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„Vor dem Antisemitismus ist man nur auf dem Mond sicher” (Hannah Arendt)

Im Oktober 2017 führte Karl Pfeifer ein Gespräch mit Monika Schwarz-Friesel, Professorin für Kognitionslinguistik an der TU Berlin, zur Gegenwartsphänomenologie des impliziten Antisemitismus.

INW: Sie untersuchen den expliziten Antisemitismus mit empirischen Methoden. Es gibt aber auch den impliziten Antisemitismus, der in Österreich zur Zeit Waldheims und Haiders angewendet wurde, als „die Juden“ durch „die Ostküste“ ersetzt wurde. Erst gestern, am ungarischen Nationalfeiertag, meinte Ministerpräsident Orbán: Die EU und einige ihrer wichtigen Mitgliedsstaaten seien von einem „Spekulanten-Imperium“ in Geiselhaft genommen worden und eine „Finanzmacht“ habe Europa „die jüngste Völkerwanderung, die Millionen Migranten, die Invasion der neuen Einwanderer beschert.“ 

Monika Schwarz-Friesel: Wichtig ist zunächst festzuhalten, woher kommt dieser implizite Antisemitismus, der heute maßgeblich die verbalen Strukturen und Kommunikationsverhältnisse prägt und – warum entstand er. 

Er ist entstanden nach 1945. Vorher war es ganz normal für die Menschen, offen und explizit gegen Juden zu hetzen, antisemitische Stereotype wie Geldgier, Rachsucht, Einflussnahme zu artikulieren. Nach 1945 – insbesondere während der 50er und vor allem der 60er Jahre im Zuge der Auschwitzprozesse – kam es zu einer Ächtung und Tabuisierung des offen kommunizierten Antisemitismus. Doch der Antisemitismus ist ja deshalb nicht automatisch aus den Köpfen der Menschen verschwunden, er ist geblieben, gespeichert im kollektiven Gedächtnis und wird immer wieder reaktiviert durch Verbal-Antisemitismen wie z.B. „typisch jüdisch“, „jüdischer Wucher“. 

Es wurden aber vor allem auch neue Kommunikationsformen entwickelt, die sogenannten indirekten Sprechakte, in denen Antisemiten nicht offen sagen, „Ich hasse Juden“ oder „Juden regieren die Welt“, sondern dies verdeckt oder auf Umwegen tun. So sind sie zu diesem impliziten Verbal-Antisemitismus gekommen. Es entstanden Sprachstrukturen der Camouflage, die keine Sanktionen und keine Kritik in der Gesellschaft auslösen sollten. Das Entscheidende ist hierbei, dass Antisemiten es sich nicht nehmen lassen wollen auch in der Öffentlichkeit etwas Schlechtes gegen Juden sagen zu können. 

Während man bis 1945 ganz selbstverständlich und offen von „den Juden als das Übel in der Welt“ sprach und schrieb, vermeidet man heute das Wort Jude und projiziert stattdessen die uralten judeophoben Konzepte auf den Staat Israel. Es heißt dann im Internet, in den E-Mails an den Zentralrat der Juden oder auf Straßenplakaten: „Israel ist der Teufel“, „Israel ist der wahre Menschenfeind“, „Israel ist ein Kindermörderstaat“. Ausgetauscht wurde nur ein Wort, nämlich Israel als Synonym für Juden. Ansonsten ist die Semantik der Entwertung die alte, die auf der jahrhundertealten Fantasie beruht, dass das jüdische Volk das Ur-Übel in der Welt sei. Nicht einzelne (angedichtete) Charakteristika von Juden werden verdammt, sondern die jüdische Existenz in der Welt wird als Frevel an der Menschheit gesehen. Dies führte in der NS-Zeit zur „Endlösung der jüdischen Frage“ mit allen uns bekannten Konsequenzen. Antisemitische „Erlösungsphantasien“ kursieren auch heute, 70 Jahre nach Ausschwitz, besonders im Internet – teils offen gegen Juden gerichtet („Ich hasse Juden. Weg mit dem Pack“, Twitter 2017), teils gegen den jüdischen Staat („Verbrecherstaat, von der Erde bomben!“, Twitter, 2017).

Mitten in der Alltagsgesellschaft werden rhetorische Fragen gestellt wie „Wer bestimmt denn in der Welt das Finanzwesen?“ und zwar im Kontext von Texten so, dass kein Zweifel besteht, wie die Antwort lautet. Oder man nennt bestimmte Namen, zum Beispiel Rothschild als Chiffre für Juden und Judentum gemeinsam mit Schlagwörtern wie „Finanzoligarchie“ oder „Israel-Lobby“. Teilweise hat man auch einfach nur den Nazi-Jargon verkürzt, hieß es bei Hitler und seinen Schergen nur das „internationale Finanzjudentum“, spricht man jetzt in einem bestimmten Kontext, aus dem ganz klar hervorgeht, dass Juden gemeint sind, vom „internationalen Finanztum“. Da spielt der Kontext eine sehr wichtige Rolle: Nicht jedes Mal, wenn „internationales Finanztum“ geschrieben oder gesagt wird, ist dies per se antisemitisch. Man muss sich also immer den Kontext dazu ansehen. Generell gilt aber, dass (nicht nur für Antisemitismusforscher_innen) sofort ersichtlich wird, ob es sich bei einer Äußerung um politische Kapitalismuskritik oder um Kritik an einzelnen israelischen Handlungen handelt oder um Antisemitismus im Gewand einer solchen Kritik.

