Gut zwei Jahre, nachdem Massenproteste Langzeitpräsident Husni Mubarak aus dem Amt zwangen, waren auf dem Tahrirplatz und in mehreren anderen Städten Ägyptens wieder dieselben Sprechchöre zu hören: "Nieder mit dem Präsidenten!" skandierten die Massen, und forderten wie in jenem kalten Januar "Das Volk will den Sturz des Regimes!" Nur mit einem Unterschied: Statt wie damals Schulter an Schulter mit den mächtigen Muslimbrüdern zu marschieren, standen die Islamisten ihnen diesmal als Gegner gegenüber. Denn diesmal demonstrierten die Massen gegen den ersten demokratisch gewählten Präsidenten in Ägyptens Geschichte, den Muslimbruder Muhammad Mursi. Dessen Anhänger beantworteten die Herausforderung mit erhobenem Koran in Händen und dem Slogan: "Das Volk will Gottes Gesetze!" Beide Seiten befürchteten, dass die Gewalt weiter eskalieren könnte. Anlass der jüngsten Proteste war ein Dekret Mursis, das seine Gegner als "Staatsstreich" oder "Vergewaltigung der Rechtsstaatlichkeit" beschreiben. Kurz nachdem Mursi geholfen hatte, einen Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen auszuhandeln und von der Welt als mäßigender Faktor im Nahen Osten gefeiert wurde, überraschte er seine Gegner mit einem unerwarteten innenpolitischen Schachzug. Sein Sprecher Jasser Ali verlas ein kurzes Dekret mit sieben Punkten. Damit riss Mursi praktisch die gesamte Staatsmacht an sich. So setzte er die Justiz schlicht außer Kraft: "Alle Deklarationen, Gesetze und Dekrete die seit dem Amtsantritt Mursis vom 30. Juni erlassen wurden, können nicht vor Gericht angefochten und von keinem Individuum, keiner politischen oder staatlichen Körperschaft annulliert werden, bis nicht eine neue Verfassung verabschiedet und ein neues Parlament gewählt wurde", hieß es in Artikel zwei. Kein Gericht könne Parlament oder den Verfassungsrat, der die neue Konstitution verfassen soll, auflösen, stand in Artikel fünf. Artikel sechs ging noch einen Schritt weiter: "Der Präsident ist hiermit ermächtigt, jede Maßnahme zu ergreifen, die ihm recht scheint, um die Revolution, die nationale Einheit und Sicherheit aufrechtzuerhalten." "Die Revolution ist vorerst beendet", twitterte der säkulare Oppositionspolitiker Muhammad al Baradei daraufhin, und nannte Mursi einen "neuen Pharao".
Mursis Dekret ist das zweite Mal, dass er eine Pattsituation mit seinen politischen Gegnern durch einen überraschenden Kraftakt für sich entscheidet. Im Sommer enthob er nach einem Anschlag die Militärführung, sein wichtigster Widersacher, kurzerhand ihres Amtes. Der jetzige Schlag richtet sich zum einen gegen ein anderes Überbleibsel des Mubarak-Regimes: Die Beamten der Justiz, die noch größtenteils von Mursis Vorgänger eingesetzt wurden. Mursi tauschte gleichzeitig den Generalstaatsanwalt aus und gab dem Neuen die Anweisung, den Spitzen des alten Regimes erneut den Prozess wegen der Gewalt zu machen, die sie während der Revolution gegen Demonstranten angewandt hatten. So könnte auch Mubarak erneut vor den Kadi kommen. Das Dekret hatte noch eine zweite Stoßrichtung: Die säkulare Opposition, die in vergangenen Tagen den Verfassungsausschuss in Scharen mit dem Vorwurf verlassen hatte, die Muslimbruderschaft plane Ägypten in einen Gottesstaat zu verwandeln. Oppositionelle hatten gehofft, das höchste Gericht könne den von Islamisten dominierten Verfassungsausschuss auflösen und Anweisung geben, die Arbeit von neuem zu beginnen. Diesem Wunsch schob Mursi jetzt einen Riegel vor.
Wenn sein Dekret in Kraft bleibt. Juristisch vermögen Mursis Gegner nicht viel gegen ihn auszurichten. Deswegen verlagerten sie ihren Kampf auf die Straße und lieferten sich in Alexandria und Kairo Straßenschlachten. Drei Parteibüros der Islamisten wurden in Brandt gesteckt. Doch Mursi blieb unnachgiebig: Er erklärte , dass er nicht zulassen werde, dass Strolche Regierungseinrichtungen angriffen. Die Justiz müsse von korrupten Individuen gesäubert werden. Seine Ansprache hielt er vor tausenden Islamisten, die mobilisiert worden waren, um den Präsidentenpalast vor der wütenden Opposition zu schützen.