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Viva Arte Viva

Kunstmarathon in der Lagunenstadt

Alle zwei Jahre wird Venedig zu eines der Zentren der Kunst. Die zentrale Ausstellung der 57. Biennale di Venezia wurde heuer von Christina Macel vom Pariser Centre Pompidou kuratiert. Somit wurde diese Schau, die seit 1895 ihre Pforten öffnet, zum vierten Mal von einer Frau zusammengestellt. 

Macel hat Viva Arte Viva im Arsenale und im zentralen Pavillon in den Giardini in neun Themenschwerpunkte, bzw. Pavillons unterteilt, in denen sie die 120 geladenen Kunstschaffenden positioniert: Pavillon der Künstler_innen und Bücher, der Freuden und Ängste, der Gemeinschaft, der Erde, der Traditionen, der Schamanen, einen dionysische Pavillon, einen der Farben sowie einen Pavillon der Zeit und der Unendlichkeit. Der Focus dieser Schau liegt auf den Künstler_innen selbst, aber auch die Betrachter_innen sind gefordert mitzumachen. Zum Beispiel beim Basteln von Lampen mit Geflüchteten in Olafur Eliassons Green Light Project: ein Projekt, das übrigens im Thyssen-Bornemisza Art Contemporary (TBA21) im Wiener Augarten startete. Der Verkaufserlös der Lampen, 250 Euro, kommt NGOs zugute. 

Eine außergewöhnliche Installation hat Lee Mingwei aus Taiwan geschaffen. Von hunderten Spulen, die an der Wand befestigt sind, spannen sich Fäden durch den Raum zu einem Kleiderhaufen. Mitgebrachte, löchrige Kleidungsstücke werden auch vom Künstler selbst geflickt. Der philippinische Künstler David Medalla fordert die Besucher_innen auf, auf ein Stoffband zu nähen. Der Brasilianer Ernesto Neto hat mit Amazonas-Bewohner_innen einen Ritual-Ort für die Besucher_innen aufgebaut einen Ortes der Huni Kuin für Geselligkeit, Beratungen und Zeremonien. 

Es ist somit eine Biennale des Miteinanders, die noch bis 26.11. zu sehen ist. Die Grenzen können verschwimmen, wenn sich beispielsweise eine Aufsichtsperson streckt, dann kann das durchaus auch als Performance aufgefasst werden. 

Auch Kiki Smith ist bei der Schau vertreten und hat einen Raum gestaltet. Zum Schmunzeln bringt Shimabuku aus Japan, der das älteste und neueste Werkzeug des Menschen zeigt, indem er einen Stein neben ein Handy legt. 

 

Der Wettstreit der Länderpavillons

Der Österreichische Pavillon wird heuer von ­Brigitte Kowanz und Erwin Wurm bespielt. ­Kowanz setzt in ihren Arbeiten Licht als Sprache oder Code ein. In www 12.03.1989 06.08.1991 bezieht sich Kowanz auf das Datum der erstmaligen Vorstellung des Internets am CERN (Genf) und jenen Tag, als die erste Website online ging. Wikipedia 17.01.2001, iPhone 09.01.2007 und Google 15.09.1997 zeigen verschlungene Neonschleifen, die sich in den hinterlegten Spiegeln in die Unendlichkeit reflektieren. 

Erwin Wurms Beitrag ist schon von außen sichtbar, denn er hat einen LKW hochkant auf die vordere Stoßstange gestellt. Innen kann der Wagen bestiegen werden, um oben die Aussicht zu genießen. Dort steht die Anweisung: Stillstehen und über das Mittelmeer schauen, so auch der Titel dieser Arbeit, die gleichzeitig sehr zum Denken anregt. Im Pavillon können die Betrachter_innen als Ein-Minuten-Skulpturen diverse Positionen mit Hilfe von Stühlen, Tischen, Lampen und Koffern einnehmen.

Ungarn setzt ein wichtiges Statement: Schon beim Eingang steht zu lesen Peace on Earth, eine Lichtinstallation von Gyula Várnai. Sehr interessant ist auch jene Arbeit, die von Weitem einen Regenbogen darstellt: Bei näherer Betrachtung besteht sie aus farblich sortierten Anstecknadeln aus den 1960er und 1970er Jahren. 

Polen wird durch die Künstlerin Sharon ­Lockhart vertreten. Auf den ersten Blick wirkt die Ausstellung von großformatigen Fotografien mit Jugendlichen mit Zeitungen eher plakativ, bei näherer Betrachtung beeindruckt diese Schau jedoch sehr. In Little Review blättern sie in der Zeitschrift Unsere Rundschau, die von Janusz Korczak gegründet wurde, zwischen 1926 und 1939 erschien und die erste Kinderzeitung der Welt war. Der Arzt, Autor und Pädagoge leitete ab 1912 ein jüdisches Waisenhaus. Als die 200 Kinder des Waisenhauses 1942 ins Vernichtungslager Treblinka deportiert worden waren, ging Janus Korczak mit ihnen freiwillig in den Tod. Lockhart zeigt außerdem einen Film über die Situation polnischer Jugendlicher in Rudzienko in Ostpolen. Sie sind Bewohnerinnen einer Jugendeinrichtung für Sozialtherapie und Lockhart hat deren Erfahrungen in der Kindheit und Jugend festgehalten. 

