Heft 4 / 2012 Inhalt

Rosch Haschana 5773

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Die Lunte brennt

Ein Kommentar von Ben Daniel

Israel warnt die Welt seit Jahren vor der iranischen Atombombe, und davor, dass man sich gezwungen sehen könnte, notfalls allein gegen Teheran vorzugehen.

Viele betrachteten das bisher als wohldurchdachte Strategie: Sie war keine Vorbereitung eines israelischen Präventivschlags, sondern der Versuch, Druck auszuüben, damit die Welt mit diplomatischen Mitteln gegen den Iran vorgeht. Netanyahus Kalkül schien aufzugehen: Immer wieder platzierte er die iranische Bombe in den Schlagzeilen der Welt, er half, scharfe Sanktionen gegen Teheran durchzusetzen, und zwang die USA, sich dazu zu verpflichten, Irans Atomprogramm als letzte Option mit militärischen Mitteln auszuschalten.

Doch plötzlich scheint alles anders. Israelis horchen auf, obschon sie die apokalyptischen Drohungen ihres Premiers gewöhnt sind. Immer mehr sind überzeugt, dass Netanyahu nicht mehr blufft: Israel meint es ernst. Der Angriff kommt. Das hat zwei Gründe: Zum einen kann Netanyahu mit weiteren Drohungen kaum noch etwas erreichen. Sanktionen können kaum noch verschärft werden, und sie bräuchten zu lange. Aber die Uhr, sagt er, ist abgelaufen. Es gelte, sich zwischen Bombe oder Bombardierung zu entscheiden. Wenn der Präventivschlag nicht bald erfolge, könne Israel nichts mehr ausrichten. Und keine Nation dürfe ihre Existenz von einem anderen Staat abhängig machen.

Die Arabellion ist der zweite Grund: Israels Sicherheitslage hat sich seit 2011 gleichzeitig gebessert und dramatisch verschlechtert. Die Gefahr eines konventionellen Krieges gegen einen Nachbarstaat ist gesunken. Ägypten ringt mit einer maroden Wirtschaft und innenpolitischen Konflikten, dem Irak droht der Zerfall, Syrien steckt mitten im Bürgerkrieg.

Dennoch ist der Nahe Osten ein Pulverfass: Die Gefahr eines unkonventionellen Krieges ist gestiegen. Mit dem Zerfall zentraler Staatsgewalt in Syrien, im Sinai, in Libyen, Irak und Jemen steigt die Chance, dass Terroristen, Separatisten oder Islamisten Luftabwehrraketen aus Libyen, Giftgas aus Syrien, oder zehntausende Kurz- und Mittelstrecken-Raketen der Hisbollah in die Hände fallen. Solche Gruppierungen sind traditionelle Verbündete des Iran. Er kooperierte mit ihnen um in Palästina, Libanon, Irak, Jemen und Syrien Fuß zu fassen. Solche Terrororganisationen wären ungleich bedrohlicher, würden sie von einem nuklearen Iran gedeckt, ein Staat, der sich Israels Vernichtung zum Ziel gemacht hat.
Israel hat die mächtigen arabischen Staaten als Gegengewicht zum Iran verloren und steht jetzt allein. Auch deswegen sieht Netanyahu sich zum Handeln gezwungen. Er erkennt nur zwei Optionen: Entweder eine kleine, kontrollierte Sprengung jetzt, oder später eine atomare Explosion, die die ganze Region und seinen Staat verschlingen könnte.

Wenn man nach der Stimmung in Israels Bevölkerung urteilt, brennt die Lunte vom Pulverfass Nahost bereits.

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Kulturschatz hinter Mauern

Das Tauziehen um den jüdischen Friedhof in Währing

waehringer Friedhof

Eine schmucklose Ziegelmauer verläuft einer der beliebtesten Kreuzungen des Wiener Stadtgebiets entlang.   Sichtbar sind allerdings nur etwa 50 Meter Gemäuer zwischen zwei neuen Hochhäusern. Aber was verbirgt sich hinter diesem unscheinbaren Mauerwerk? Tausende passieren tagtäglich das Straßenstück – zu Fuß, im Auto oder als Passagiere einer der traditionsreichsten städtischen Straßenbahnlinien, dem Achtundreißiger, der unverändert seit Jahrzehnten das Schottentor mit der Heimstätte des Wiener Heurigen in Grinzing verbindet. Und kaum jemand denkt sich etwas dabei.

Einige Spitzen schwer definierbarer Strukturen überragen den Mauersims. Nur einige findige Köpfe werden sie als Teile von Grabsteinen identifizieren. Aber sie haben richtig geraten, hinter der Mauer befindet sich die zweitgrößte jüdische Begräbnisstätte in Wien – oder was von ihr übriggeblieben ist.    Aber ein Kulturdenkmal ist es allemal. Doch warum verbirgt es sich hinter einer hohen Mauer? Weil es sich um einen Problemfall handelt, aus Wiens unbewältigter Vergangenheit. Woran nicht einmal ein zwischenstaatliches Abkommen zwischen Wien und Washington etwas auf Dauer ändern konnte.

