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Wer war Otto Weininger?

Otto Weininger war eine Schlüsselfigur für das geistige Klima Wiens um 1900, obwohl er nur

23 Jahre alt wurde. 1903 hatte er im einstigen Sterbehaus von Ludwig van Beethoven, in

der Schwarzspanierstraße in Wien, Selbstmord begangen.

 

 

Otto Weiningers Sarg wurde seinerzeit von Persönlichkeiten wie Stefan Zweig, Karl Kraus und dem damals vierzehnjährigen Ludwig Wittgenstein begleitet, der Weininger sein ganzes Leben lang die geistige Treue hielt. August Strindberg hatte aus Stockholm einen Kranz geschickt und einen Nekrolog verfasst, den Karl Kraus in der Fackel abdruckte. In Strindbergs Beziehungsdramen und in seiner literarischen Umsetzung von Geschlechterkämpfen ist Weiningers Einfluss deutlich spürbar. Dies sind nur einige Belege dafür, dass der Wiener Philosoph auch über sein kurzes Leben hinaus ein ideologisches Netzwerk zu knüpfen vermochte, das von seinen Anhängern wie auch von seinen Gegnern bis heute weitergesponnen wurde und wird: 1957, mehr als ein halbes Jahrhundert nach Otto Weiningers Tod, wurde in ­Wien-Hietzing eine Straße nach ihm benannt. 1963 wurde auf Initiative des damaligen Präsidenten des PEN-Clubs, Franz Theodor Csokor, auf Weiningers Geburtshaus eine Gedenktafel angebracht. Auch dieses Faktum ist im Sinne eines geistigen Netzwerks interessant: Csokor lebte eine Zeit lang in einer menáge a trois mit Egon Fridell und Lina, der ersten Frau von Adolf Loos. Fridell schätzte Otto Weininger und dessen Werk Geschlecht und Charakter, auch Loos schätzte Weininger und Csokor schätzte Lina Loos…

Das Wien des Fin de Siècle war Wiege und Experimentierfeld der Moderne. Die biographischen Gemeinsamkeiten einer Generation von Schriftstellern, Künstlern und Intellektuellen wie Hugo von Hofmannstal, Arthur Schnitzler, Karl Kraus, Hermann Bahr, ­Theodor Herzl oder Otto Weininger illustrieren die Marx‘sche Theorie, wonach die Menschen zwar ihre Geschichte selbst machen, jedoch nicht aus freien Stücken. Otto ­Weininger lebte demnach in einem Spannungsfeld zwischen nicht-religiösem und orthodoxem Judentum, das in Wien um 1900 unterschiedliche Ausprägungen von Persönlichkeiten hervorbrachte. Wie etwa Theodor Herzl, der als Reaktion auf den schwelenden Antisemitismus zum Verfechter des Zionismus wurde. Oder Karl Kraus, ein Anhänger der Assimilierung, der im Gegensatz zu Herzl die Ansicht vertrat, dass die Juden sich voll und ganz zur Kultur des Landes, in dem sie lebten, bekennen und sich anpassen sollten. Dieses Spannungsfeld bestimmte auch Leben, Werk und schließlich den Selbstmord Otto Weiningers. Erste Ansätze von feministischer Emanzipation und Geschlechterkampf führten zu neuen Formen von Sexualität, die Otto Weininger in seinem Buch Geschlecht und Charakter mit seinen Ansichten über das Judentum verknüpfte. Geprägt waren Weiningers Ansichten über die Frau auch von Arthur Schopenhauer, als dessen Schüler (neben Kant) er sich sah.

Otto Weininger und seine Zeit

Geboren wurde Otto Weininger 1880 in Wien, als Sohn eines österreichisch-jüdischen Goldschmieds und einer ungarisch-jüdischen Mutter (Adelheid Weininger). Der Vater war ein weit über die österreichisch-ungarischen Grenzen hinaus bekannter Kunsthandwerker. Sein Sohn, Otto, war schon in jungen Jahren intellektuell vielseitig begabt. Vor allem literarisch und sprachlich. Bereits mit 16 Jahren versuchte er sich an einem etymologischen Aufsatz über speziell bei Homer zu findende griechische Redewendungen. Im Juli 1898 legte Weininger die Reifeprüfung ab. Mit 18 beherrschte er mehrere Sprachen perfekt: Griechisch, Latein, Französisch, Englisch, ­Spanisch und Italienisch. Und durch sein intensives Studium der Werke von Strindberg und Ibsen konnte er auch fließend Norwegisch und Schwedisch lesen. Aufgewachsen ist er im Wien Gustav Mahlers und der Empiriokritizisten Richard Avenarius und Ernst Mach, die ihn begeisterten und wohl auch veranlassten, an der Universität Physik und Physiologie zu studieren. Zweifellos wurden seine im Buch Geschlecht und Charakter beschriebenen Thesen über männliche und weibliche Biofaktoren von seinen diesbezüglichen Studien beeinflusst.

 

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