oder vielleicht auch nur nebeneinander, auskommen.
INW: Eine Figur kommt in Ihrem Film vor, die mit einem Schauspieler besetzt ist – Matthieu Amalric. Warum haben Sie das getan? Damit vermittelt sich doch den Zuschauern der Eindruck, dass alle Szenen gestellt sind.
A.G.: Um es gleich vorwegzunehmen: Alle anderen Szenen sind authentisch und haben sich so abgespielt, wie sie im Film vorkommen. Mathieu Amalric sollte im Film als Figur jene Menschen verkörpern, denen man im israelischen Alltag häufig begegnet, aber nicht so konzentriert darauf ist: die Touristen und Israel-Reisenden. Sie finden das Land schön, liegen gerne auf den Stränden herum, gehen gerne gut essen in Restaurants und versuchen dabei, all das zu verdrängen, was Israel auch ausmacht. Sie wollen nicht wahrhaben, dass Israel ein Land ist, das ständig in Verteidigungsbereitschaft ist – argumentativ und militärisch. Und genau davon handelt der kafkaeske Dialog zwischen dem von Amalric verkörperten „Touristen“ und den einheimischen Bahnreisenden, die von den Vorzügen Israels so völlig unterschiedliche Begriffe haben.
INW: Das bringt mich noch einmal darauf, dass Sie den Film als „Komödie“ bezeichnen, obwohl die Melancholie dieses menschlichen Miteinanders deutlicher hervortritt, als die Situationskomik.
A.G.: Und ich kann Ihnen darauf wiederum nur mit Ernst Lubitsch antworten. Sein oder nicht sein gilt zu Recht als eine der großartigsten Komödien der Filmgeschichte – aber der Hintergrund ist melancholisch, um nicht zu sagen tragisch: Juden versuchen das mörderische Hitler-Regime zu überleben und greifen deshalb zu allen Waffen, die Humor und Satire zu bieten haben. Ich will mich jetzt keinesfalls mit einem so großen Filmemacher wie Ernst Lubitsch vergleichen, aber sein Humor ist vom Alltag der Menschen inspiriert. Und das kommt – glaube ich – auch in meinem Film zum Ausdruck. Wir beobachten Menschen in ihrem Alltag als Bahnreisende und wir hören ihnen zu: Wie sie von Freunden, Kollegen, Familienmitgliedern und ihren Problemen reden und erzählen und wie sie mit Mitfahrenden interagieren. Der Humor und die Ironie liegen dabei im Auge des Betrachters – also des Publikums – und dessen Bereitschaft zur Selbsterkenntnis.