INW: Wie kann man dagegen vorgehen?

M.S.F.: Das ist sehr schwer, da in der Gesellschaft heute einerseits eine Mentalität des Überdrusses zu konstatieren ist, andererseits der gehäuft und immer sichtbarer auftretende Antisemitismus relativiert oder gar geleugnet wird. Wir haben zwar in Deutschland den Paragrafen der Volksverhetzung, der aber nur bei Morddrohungen oder ­Holocaustleugnungen greift. Die salonfähigeren indirekten Sprechakte hetzen aber natürlich auch gegen Juden, Judentum und den jüdischen Staat. Und sie sind sogar gefährlicher für das kollektive Bewusstsein, da ihnen nicht sofort energisch widersprochen wird. Es ist mittlerweile normal, antisemitische Stereotype über Umwegkommunikation, insbesondere als „Kritik an Israel“ zu verbreiten – natürlich stets mit dem Hinweis, man sei nicht antisemitisch. 

Im Post-Holocaust-Zeitalter möchte man sich nicht als unbelehrbarer, verblendeter Antisemit outen, vor allem nicht, wenn man eine bestimmten Bildung und/oder hohe soziale Stellung hat. Das ist mittlerweile so Standard, so typisch und geschieht so oft, dass es normal ist: Indirekte Sprechakte sind im 21. Jahrhundert die übliche Form in der Öffentlichkeit, Äußerungen mit antisemitischem Inhalt zu artikulieren. Und die dominante, die vorherrschende Manifestation ist dabei der anti-israelische Antisemitismus, der nichts anderes ist als moderner Judenhass.

Aber in der Justiz, bei der Polizei und teilweise in der Politik ist diese Erkenntnis aus der Forschung noch nicht wirklich angekommen. Ich schreibe ja manchmal Gutachten für Prozesse, bei denen es um Antisemitismus geht und in denen ich dann detailliert und wissenschaftlich erkläre, wie sich heute der verbale Antisemitismus zeigt, wie das Implizite und Transformierte die gängige Form ist. Doch viele Richter(innen) begründen ihre Freisprüche dann auf der Basis einer engen, unzulässigen Antisemitismusdefinition. Allen Ernstes greift man dort oft auf die Kriterien von vor 1945 zurück: Wenn Judeophobie nicht artikuliert werde wie bei Hitler oder Goebbels, sei es kein richtiger Antisemitismus. 

Da müsste man eigentlich viel Fortbildung ansetzen, damit verstanden wird, dass sich die Kommunikation verändert hat, dass Hass gegen Juden und das Judentum heute vor allem über eine Israelisierungssemantik kodiert wird. 

Wenn nicht einmal der zivilisatorische Bruch der Shoah es geschafft hat, dem Antisemitismus den Boden zu entziehen, zeigt das, wie tief verankert Judeophobie im westlichen Denken und Fühlen ist. Man muss den Menschen klar machen, dass Antisemitismus in der Geschichte nicht auf zwölf Jahre Nationalsozialismus beschränkt ist. Es ist eine seit fast 2.000 Jahren verankerte Komponente der abendländischen Kultur. Wenn man den aktuellen Antisemitismus verstehen und bekämpfen will, muss man sich dieser Tatsache stellen und sich von Vorurteilen verabschieden: Antisemitismus ist keine gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, Antisemitismus ist Judenfeindschaft. Als solche muss er als unikales Phänomen erkannt und bekämpft werden.

Erschwerend kommt hinzu, dass Bildung nicht vor Antisemitismus schützt und dieser eine starke emotionale Dimension hat. Ein Beispiel aus meiner Arbeit soll dies illustrieren: Ein Jura-Professor fragt den Zentralrat der Juden in Deutschland während der Gazakrise 2009: „Entspricht womöglich die exzessive Gewalt in Israel, die auch den Mord an Kindern einschließt, der langen Traditionslinie Ihres Volkes?" Kognitiv muss der Professor wissen, dass er einen klassischen Verbal-Antisemitismus von sich gibt, aber sein affektives Bedürfnis determiniert sein Wissen, seine Bildung. Das antisemitische Glaubenssystem ist stärker als sein Verstand. 

Gebildete Antisemiten drücken sich zwar gewählter aus, vermeiden Gewaltandrohungen und vulgäre Beschimpfungen. Sie greifen aber geistig auf dieselben uralten Muster zurück wie Neonazis und Rechtsextreme. Die Formen sind anders, die Inhalte jedoch gleich. 

Antisemitismus artikuliert sich wie ein Chamäleon: die Oberfläche passt sich den aktuellen Gegebenheiten an, verändert die Farbe, benutzt andere Sprachformen, die semantische Ausgrenzung und Entwertung von Juden aber bleibt als Konstante. 

Monika Schwarz-Friesel studierte deutsche und englische Philologie sowie Psychologie an der Universität zu Köln. Sie etablierte in Deutschland den Ansatz der kritischen Kognitionslinguistik. Von 2000 bis 2010 lehrte sie als Universitätsprofessorin an der FSU Jena germanistische Sprachwissenschaft. Seit 2010 bekleidet sie einen Lehrstuhl an der TU Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Interaktion von Sprache, Kognition und Emotion, kognitive Semantik und Metaphern sowie verbale Manifestationen des aktuellen Antisemitismus. Monika Schwarz-Friesel ist mit dem Historiker Evyatar Friesel verheiratet. 

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