Sehr beeindruckend ist auch die Schau im rumänischen Pavillon, wo Werke aus verschiedenen Schaffensphasen der über 90jährigen Greta ­Brătescu gezeigt werden. Ausgeschnittene Formen aus farbigen Papieren wurden mit dem Klebestift zu rhythmischen Kompositionen zusammengefügt. Filme zeigen, wie diese Arbeiten entstehen. ­Brătescu zeichnete Hände auf die Blätter eines Skizzenblockes, je zwei Zeichnungen sind gerahmt, auch das Deckblatt ist dabei. In einer anderen Arbeit hat sie mit geschlossenen Augen immer wieder den weiblichen Körper festgehalten. 

Israel ist mit der Ausstellung Sun Stand Still von Gal Weinstein vertreten. Er bezieht sich mit dem Titel auf die Geschichte des biblischen ­Jehoschua Ben Nun. Beim Betreten des Raumes wird zuerst der Geruch wahrgenommen: Es riecht nach Kaffee. Hat der Künstler seinen Kaffee verschüttet? Indirekt: Ja! Boden und Wände wirken verdreckt. Ist das Schimmel an der Wand? Ja! Weinstein hätte keinen größeren Gegensatz zwischen dem weißen, an den Bauhaus-Stil angelehnten Bau im Außen und den schimmelnden Wänden im Inneren schaffen können. Durch das Schimmeln von Kaffee entstehen differente Rot- und Brauntöne. Der Künstler ruft mit den eingeflogenen Schimmelkulturen zum Innehalten auf. Im ersten Stock gestaltete er eine überdimensionale Wolke namens El Al, die ursprünglich an einer Abschussrampe für Raketen oder Satelliten entsteht. Hinter dem Gebäude befindet sich eine Arbeit, in der teppichartig eine Landschaft in Israel von oben gesehen dargestellt ist. 

Der Goldene Löwe ging an den deutschen Pavillon. Aus Panzerglas wurde ein erhöhter Boden eingezogen. In Anne Imhofs Performance Faust stehen Besucher_innen zwischen den 40 Darsteller_innen, die auch unter der Glasplatte und an den Wänden agieren und daher auch Teil der Performance sind.

 

Rund um die Biennale

Parallel zur Biennale locken Collateral Events und weitere Ausstellungen die Menschen in Kirchen, Palazzi, Galerien, Museen und neuerdings auch in Hotels. 

Die Fondazione Prada beispielsweise fasst in der Ausstellung Das Boot ist leck. Der Kapitän hat gelogen mit Arbeiten von Thomas Demand (bildender Künstler), ­Alexander Kluge (Filmemacher) und Anna Viebrok (Bühnenbildnerin) Probleme der Gegenwart zusammen. Die Doppelausstellung Vanishing Lands, kuratiert von Doron Polak und Esti Drori, wird im Design Hotel Ca‘ Pisani und im Hotel Saturnia International gezeigt. In der von Fluten und vom Versinken bedrohten Lagunenstadt setzt sich diese Ausstellung mit dem Verschwinden von Naturgebieten oder kulturellen Schätzen in Fotografie, Skulptur, Malerei, Zeichnung und Video auseinander. Gezeigt werden 61 Künstler_innen, darunter Sigalit Landau, Iris Eshet Cohen (Titelbild), Ora Goldenberg, Shalom Neumann, Nancy Spero und Zoe Sever. Ein sehr ausführlicher Katalog ist zu dieser Ausstellung erschienen. 

In einem Gebäude vor der Ponte dell’Accademia wird die Ausstellung Objection. The Pavillon of Humanity gezeigt. In einem wunderbaren Zusammenspiel haben zwei Künstlerinnen die Räume gestaltet, eine jüdisch-muslimische Kollaboration: die israelische Künstlerin Michal Cole aus Haifa, die in London lebt und die türkische Künstlerin Ekin Onat aus Istanbul, die in Berlin lebt. Cole hat einen Raum samt Möbel mit zusammengenähten Krawatten gestaltet, ein männlich konnotierter Raum. Onat möblierte das Esszimmer aus geschredderten Plastikrüstungen, wie sie die türkische Polizei im Kampfeinsatz trägt. Im ersten Stock eine verschlossene Tür: eine Frau spricht hebräisch, die andere türkisch, sie verstehen sich somit nicht. Im Schlafzimmer sitzen die beiden Frauen als 3-D Print sich den Rücken zukehrend auf dem Bett. Schweigen. Und im Badezimmer wird ein Film an die Wand projiziert, in dem Cole beispielsweise auf einem Boot in Venedig mit einem Wischmopp das Wasser oder mit einem Staubsauger den Strand reinigt. Dieser sehr beeindruckenden Ausstellung, die sich u. a. gegen patriarchale Strukturen, gegen die türkische Polizeigewalt wendet und sich für einen besseren Umgang mit unserer Umwelt einsetzt, sollten die Besucher_innen der Biennale di Venezia besondere Aufmerksamkeit schenken.

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