Hier sind vielleicht einige Sätze über Wiens jüdische Friedhöfe am Platz. Der älteste Judenfriedhof befand sich seit dem 17. Jahrhundert in Der Rossau im 9. Gemeindebezirk. Bis Kaiser Josef II. 1783 alle Begräbnisstätten innerhalb des Linienwalles vertrieb. Der kleinen jüdischen Gemeinde wurden zwei Äcker von jeweils 800 Quadratmeter als Ersatz aus dem Besitz des Barnabitenkolleges in der Herrschaft Oberleiten zugewiesen. Die Juden zogen es jedoch vor, die Grundstücke zu kaufen, da jüdische Gräber für die Ewigkeit bestimmt sind. Und daraus entwickelte sich der Währinger Friedhof, der schließlich durch den jüdischen Teil – vorerst am l. Tor des Zentralfriedhofs – ersetzt wurde.

Das letzte Begräbnis in Währing war jenes eines Henry Texiera de Mattor am 1. September 1889. Dazwischen lag eine einzigartige Stätte jüdischer Begräbniskultur zu Zeiten, da Wiener Juden erstmals ihren Reichtum auch nach dem Tod zeigen konnten. All das Grund genug, den Währinger Friedhof zu besuchen. Aber wie? Zur Zeit ist dies nur für geleitete Führungen möglich, deren Termin nicht allzu leicht zu erfahren ist.

Wie aber kommt man in den Friedhof hinein? An der erwähnten Mauer ist kein Tor erkennbar. Tatsächlich führt der einzige Zugang  um das Eck vom Döblinger Gürtel über ein Mini-Gasserl, Schrottenberggasse. Dort befindet sich die Pforte, die der „Guide" dann aufsperrt. Einmal drinnen bietet sich ein ziemlich chaotisches Bild. „Wie nach der Zerstörung des Zweiten Tempels", meinte ein Teilnehmer unserer Gruppe. Immerhin wurde der ärgste Wildwuchs beseitigt, sodass sich schmale Wege zwischen den Reihen halbzerstörter Grabsteine gebildet haben. Zwar versuchte die Kultusgemeinde 1904 dem Areal den Charakter einer Parklandschaft zu geben, doch blieb von dieser noch vor dem Anschluss nicht viel übrig. (Während des Novemberpogroms 1938 wurde die Zeremonienhalle gesprengt und das Areal danach der Zerstörung preisgegeben. Das die Schäden nicht noch ärger ausfielen, führt die Historikerin Tina Walzer, die Chronistin des Währinger Friedhofs, auf die Abgeschiedenheit der Anlage zurück. Doch genug der tragischen Geschichte. Bei jener Führung, an der ich vor kurzem teilnehmen konnte, bemühte sich unser „Guide" redlich, den Besuchern an Hand der Grabinschriften einen Überblick zu verschaffen. Die ältesten Grabinschriften auf Hebräisch sind mitunter schwer zu entziffern. Im 19. Jahrhundert kamen zweisprachige Texte dazu, die „Jüngsten" dann nur auf Deutsch, beziehungsweise in Lateinschrift. Immerhin haben zahlreiche   Grabdenkmäler dem Zahn der Zeit einigermaßen widerstanden und stehen im Zentrum des Besucherinteresses.

Buchcover

In letzter Zeit gab es immerhin einen kleinen Fortschritt: Die „Verabschiedungshalle" am Rande des Areals wurde restauriert. Mehr nicht. Und das heißt nach dem jüdischen Gesetz „für die Ewigkeit". Was in erster Linie finanzielle Probleme aufwirft.

Eine Möglichkeit einer Zwischenlösung wäre die Öffnung des Friedhofs an bestimmten Tagen, etwa einmal im Monat, für betreute Führungen. Um wirksam zu werden müssen diese aber vorab in den Medien bekannt gemacht werden und nicht, wie bisher, durch eine Art Mundpropaganda. Lucian O. Meysels

Tina Walzer, „Der jüdische Friedhof Währing. Historische Entwicklung, Zerstörungen der NS-Zeit, Status quo.",Böhlau Verlag, 2011. 196 S., 14 s/w-Abb., 6 farb. Abb. und zahlr. Tab.€ 29,90.

Dies ist der letzte Beitrag des Journalisten und Mitarbeiter der Illsutrierten Neuen Welt Lucian O. Meyaels. Am 21. August ist der mit dem Ehrenreuz für Wissenchaft und Kunst I. Klasse ausgezeichnete Autor zahlreicher Bücher im 84. Lebenjahr in Wien verstorben.

Den Nachruf der herausgeberin und Chefredakteurin Joanna Nittenberg finden sie in der aktuellen Druckausgabe der INW.

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Letzte Änderung: 18.10.2012
Webmeisterin+Redaktion: Mag. Ditta Rudle
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