Verblüffend ist die Analogie zu Österreich. Die Briefbombenattentate und der Rohrbombenanschlag im Österreich der neunziger Jahre haben damals auch den Rechtsextremismus beflügelt. Er gipfelte sogar im 27% Stimmenanteil der FPÖ. Dass die Behörden damals einen irren Einzeltäter präsentiert hatten, und damit die FPÖ aus dem Schneider war, spielte dabei eine Nebenrolle, aber eine wichtige.
Die Lehre aus dem Naziterror in Deutschland und Österreich ist eindeutig: Rechtsextremer Terror führt nicht zu einer stärkeren Ablehnung menschenverachtender Rhetorik und Handlungen, sondern fördert nazistische Grundhaltungen. Dass dabei staatliche Behörden eine bedeutsame Rolle spielen können ist zwar unfassbar für Demokraten, aber eine Realität, die nach fast 70 Jahren des NS-Untergangs offenbar lebendig geblieben ist. Am aktuellsten veranschaulicht dies das Beispiel des Verfassungsschutzes in Deutschland.
Vor einem Jahr war das Trio des "Nationsozialistischer Untergrund" (NSU) noch als isoliert, als "mörderische Bande", "ausgerastete Rechtsextreme", "Täter ohne Hintermänner" dargestellt worden. So als könne man 13 Jahre lang morden und rauben ohne dass die Polizei was weiß, und dies auch noch ohne Netzwerk im Hintergrund. Jedwede andere kritische Anmerkung wurde damals sofort als Verschwörungstheorie diskreditiert. Interessanterweise tummelte sich an vorderster Stelle dieser Abwiegler der staatsnahe "Aufdecker" der Süddeutschen Zeitung Hans L.
Vom heutigen Wissensstand ausgehend waren diese Verharmlosungen völlig unangebracht. Im Gegenteil. Es zeigt sich ein monströser Abgrund, wie ihn jetzt angeblich niemand erahnt haben will. Dieser Abgrund erinnert an "Odessa File" aus den sechziger Jahren. Der Roman beschreibt ein konspiratives Netzwerk von alten Nazis, die noch immer oder schon wieder an den Schalthebeln der Macht in der noch jungen Bundesrepublik saßen. Die Komplizenschaft von Teilen der Behörde mit den Rechtsextremisten und dem NSU wird zusehends offenkundiger und weist auf fatale Kontinuitäten hin.
Dass man heute über die Verstrickungen von Behörden mit der Terrorzelle überhaupt weiß ist nicht den Ermittlungen der Behörden zu verdanken, sondern den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen in Berlin (Bund und Land) und Thüringen (Land). Die (Oppositions) Politik hat durch konsequentes Nachfassen herausgefunden, dass Akten vor allem nach dem Auffliegen der Terrorzelle systematisch geschreddert worden waren, dass man Spuren verwischen wollte, dass V-Leute in Wahrheit Nazis blieben und rechte Organisationen mit Staatsgeldern finanziert wurden, dass es frühe Hinweise auf den Verbleib des Nazi-Trios gab und nichts geschehen war.
In Thüringen war ein Rechtextremer sogar Verfassungsschutzpräsident. Helmut Roewer ließ auf Staatskosten ein "Bildungsvideo" anfertigen, in dem sein Spitzel und NPD-Funktionär im Landesvorstand, Tino Brandt, behaupten durfte, die Linken seien die Gewalttäter und seine Männer schützten die Gesellschaft bloß vor diesen Übeltätern. Tino Brandt finanzierte mit mindestens 200.000 DM, die ihm Roewer hatte zukommen lassen, den Aufbau des Nazibundes "Thüringer Heimatschutz". Die Auslassungen des Herrn Roewer druckt der berüchtigte und einschlägig bekannte rechtsextreme Ares-Verlag von Stocker in Graz. Der Ex schiebt in seinem neuesten Buch die Schuld am NSU-Desaster auf die Polizei. So einfach geht das. Er wird wohl ohne weitere Konsequenzen seine frühe Pensionierung genießen dürfen.
Im Übrigen sind inzwischen mehrere Präsidenten von Landesämtern des Verfassungsschutzes zurückgetreten. Insgesamt vier. Auch der Chef des Bundesamtes, Heinz Fromm, schmiss entnervt hin, als herauskam, dass in seinem Amt ohne sein Wissen ebenfalls geschreddert worden war. Er sagte vor dem Untersuchungsausschuss, dass er sich "hinters Licht geführt" vorkomme und nicht ausschließen könne, "dass ein Referatsleiter etwas vertuschen wollte". Das SPD-Mitglied Fromm ist der Unschuldigste von allen. Sein Abgang wurde von den Nazis und Rechtskonservativen in- und außerhalb der Behörden bejubelt. Der ernannte Nachfolger entspricht jetzt den Erwartungen der Gestrigen. Von einer Neuorientierung kann keine Rede mehr sein. Und von der versprochenen "lückenlosen Aufklärung" schon gar nicht.
Dabei gäbe es Spuren genug, die zu einem geheimen Netzwerk führen. Der Schlüssel dazu ist der Mord an der Polizistin Kiesewetter. Leo Cunning schrieb vor einem Jahr in dieser Zeitschrift, dass Kiesewetters Verhängnis eine Meldung über das Terror-Trio an ihre Vorgesetzten war. Nun weiß man, dass ihr Gruppenleiter ein Mitglied des Ku-Kux-Klan war. Der Autor Cunning veröffentlichte bereits ein halbes Jahr vor dem Auffliegen des NSU ein E-Book bei Amazon-Kindle mit dem Titel "Die Weiße Hand". Darin geht es um eine mächtige nazistische Geheimorganisation in Deutschland und Österreich. Damals schmunzelten viele, heute herrscht betretenes Schweigen. Und sonst? Passiert etwas gegen Rechts? Außer Scheingefechten nichts! Nicht einmal ein Verbotsverfahren gegen die NPD.
An Dreistigkeit kaummehr zu überbieten ist nun der Antrag der NPD beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, das feststellen möge, die NPD sei "nicht verfassungswidrig im Sinne des Artikels 21 Absatz 2 des Grundgesetzes". Ein PR-Coup der Nazis, der vor allem die verunsicherten "freien Kameradschaften" (Schlägertrupps), wieder aufrichten soll. Vom Verfassungsgericht einen "Persilschein" zu erlangen, damit rechnet die NPD gar nicht. Wie denn auch? Ist doch alles in Butter, oder?
Und wenn Beate Zschäpe, die einzige Überlebende des Nazi-Trios, in ein paar Monaten vor Gericht steht, wird sie vielleicht den Rat des Massenmörders Breivik befolgen, der in einem Brief an sie schreibt, sie solle das Gericht als Forum für ihre "politischen Motive" nutzen.